Das Hubble-Weltraumteleskop ist in Schwierigkeiten. Am 6. Oktober kurz nach Mitternacht deutscher Zeit fiel eines von drei noch funktionierenden Gyroskopen aus [1], woraufhin das Teleskop auf einen Sicherungsmodus umschaltete und seine Beobachtungen einstellte. Gyroskope (kurz: Gyros; der griechische Wortstamm ist der gleiche wie beim Drehfleisch und bedeutet Kreisel) sind Sensoren, mit denen das Teleskop seine Rotation im Raum messen kann. Damit kann das Teleskop präzise feststellen, wie weit es beispielsweise bei einem Schwenk rotiert wird. Die Rotation selbst wird mit Hilfe sogenannter Reaktionsräder durchgeführt. Das sind schwere, elektrisch angetriebene, rotierende Schwungmassen, mit denen das Hubble-Teleskop ohne Treibstoffverbrauch im All orientiert werden kann. Wird ein Reaktionsrad beschleunigt, dann beginnt sich wegen der Erhaltung des Drehimpulses das Teleskop in Gegenrichtung zu drehen. Wenn man am gewünschten Punkt angekommen ist, kann man die Drehung wieder verlangsamen. Entsprechend kann man eine Drehung des Teleskops in Gegenrichtung durch eine Verlangsamung des Schwungrades erreichen. Da sich das Reaktionsrad sehr präzise in der Drehzahl steuern lässt, kann das Teleskop damit auch winzigste Bewegungen kompensieren, was mit Triebwerken unmöglich wäre (die außerdem die Umgebung des Teleskops mit ihren Abgasen verunreinigen würden).
Da die Reaktionsräder mit der Zeit durch Reibung Drehimpuls an das Teleskop abgeben, müssen sie immer schneller gedreht werden, um es auf Position zu halten. Um zu verhindern, dass irgendwann eine zulässige Maximaldrehzahl überschritten wird, kann das Teleskop über Magnetspulen Drehimpuls an das Erdmagnetfeld abgeben. Man muss dazu diese Magnetotorquer nur unter Strom setzen, dann wirken sie wie Stabmagnete, die das Teleskop in Richtung des Erdmagnetfelds drehen. Die Reaktionsräder können durch diesen Mechanismus regelmäßig heruntergedreht werden (Desaturierung). So kommt das Teleskop völlig ohne Triebwerke aus.
Gyros komplett
Die Gyroskope überwachen jederzeit die Rotation des Teleskops. Es handelt sich bei den Hubble-Gyros, die paarweise in sogenannten Rate Sensor Unit RSU (etwa: Drehraten-Erfassungseinheit) integriert sind, um schnell rotierende Kreisel (Nominaldrehzahl: 19200 Umdrehungen pro Minute), welche in Luftlagern weitgehend reibungs- und erschütterungsfrei gelagert sind. Das gesamte innere Gehäuse mit der Aufhängung (als Float, frei übersetzt Schwimmer bezeichnet) schwimmt berührungsfrei in einer viskosen Flüssigkeit (etwa so zähflüssig wie 10W-30-Motoröl) und ist somit vom Teleskop bestmöglich entkoppelt. Wenn das Teleskop schwenkt, behalten die Kreisel in den RSUs ihre Rotationsgeschwindigkeit bezüglich des umgebenden Raums bei, nicht jedoch bezüglich des Teleskops. Die Sensoren im Gyro stellen bei einer Drehung des Teleskops folglich eine Veränderung der Rotationsrate des Kreisels fest, weil sich aus ihrer Sicht die Drehung des Teleskops und des Kreisels überlagern.
Das drohende Ende?
Seit 2009 fielen dann zwei der Gyros nach altem Design aus. Das dritte zeigte seit einem Jahr schon beginnenden Verschleiß und sein nun eingetretener Ausfall war erwartet worden. Als man, wie bei den anderen beiden RSUs, sein Reserve-Gyro in Betrieb nehmen wollte, das vor 7 Jahren zuletzt eingeschaltet gewesen war, zeigte dieses jedoch ein abnormes Verhalten: Zwar registrierte es zuverlässig die Drehung des Teleskops in beide Richtungen, gab aber stets eine viel zu hohe Geschwindigkeit dieser Drehung an (ca. Faktor 10). Das Gyro verfügt dabei über zwei Modi: Solange das Teleskop auf ein neues Ziel geschwenkt wird, wird es in einem groberen Modus gefahren, und man kann die vom Sensor gelieferte Drehzahl per Software korrigieren. Um ein Ziel jedoch exakt anzufahren und zu zentrieren, muss das Gyro in einen empfindlicheren Modus umgeschaltet werden, und dann übersteigen die Sensorwerte den Wertebereich der Ausgabe, es gehen Ziffern verloren und die Werte können nicht mehr nachträglich korrigiert werden.
Ist damit das Ende des Teleskops besiegelt? Dachte ich jedenfalls, als ich das las. Stimmt aber nicht! Weil nach dem Columbia-Unglück das Teleskop für mehrere Jahre nicht zur Wartung erreichbar war und zu dieser Zeit nur noch 4 Kreisel funktionierten, wurde die Software im Goddard Space Flight Center der NASA vorsichtshalber so modifiziert [6], dass das Teleskop mit zwei oder auch nur einem Gyro ausgerichtet werden kann, indem man Magnetometer, Star Tracker und Feinnachführungs-Sensoren in Kombination mit den verbliebenen Gyros einsetzt. Zwischen 2005 und der Service-Mission 2009 waren dann zwei der vier noch funktionierenden Kreisel vorsichtshalber zu ihrer Schonung abgeschaltet worden und das Teleskop schon einmal mit nur 2 Gyros betrieben worden, ohne große Auswirkungen auf den Betrieb.
Die Ersatzmannschaft
Das Hubble-Teleskop verfügt über zwei Magnetometer, mit denen die Richtung und Stärke des Erdmagnetfelds gemessen werden kann, im Prinzip eine Art Magnetkompass. In Abhängigkeit von der geographischen Position des Teleskops kann aus der Richtung des Magnetfelds die Ausrichtung in der oder den Achsen, die nicht durch Gyros überwacht werden, grob bestimmt werden; typischerweise ist der Ausrichtungsfehler 2°-5°, kann jedoch bei paralleler Ausrichtung der Achse zum Erdmagnetfeld bis zu 10° betragen. Mit den Magnetometern arbeitet man bei schnellen Schwenks zur Grobausrichtung und falls das Blickfeld der beiden nachfolgend erläuterten Sensoren durch die Erde blockiert ist.
Am hinteren Ende des Teleskops befinden sich drei in rechten Winkeln zueinander angeordnete Fixed Head Star Tracker (FHST). Das sind Kameras mit fester Blickrichtung, die den Sternenhimmel mit einem Blickfeld von je 8°×8°(16×16 Vollmonddurchmesser) ablichten und ihre Bilder dann zur Erde funken, wo Computer anhand eines Sternkatalogs identifizieren, in welche Richtung am Sternenhimmel der Star Tracker gerade schaut. Daraus kann die Ausrichtung des Teleskops ermittelt werden. Man kann die Star Tracker dann anweisen, in einem verkleinerten 1,5°×1,5°-Blickfeld einen vorgegebenen Stern zu zentrieren, um das Teleskop in eine bestimmte Richtung auszurichten.
Wenn das Teleskop somit auf weniger als 1′ (eine Bogenminute = 1/60°) genau auf das Ziel ausgerichtet ist, können die Feinnachführungs-Sensoren (Fine Guidance Sensors, FGS) eingesetzt werden, deren es drei gibt, die parallel zur Teleskopachse auf das beobachtete Blickfeld ausgerichtet sind. Diese erfassen einen geeigneten Leitstern und verfolgen diesen, wobei jegliche Drift des Sterns aufgrund von Störungen (z.B. Bewegungen der Hauptantenne, der Solarpanels oder thermische Expansion im Sonnenlicht, atmosphärische Reibung, sowie Rauschen der von den RSUs gemessenen Werte) mit den Reaktionsrädern automatisch kompensiert wird.
Die Abfolge beim Anvisieren eines Objekts ist dann typischerweise wie folgt [10]: während das zu beobachtende Objekt noch von der Erde verdeckt ist, wird das Teleskop mit Hilfe der verbliebenen Kreisel und den Magnetometern grob in Richtung des Objekts geschwenkt. Dann wird die Position mit den nicht verdeckten Star Trackern auf weniger als 1′ auf das Ziel ausgerichtet, und wenn dieses hinter dem Horizont auftaucht, treten die FGS in Aktion und fixieren jeweils einen geeigneten Leitstern.
Bei drei Gyros kann ein Ziel unter dem Einfluss von Störungen dauerhaft auf 7 Millibogensekunden genau verfolgt werden; im 1- und 2-Gyro-Modus auf 20 Millibogensekunden [7,10]. Versuche im Orbit [8] ergaben, dass Sterne während 400 s Belichtungszeit auf 1,8 Pixel zu je 25 Millibogensekunden scharf abgebildet wurden. Mit 3 Gyros waren vormals im Schnitt auch nur 2,04 Pixel Schärfe erreicht worden [7].
Einzige Einschränkungen sind [7]:
- Der Leitstern kann nicht während der Beobachtung gewechselt werden.
- Es reicht nicht, nur einen Leitstern mit einem FGS zu erfassen (das Teleskop könnte ansonsten um die Achse zum Leitstern rotieren).
- Das Teleskop kann nicht während der Beobachtung eines Ziels rotiert werden.
- Es muss bis zu 10° mehr Sicherheitsabstand von der Sonne eingehalten werden, damit der nominale Abstand (mindestens 50°) auch im Falle eines Ausrichtungsfehlers der Magnetometer von 10° gewährleistet ist. Direktes Sonnenlicht würde den schwarzen Innenanstrich beschädigen und die Optik des Teleskops zerstören.
- Das exakte Anfahren eines Ziels dauert 7 statt ansonsten 6 Minuten.
Mit diesen Einschränkungen kann man gut leben.
Nr. 3 lebt!
Bei der NASA entschied man sich, es mit dem angeschlagenen Kreisel zunächst noch einmal zu versuchen [2]. Würde er nicht wieder in Betrieb genommen werden können, so gäbe es die Optionen, das Teleskop mit zwei Kreiseln oder auch nur mit einem wieder in Betrieb zu nehmen. Es verlautete, dass man in diesem Fall gleich den Ein-Gyro-Modus verwenden würde, damit das zweite funktionierende Gyro bis zum Ausfall des anderen ruhen könne und so die Betriebsdauer so weit wie möglich verlängert werden könne. Es sind keine weitere Service-Missionen geplant, das Shuttle fliegt nicht mehr und die Orion- oder irgendeine andere Kapsel wird nicht in der Lage sein, das Teleskop mit einem Greifarm zu fixieren, so dass Astronauten, die per Sicherheitsleine mit der Kapsel verbunden sein müssen, daran arbeiten könnten.
Am 16. Oktober begann man mit “Reparaturversuchen” des Gyro. Zunächst wurde er mehrfach im Betrieb ausgeschaltet, und nach einer Sekunde während der abklingenden Rotation wieder eingeschaltet. Dies änderte die überhöht ausgegebenen Drehraten nicht.
Am 18. Oktober begann man, das gesamte Teleskop mehrfach hin und her zu schwenken, wobei das Gyro abwechselnd von Grob- auf Feinmodus umgeschaltet wurde. Die Theorie war, dass der Schwimmer (s.o.) nicht mittig im Gehäuse befindlich sein könnte und sich deshalb nicht frei bewegen. Man hoffte, durch die Schwenks eine mögliche Blockierung zu lösen. Tatsächlich wurden die rapportierten Drehzahlen besser und zwischendurch fiel mehrfach kurzfristig die im Feinmodus zurückgemeldete Drehzahl wieder in den Wertebereich der Ausgabe. Am 19. Oktober vollführte man weitere Schwenkmanöver, an deren Ende das Gyro wieder normale Werte zurücklieferte.
Seit dem 19. Oktober wurden dann Schwenktests mit maximal zulässiger Geschwindigkeit durchgeführt, um zu verifizieren, ob das Gyro jederzeit einwandfrei funktionierte. Es wurden keine Probleme festgestellt. In den folgenden Tagen werden nun noch Tests durchgeführt, die den normalen Einsatz im regulären Beobachtungsbetrieb simulieren. Wenn diese ebenfalls erfolgreich sind, kann das Teleskop sehr bald mit seinen wissenschaftlichen Beobachtungen fortfahren – im 3-Gyro-Modus!
Und wenn wieder ein Gyro ausfällt (und sonst nichts kaputt geht), dann haben wir gelernt, dass das Teleskop immer noch jahrelang weiter verwendet werden kann, bis dann hoffentlich sein Nachfolger, das James-Webb-Weltraumteleskop, 2021 (oder so) übernehmen wird.
Referenzen
[1] NASA, ESA, STScI: “Hubble in Safe Mode as Gyro Issues are Diagnosed“, Hubblesite, 8. Oktober 2018.
[2] NASA Gyro Update, “Hubble Moving Closer to Normal Science Operations“, NASA Mission Pages, Hubble Space Telescope, 22. Oktober 2018.
[3] Kenneth Blumenstock, “New Understanding of Hubble Space Telescope Gyro Current Increase Led to a Method to Save a Failing Gyro“, NASA Technical Report Server, 20. September 2017
[4] HST Program Office, “Hubble Space Telescope Gyroscopes“, Goddard Space Flight Center.
[5] NASA, “Hubble Space Telescope Pointing Control System“, NASA Mission Pages, Hubble Space Telescope.
[6] Brian R. Clapp et al., “Hubble Space Telescope Reduced-Gyro Control Law Design, Implementation, and On-Orbit Performance“, NASA Technical Reports Server, 29. Juni 2008.
[7] K. Sembach et al., “HST Two-Gyro Mode“, The 2005 HST Calibration Workshop, STScI, 2005.
[8] M. Sirianni, M. McMaster, “PSF characterization for the HST One-Gyro mode test“, Technical Instrument Report WFPC2 2008-01, STScI, 3. April 2008.
[9] Eric Berger, “NASA brings a Hubble gyro back to life after a seven-year hibernation“, Ars Technica, 22. Oktober 2018.
[10] K. R. Sembach, “HST Two Gyro Handbook“, STScI, Version 1, Oktober 2004.
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