[Dies ist ein Gastbeitrag von Gesche Schifferdecker zu einer aktuellen Debatte in den Politikwissenschaften]
Eines der ersten Gespräche mit meinem Partner drehte sich um die Politikwissenschaft. Er ist Franzose und hat am Institut d’études politiques (kurz: Sciences Po) in Strasbourg studiert. Ein Politikwissenschaftler der alten Schule also. Er war begeistert, als ich ihm berichtete, dass ich derselben Zunft angehöre, und erklärte mir allen Ernstes, mit dem Studium könne man quasi überall arbeiten. Ich habe herzlich gelacht und gefragt, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. Aber nein – in Frankreich, und auch in Brüssel, wo er seit vielen Jahren „Policy Adviser“ ist, geht das offensichtlich. Dort arbeiten PolitikwissenschaftlerInnen in Unternehmen, im Öffentlichen Dienst, in der Politikberatung, im Journalismus und in vielen anderen Bereichen. Und wenn sie in der Wissenschaft bleiben, äußern sie sich zu öffentlichen Debatten – wie zum Beispiel Jean-Yves Camus zum Erfolg des Front National. Vor allem aber arbeiten Politikwissenschaftler in der Politik. Um dort Karriere zu machen, sollte man die klassische Laufbahn planen: Sciences Po, am besten in Paris, und danach ein weiteres Studium an der École nationale d’administration (ENA). Der jetzige französische Präsident Francois Hollande hat dort seinen Abschluss gemacht, genau wie vor ihm Valéry Giscard d’Estaing oder Jacques Chirac. Politische Wissenschaft ist in Frankreich ein Studium mit Machtgarantie.
In Deutschland sieht es für unsere Disziplin vermeintlich anders aus. „Ein Fach ohne Ausstrahlung“ titelte kürzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In Deutschland ist Herfried Münkler einer der wenigen Politologen, die einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Er ist ein typischer „public intelectual“, berät Institutionen und veröffentlicht Bücher, die man auch als Nicht-Wissenschaftler lesen und verstehen kann. Aber er machte auch kürzlich Schlagzeilen mit Münkler-Watch, einem Blog, in dem Studierende an der HU Berlin ihm „Rassismus, Sexismus, und Militarismus“ vorwerfen. Und aus seinen Vorlesungen zitieren. Seitdem möchte ich nicht mehr Publikum seiner öffentlichen Auftritte sein.
Wie hat sich diese – im Vergleich z. B. zur Geschichtswissenschaft und Ökonomie – immer noch junge, verheißungsvolle Disziplin in den vergangenen Jahren tatsächlich entwickelt? Einige ihrer Gründungsväter in Deutschland habe ich studiert: Max Weber als der bekannteste natürlich, aber zum Beispiel auch Ossip K. Flechtheim und Eric Voegelin, die eher zu den „Underdogs“ zählen. Viele der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen und modernen Philosophen habe ich ebenso verschlungen – obwohl die Disziplin noch nicht „Politische Wissenschaft“ hieß. Heute lese ich Axel Honneth und Jürgen Habermas. Letzterer ist zwar eher ein Philosoph, gilt aber als einer der wichtigsten wissenschaftlichen Kritiker aktueller politischer Entscheidungen, zum Beispiel in Bezug auf die Europapolitik der Bundesregierung (vgl. auch hier). Axel Honneth findet man im Deutschlandradio oder in der taz, wenn er ein neues Buch vorstellt. Zurzeit beschäftigt er sich mit der Wiederbelebung sozialistischer Ideen. Das Thema ist hochspannend, aber auch hier ist der Diskurs – zugegebenermaßen – eher philosophisch. Mir fehlt eine Einschätzung aktueller Debatten von VertreterInnen der politischen Philosophie genauso wie von WissenschaftlerInnen, die sich mit Internationalen Beziehungen oder Europapolitik beschäftigen. Warum vermitteln sie weder uns als Gesellschaft noch unseren politischen RepräsentantInnen anwendungsbezogenen Ideen? Wo sind die wissenschaftsinternen und die öffentlichen normativen Debatten, auf deren Basis die Disziplin gegründet wurde? Wie sollen wir mit brennenden Themen wie Integration und demographischer Entwicklung, aber auch mit zunehmender Politikverdrossenheit und zentrifugalem politischen Wettbewerb umgehen? Wer kann uns heute eine Richtung vorgeben? Überlässt die Politikwissenschaft dieses Feld den Juristen und Historikern? (Ich verwende hier bewusst das Maskulinum, weil Frauen extrem unterrepräsentiert sind in öffentlichen wissenschaftlichen Debatten – aber das ist Stoff für einen weiteren Blogbeitrag.)
Wenn ich diese Wünsche äußere, geht es nicht darum, „dem drängendem Wunsch nach einer Politologie nachzugeben, die den Gesetzen öffentlicher Werbung gehorcht“, wie der Münchner Politikwissenschaftler Sebastian Huhnholz den Autoren des FAZ-Artikels Frank Decker und Eckhard Jesse vorwirft. Es geht darum, sich überhaupt allgemein zugänglich zu äußern, auch normativ. Aus der Wissenschaft und von Forschungsergebnissen zu berichten ebenso wie aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen zu kommentieren. Sebastian Huhnholz ist dafür übrigens ein tolles Beispiel. Er zählt zu den Wissenschaftlern, die die Öffentlichkeit an ihren Gedanken teilhaben lassen – indem er bloggt. Das Theorieblog, zu dessen Redakteuren und Autoren er gehört, ist eines der wichtigsten Wissenschaftsblogs für die Community in Deutschland, wo sowohl wissenschaftliche Debatten abgebildet als auch tagespolitische Ereignisse diskutiert werden.
Die Politikwissenschaftler Thomas Plümper und Thomas König haben als Reaktion auf den FAZ-Artikel einen offenen Brief mit dem Titel „Die Unsichtbarkeit der Politikwissenschaft und die Furcht vor der Amerikanisierung“ geschrieben, der auf der Webseite der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft publiziert worden ist. Für wen war dieser Brief gedacht? Für die Community? Dann spiegelt er genau das selbstreferentielle Verständnis von Wissenschaft, das die Politikwissenschaft laut Frank Decker und Eckhard Jesse in ihre kritische Situation gebracht hat. Die Befürchtung von Jäger und Plümper, dass der „wissenschaftliche Diskurs durch einen öffentlichen Diskurs ersetzt“ werden könnte, wenn Politikwissenschaftler sich mehr an die Öffentlichkeit wenden, teile ich nicht. Ich verstehe, wenn WissenschaftlerInnen mit den Mechanismen des medialen Marktes nicht immer einverstanden sind – umso wichtiger ist es, dass sie sich nicht zurückziehen und den Austausch von – so Plümper und König – „Austausch von ideologiebasierten Meinungen“ anderen überlassen.
Mir ist natürlich klar, dass ich zu den VertreterInnen derjenigen Politologen zähle, die die aktive Wissenschaft verlassen haben, und dass man mich deswegen vielleicht nicht ernst nimmt. Stattdessen arbeite ich jetzt als Referentin für Wissenschaftskommunikation, und meine Perspektive ist genauso subjektiv wie alle anderen. Ich fordere nicht nur die Transparenz von Forschungsergebnissen, sondern auch an einen fruchtbaren Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Gleichzeitig habe ich aber das Vertrauen in die Kompetenz meiner Disziplin nicht verloren. Deswegen möchte ich an meine ehemaligen KollegInnen appellieren: Nehmt Stellung! Gebt Interviews, bloggt, diskutiert öffentlich, traut Euch! Lasst uns teilhaben an Euren Gedanken und auch am try&error! Denn – um es frei nach meinem Lieblingsphilosophen Aristoteles zu sagen – „es gibt nur einen Weg um Kritik zu vermeiden: tue nichts, sage nichts und sei nichts“. Das ist nicht die Zukunft, die ich mir nach 2400 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit uns Menschen als politische Lebewesen für die Politikwissenschaft wünsche.
Gesche Schifferdecker ist Referentin für Wissenschaftskommunikation und ein zoon politikon. In ihrem nächsten Leben möchte sie ihre Dissertation beenden – allerdings gerne mit einem Arbeitsvertrag an der Uni, der für mindestens zwei Jahre anstelle von für zwei Monate angelegt ist.
Korrektur: Ich wurde darauf hingewiesen, dass die im Text erwähnte vermeintliche Stellungnahme der Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft nur eine Einsendung an diese war, die die DVPW dann auf ihrer Webseite veröffentlichte. Die Autoren sprechen nicht für die Organisation, den Vorstand oder Beirat. Ich habe den Satz entsprechend geändert. Die Autorin hat den Abschnitt nun neu formuliert.
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