“Brexit bedeutet Brexit”, hatte Theresa May Anfang Juli 2016 tiefgründig verkündet, kurz nach dem Referendum, bei dem sich eine äußerst knappe Mehrheit der Briten dafür entschieden hatte, der EU den Rücken zu kehren. Dies sollte vermutlich ihre Entschiedenheit unterstreichen, die Loslösung des Vereinigten Königreichs vom Restkontinent konsequent durchzuziehen, was immer es koste. Was der Brexit nun wirklich für die Industrie bedeuten wird, wird allmählich deutlicher und bedrückender. Insbesondere anhand folgender Posse, die sich gerade zwischen Brüssel und London entspinnt.
Galileo, das europäische Navigationssystem des 21. Jahrhunderts
Derzeit wird bekanntlich das europäische Navigationssystem “Galileo” im All stationiert. Von 34 geplanten Satelliten sind bereits 22 im Orbit. Zwei allerdings nicht im planmäßigen Orbit, ein dritter ist weitgehend ausgefallen und ein vierter wurde im Dezember vorläufig außer Betrieb genommen, so dass sich 18 im regulären Betrieb befinden. Vier bereits im Dezember 2017 gestartete Satelliten befinden sich noch in der Phase der Inbetriebnahme. Weitere vier werden derzeit für den Start vorbereitet. Der Endausbau sieht 24 aktive Satelliten und 6 Reservesatelliten vor. 8 stehen also noch zum Bau aus.
Großbritannien hat als bedeutende europäische Industrienation natürlich seinen Anteil an der Entwicklung dieses präzisesten Navigationssystems der Welt gehabt (30 cm Ortungsgenauigkeit vs. ca. 5 m bei GPS und GLONASS). Die höchste Genauigkeit steht der Öffentlichkeit allerdings nicht kostenlos zur Verfügung – der kostenlose Dienst (Open Service) ist auf 4 m genau. Neben einem kostenpflichtigen Dienst (Commercial Service, CS) mit erhöhter Datenrate gibt es noch Dienste für sicherheitskritische Anwendungen wie Flugverkehr und Schifffahrt (Safety of Life, SoL), einen Such- und Rettungsdienst mit Rückkanal für Notrufe (Search and Rescue, SAR) und schließlich einen Dienst für Grenzschutz, behördliche, militärische, und polizeiliche Nutzung (Public Regulated Service, PRS). PRS ist stark verschlüsselt gegen unautorisierten Gebrauch und durch Fehlerkorrekturkodierung besonders robust gegen natürliche wie feindselige Störsignale.
Der Zugriff auf den PRS-Dienst ist laut EU-Verträgen den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums vorbehalten, zu denen neben den EU-Mitgliedsländern selbst auch Norwegen und Island zählen. Norwegen betreibt 2 Galileo-Bodenstationen auf Spitzbergen und in der Antarktis und hat vollen Zugriff auf den PRS-Dienst. Norwegische Firmen dürfen außerdem sicherheitsrelevante Komponenten für das Galileo-System fertigen und liefern. Die Verträge für den Austausch sensibler Informationen benötigten 6 Jahre bis zum Abschluss (2005-2011).
Die Schweiz ist lediglich Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation, und hat damit zwar keinen Zugriff auf den PRS-Dienst, jedoch dürfen Schweizer Firmen dennoch die entsprechenden Komponenten beitragen – sie fertigen beispielsweise die Atomuhren der Satelliten. Ein voller Zugriff auf das System kann per separatem Vertrag zukünftig abgeschlossen werden.
Die britische Regierung konnte sich jedoch bekanntlich bisher weder für das norwegische noch für das eidgenössische Modell entscheiden, und daraus zog Airbus nun Konsequenzen und kündigte Ende April an, sein Werk von Portsmouth in ein anderes europäisches Land zu verlegen, ein großer Verlust für die britische Hochtechnologie, die maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der PRS-Technologie hatte. Großbritannien hatte ursprünglich geplant, im Jahre 2030 einen Anteil von 10% am Raumfahrt-Weltmarkt zu halten, wofür die Beteiligung an Galileo ein wichtiger Grundstein wäre. Mit dem Brexit wären die Briten jedoch raus aus Galileo und die gesamte Verschlüsselungstechnik würde anderen EU-Mitgliedsländern zugute kommen.
Sandkastenspiele
Dies will die britische Regierung jedoch mit aller Macht verhindern. Sie forderte uneingeschränkten Zugang zu PRS als Teil des Übergangsvertrags, was von Brüssel mit Rücksicht auf Norwegen und die Schweiz abgelehnt wurde. Daraufhin drohte der britische Schatzkanzler Hammond Ende Mai, man erwäge ernsthaft ein eigenes Navigationssystem zu entwickeln und den britischen Finanzierungsbeitrag an Galileo von 1,4 Milliarden Euro zurück zu fordern, wenn die EU weiterhin auf ihrem Standpunkt beharre. Der Telegaph schrieb schon Anfang Mai, es sei bereits mit Vorarbeiten für ein 3 Milliarden Pfund (ca. 3,4 Milliarden Euro) teures System begonnen worden (Galileo-Kosten: ursprünglich auf 3,4 Milliarden kalkuliert, jetzt ca. 10 Milliarden), was man in Brüssel relativ unbeeindruckt zur Kenntnis nahm – ein solches System würde neben den hohen Kosten wenigstens ein Jahrzehnt bis zum Beginn der Installation benötigen. Mitte Mai kündigten die Briten an, die Mittel für den nächsten Satz Galileo-Satelliten mit ihrem Veto im Rat der 22 Mitglieder der europäischen Raumfahrtagentur ESA zu blockieren. Durch die britischen Drohungen verzögert sich die Bewilligung der Satelliten bereits um 2 Monate.
Die EU beschloss Anfang Juni im Gegenzug, laut Financial Times unter Berufung auf europäische und britische Beamte in den entsprechenden Ressorts, alle Verbindlichkeiten der ESA zu tragen, die ihr üblicherweise bei der Vertragsübernahme entstünden. Wegen des somit viel kleineren Risikos brauche die ESA kein einstimmiges Votum mehr um das Programm weiter zu führen, sondern es reiche die einfache Stimmenmehrheit. Das Vereinigte Königreich kündigte bereits an, trotzdem gegen die Freigabe der Mittel zu stimmen. Die Abstimmung ist für den 13. Juni geplant.
Eine weitere Drohung der britischen Regierung steht laut Financial Times im Raum, nämlich britischen Firmen, die an Galileo beteiligt sind, keine Sicherheitsfreigabe zu erteilen, um damit zu verhindern, dass sensible PRS-Verschlüsselungstechnologie der Firma CGI UK an den französisch-italienischen Thales-Alenia- Espace-Konzern übertragen werden kann. Dies könne die weitere Fertigung der Satelliten jedoch nicht behindern, da eine entsprechende Beschränkung erst nach dem Brexit in Kraft treten könne, so die Financial Times.
…und raus bist du!
Derzeit bereitet die EU ein Dokument vor, demgemäß die Verantwortung über das Galileo-System von der ESA, in der die Briten weiterhin Mitglied bleiben, an die EU übergehen soll und darüber hinaus die Verantwortung über das gesamte europäische Raumfahrtprogramm. Damit soll zukünftig verhindert werden, dass EU-Nichtmitgliedsstaaten EU-Raumfahrtprojekte behindern können.
Damit hat sich das ESA-Mitglied Großbritannien ordentlich ins eigene Knie geschossen und “Brexit” könnte langfristig gar “Spaxit” bedeuten – das Abgehängtwerden in der Raumfahrt.
Don’t panic!
Es steht zu befürchten, dass sich ähnliche Possen in anderen Wirtschaftsbranchen wiederholen werden. Im Augenblick dringen deshalb deutliche Misstöne aus Downing Street 10, die auf Nervosität in der Tory-Regierung hindeuten. Boris Johnson beschwor in einer nichtöffentlichen Runde eine mögliche Katastrophe (“meltdown”) und dass der Brexit drohe, nicht das gewünschte Ergebnis zu liefern. Er verunglimpfte Schatzkanzler Hammond als das “Herz der Remain-Bewegung”, äußerte Bewunderung für Donald Trump, der in solchen Dingen kurzen Prozess mache, und kündigte eine härtere Gangart von Theresa May gegenüber der EU an. Und er ermahnte alle, dass ja niemand in Panik ausbreche. Bloß keine öffentliche Panik! Das klingt dann allerdings schon etwas – panisch.
Links
- en.wikipedia.org, List of Galileo Satellites
- LSE Blog, Galileo satellites illuminate EU-UK divorce tensions. British industry is likely to end up in a weaker position
- Impact Assessment, UK Space Agency: Competent PRS Authority
- Quartz, Brexit is breaking up Europe’s €10 billion plan to launch a new constellation of satellites
- The Telegraph, Revealed: Britain’s £3 billion ‘sat nav’ system to rival EU’s after Brexit
- The Guardian, UK will build own satellite system if frozen out of EU’s Galileo – chancellor
- Heise-Online, Brexit: Streit über britische Beteiligung an Galileo – London droht mit eigener Satellitennavigation
- Bloomberg, U.K. Said to Threaten Veto on EU’s New Galileo Contract Tenders
- Financial Times, EU outmanoeuvres UK in latest battle over Galileo
- The Guardian, Boris Johnson admits there may be a Brexit ‘meltdown’
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