Der erste Unterricht

In der nächsten Nacht, nach dem Unterricht für die Hexenkinder, begann die Drachenschule in der Schulbibliothek. Wyveria hatte in der Schulstunde neben Miranda gesessen und brav zugehört, ein wenig geschlafen und leise mit Mirandas Stiften gespielt, auf denen sie auch wieder herumkaute. Diesmal war es aber nicht so schlimm, denn Miranda hatte extra für Wyveria alte Stifte mitgenommen, die sie nicht im Unterricht brauchte. Nun war die Hexenschule zu Ende, und Miranda und ihre Freundinnen trafen sich in der Schulbibliothek.

„Was meint Ihr, was Wyveria heute lernen soll?“, fragte Miranda.

„Rätsel!“, antwortete Wyveria telepathisch.

„Nein, Du musst etwas richtiges lernen, etwas, das auf unserer Liste steht. Mal sehen. Laufen kannst Du ja schon. Hmm, zum Fliegen sind Deine Flügel noch ein wenig zu klein, glaube ich.“

„Aber Wyveria könnte doch schon ein wenig üben und trainieren, damit sie genügend Muskelkraft bekommt“, schlug Draconia vor.

Das fanden alle – außer Wyveria – eine gute Idee, und so musste Wyveria eine Weile mit den Flügeln auf und ab schlagen. Natürlich bewegte sie sich kein bisschen vom Boden, aber ihre Flügel machten immerhin schon einigen Wind, so dass die Liste mit Wyverias Lernaufgaben vom Tisch flog.

„Genug geflattert. Ich will Rätsel“, quengelte Wyveria schließlich.

„Noch nicht. Am besten übst Du als nächstes das Feuerspucken“, schlug Draconia vor und holte etwas Schwefel. Wyveria nahm das Maul voll Schwefel und schluckte ihn herunter. Sie drehte den Kopf hin und her und dann kam, wie beim letzten Mal, ein winziges Flämmchen aus ihrem Maul herausgeschossen, etwas

kleiner als eine Streichholzflamme.

„Feuer“, sagte Wyveria zufrieden in ihren Köpfen.

„Aber kannst Du nicht eine etwas größere Flamme spucken? Diese sieht man ja kaum.“

Wyveria versuchte es, aber die zweite Flamme war eher kleiner als die erste.

„Vielleicht hilft es, wenn Du mehr Schwefel isst“, sagte Draconia und gab Wyveria noch zwei weitere große Löffel voll Schwefel, die diese gehorsam schluckte. Plötzlich verdrehte sie die Augen und gab ein lautes Rülpsen von sich, wobei Feuer und Rauch aus ihrem Rachen und auch aus der Nase schossen, dann noch einmal und noch einmal. Es waren keine richtigen Flammen, sondern nur kleine Flämmchen, die fürchterlich rauchten und nach Schwefel stanken. Netti musste husten.

„Mir ist schlecht“, beschwerte Wyveria sich, während immer weitere Feuerrülpser aus ihrem Mund herauskamen, doch die erhoffte große Flamme blieb leider aus.

„Oh weh, ich fürchte, das war keine gute Idee“, sagte Miranda.

„Ich hole dir Wasser. Vielleicht hilft das.“ Draconia ging nach draußen. Netti öffnete das Fenster, denn in der Bibliothek stank es nach Schwefel und Rauch. Wyveria drehte den Kopf hin und her und spuckte einen Feuerrülpser nach dem anderen. „Schlecht!“, klagte sie wieder.

„Ich weiß was wir machen, Du bekommst noch ein Rätsel, dann denkst Du nicht mehr an deinen Bauch“, schlug Netti vor. „Pass auf:

„Komme ich plötzlich vom Himmel

so gibt es viel Geschrei,

Doch bleibe ich lange aus

So sehnt man mich herbei.“

Tatsächlich dachte Wyveria eine Weile gar nicht an ihr Bauchweh. Wieder legte sie ihren Kopf auf die Vordertatzen und begann nachzudenken. Zwar kamen immer noch Feuerrülpser aus ihrem Maul, während sie nachdachte, aber sie schien sie kaum zu bemerken. Es war noch nicht viel Zeit vergangen, als Wyveria sich aufrichtete: „Regen“, sagte sie. „Richtig“, lobte Netti.

Da kam Draconia mit dem Wasser zurück. Wyveria trank einen großen
Schluck, dann noch einen. Sie rülpste wieder, und diesmal kam eine gewaltige
Wolke aus heißem Dampf aus ihrem Maul. „Besser“, sagte Wyveria und legte den
Kopf auf die Vordertatzen.

„He, nicht einschlafen, der Unterricht ist noch nicht vorbei“, versuchte Miranda sie wieder aufzuscheuchen, doch Wyveria rührte sich nicht mehr. „Schlafen!“, dachte sie unwillig, schloss ihre Augen und steckte den Kopf unter einen Flügel.

„Das war’s dann wohl für heute“, sagte Miranda missmutig. „Wenn das so weitergeht, dann besteht sie die Drachenprüfung niemals.“

„Vielleicht geht es morgen ja schon besser“, sagte Netti hoffnungsvoll, doch sie alle machten sich Sorgen, ob der Drachenunterricht immer so erfolglos verlaufen wurde. Missmutig flogen sie nach Hause.

Auch am nächsten Tag trafen sie sich nach der Schule in der Schulbibliothek. Wie am Tag zuvor begann der Unterricht mit dem Flugtraining – Wyveria schlug mit ihren Flügeln heftig auf und ab, und Miranda hatte das Gefühl, der Wind, der dabei entstand, sei noch heftiger als am Tag davor. „Wenn Du so weiter machst, hast Du bald genug Kraft zum Fliegen“, sagte sie.

Beim Feuerspucken waren allerdings keine Fortschritte zu verzeichnen. Nach den Erfahrungen von gestern bekam Wyveria diesmal nur einen einzigen Löffel voll Schwefel, doch die Flamme, die dabei entstand, war kein bisschen größer als zuvor.

„Vielleicht geht es besser, wenn Du die Luft anhältst, bevor Du losspuckst“, schlug Draconia vor. Wyveria versuchte es, aber es half nichts – die Flamme war und blieb nicht größer als die von einem Streichholz.

„Wir versuchen es mal mit Sprechunterricht“, sagte Miranda.

„Ich kann sprechen!“, maulte Wyveria in ihren Köpfen.

„Ja, aber ich meine mit der Stimme.“

„So ein Blödsinn.“ Wyveria sah nicht ein, wozu es gut sein sollte, mit der Stimme zu sprechen, wo sie es doch telepathisch viel besser konnte.

„Große Drachen können das, deshalb musst Du es lernen“, beharrte Miranda. Murrend fügte sich Wyveria.

„Hol tief Luft und dann versuchst Du, ein Geräusch zu machen.“

„Iiiih“, quiekte Wyveria.

„Nicht schlecht“, ermunterte Miranda sie. „Versuch es noch einmal.“

„Iiiiiiiiiiiih“, erklang es wieder, diesmal länger und lauter.

„Sehr gut. Und jetzt versuch einen anderen Laut. Vielleicht Aah?“

„Iiiiiiiiih“, machte Wyveria erneut. So sehr sie sich bemühte, ein anderes Geräusch als ‘Iiih’ kam nicht aus ihrem Mund.

Sie übten eine ganze Weile ohne Erfolg. Dann sagte Wyveria: „Ich will ein Rätsel!“

„Gut, machen wir eine Pause“, stimmte Miranda zu.

„Hier ist dein Rätsel“, sagte Netti:

„Was kalt auf der Erde liegt

Flieht schnell vor meinem Licht

Doch was grün darunter schläft

Erwacht ohne mich nicht.”

Wie immer beim Rätseln legte Wyveria ihren Kopf auf die Tatzen und schloss die Augen. Auch Miranda schloss die Augen und begann zu überlegen, was grün unter der Erde schlafen würde, aber alle Tiere, von denen sie wusste, dass sie unter der Erde in einem Loch schliefen, waren nicht grün. Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, dachte sie über den anderen Teil des Rätsels nach. Etwas Kaltes, das auf der Erde liegt, das konnte eigentlich doch nur Schnee sein. ‘Schnee schmilzt im Frühling’, dachte Miranda. ‘Und im Frühling kommen die grünen Pflanzen aus der Erde hervor, weil die Samen keimen.’ „Ich hab’s!“, rief sie laut und öffnete die Augen.

Wyveria hatte die Augen ebenfalls bereits geöffnet und schaute Miranda an. „War leicht“, sagte sie dann, „Frühling.“

„Richtig“, bestätigte Netti.

Miranda seufzte. Die Pause war vorbei, nun mussten sie sich wieder mit dem Drachenunterricht befassen. „Ich verstehe nicht, warum das Sprechen nicht klappt“, sagte sie.

„Zum Sprechen braucht man doch die Zunge“, sagte Netti. „Vielleicht muss Wyveria erstmal üben, ihre Zunge richtig zu bewegen.“

„Gute Idee“, meinte Miranda. „Zeig mal Deine Zunge“, sagte Draconia.

Gehorsam streckte Wyveria ihnen ihre Zunge heraus so weit sie konnte. Sie war
lang, dünn und an der Spitze gespalten wie bei einer Schlange.

„Kein Wunder, dass Du mit so einer Zunge nicht richtig sprechen kannst“, sagte Miranda.

„Ich kann sprechen!“, maulte Wyveria schon wieder.

Draconia schaute sich auch Wyverias Mund genau an. „Du kannst ja nicht einmal Deine Lippen bewegen, die sind ja aus harten Schuppen“, stellte sie dann überrascht fest. „Ich frage mich, wie die anderen Drachen es hinbekommen, so zu sprechen, dass man sie hören kann. Die haben doch genau so ein Maul wie Wyveria.“ Doch darauf wusste niemand eine Antwort.

„Langsam mache ich mir wirklich Sorgen“, sagte Miranda niedergeschlagen, als sie nach draußen ging. „Morgen können wir es ja mit Schwimmunterricht versuchen, vielleicht klappt das besser.“ Damit waren alle einverstanden, sogar Wyveria.

Kommentare (6)

  1. #1 RJ
    5. April 2020

    Spannend. 🙂

    Ich habe den leisen Verdacht, daß die Rätsel für die Prüfung wichtig sind.

    Überlege auch schon seit einer Weile, wie schnell so ein kleiner Drachen wohl wächst, und wie die Kinder das handhaben, wenn Wyveria nicht mehr ins Haus paßt und jeden Tag genug Hunger hat für ein bis zwei Kühe.

    Tolle Geschichte(n) jedenfalls und ich warte schon immer sehnlichst auf die Fortsetzung – vielen Dank dafür!

  2. #2 MartinB
    5. April 2020

    @RJ
    Ja, der Drache wächst irgendwann, aber so groß, dass Wyveria nicht mehr ins Haus passte, wurde sie in den Geschichten soweit ich mich erinnere nicht. Für’s Bett war sie aber irgendwann zu groß…

    Was die Rätsel angeht – wir werden sehen…

  3. #3 rolak
    5. April 2020

    wir werden sehen

    Auf die Frage der Rätsel-plotRelevanz antworten mit einem temporalen Rätsel – nicht schlecht…

    Doch zugegeben, die phantasierte Progression der Futtermenge führte hier ebenfalls schon teils zu absurdem Theater – aber hej, it´s Fantasy, da kann noch Einiges passieren.
    Komischerweise gehen immer die ZauberZauber gerade eben nicht, es wird sich vervogelt etc pp, um irgendwo reinzugucken oder reinzukommen, statt zu zaubern, daß man es sieht bzw drin ist. Doch ich bin nicht der BeastMaster², was weiß ich schon, welche Bonuskräfte durch scheinreale Neu-Inkorporierungen erweckt bis beschworen werden…

    ________________________
    ² aber der YeastMaster – hab gestern ganze zwei Würfel Hefe ergattert…

  4. #4 MartinB
    6. April 2020

    @rolak
    “phantasierte Progression der Futtermenge”
    Siehe dazu diesen Artikel
    https://scienceblogs.de/hier-wohnen-drachen/2012/08/12/wie-viele-rechtsanwalte-braucht-man-um-einen-t-rex-zu-futtern/
    Ich gehe davon aus, dass ein großer Drache wie Grimbold vielleicht ein oder zwei Hirsche o.ä. am Tag futtert, das sollte eigentlich genügen. Ich gebe aber zu, dass ich kein detailliertes ökologisches Modell der Situation erstellt habe.

    “Komischerweise gehen immer die ZauberZauber gerade eben nicht, es wird sich vervogelt etc pp, um irgendwo reinzugucken oder reinzukommen, statt zu zaubern, daß man es sieht bzw drin ist.”
    Naja, da mag es ja Regeln geben, die dafür Sorgen, dass das so ist – sich selbst verzaubern scheint für Hexen ja einfach zu sein (schon im ersten Buch konnten sich die Hexen in Eisbären, Mäuse etc. verwandeln), insofern ist das vielleicht dann das Mittel der Wahl.

  5. #5 rolak
    6. April 2020

    schon im ersten Buch

    Das bezog sich nicht speziell auf Dein epochales Werk, MartinB, sondern generell auf plots mit magischen Elementen. Die Metabegründung ist ja sonnenklar (gaaaanz schlechtes Karma zB für die ZwischenQuest-Spannung und wohl auch für die feinziselierte Ausformung der ProtagonistenEigenschaften), doch eine plotWelt-reale Begründung ist mir noch nicht untergekommen.

    Zu der Progression: Wyveria ist noch auf-Arm-tragen-fähig, während der GroßeBraune aus 2.4 allein schon Krallen hat, die so lang sind wie die Unterarme der Trägerin. Das klingt nach einer Menge WachstumsChancen, und dann rattert die phantasiebefeuerte Kalkulation los…

  6. #6 MartinB
    7. April 2020

    @rolak
    Was die Größe angeht: Ich habe mir die Drachen ungefähr so groß vorgestellt wie bei den Drachenreitern von pern. Wenn man den Nahrungsbedarf hochskaliert, dürften so ein oder zwei Hirsche o.ä. am Tag ausreichen, um den zu decken, da sehe ich kein echtes Problem (außer für ein ökosystem, das das ertragen muss, aber so weit bin ich dann beim Ausarbeiten nicht gegangen…)
    Große Sauropoden legten auch in ein paar Jahrzehnten von Null auf +50Tonnen zu, Fleischfresser sollten theoretisch eher schneller wachsen können.