Im vorletzten Artikel ging es um die Wahrscheinlichkeit, intelligentes Leben auf anderen Welten der Milchstraße zu finden. Dabei kam das Fermi-Paradoxon zur Sprache, demgemäß sich eine hinreichend intelligente Spezies rasch in der Milchstraße verbreiten würde. Dazu passt eine Arbeit von Frédéric Marin und Camille Beluffi in der Februarausgabe des Journal of the British Interplanetary Society, in der sie untersuchen, wie man mit heutiger Technologie den nächsten mutmaßlich habitablen Exoplaneten erreichen könnte. Wobei ich hoffe, dass die Arbeit nicht ernst gemeint ist…
Wie erreicht man Proxima Centauri b?
Unser nächster Nachbarstern, Proxima, ist ein Roter Zwerg im Sternbild des Zentauren, der leider nur am Südhimmel zu sehen ist. Bei einer scheinbaren Helligkeit von 11,13 m benötigt man schon ein kleines Teleskop von 70 mm Öffnung, um ihn überhaupt sehen zu können, obwohl er nur 4,22 Lichtjahre oder knapp 40 Billionen km entfernt ist (eine Billion sind Tausend Milliarden oder eine Million Millionen). Das ist nur 266.700 mal so weit wie die Sonne. Also quasi um die astronomische Ecke gelegen…
2016 wurde entdeckt, dass der Stern einen etwa erdgroßen Planeten in der habitablen Zone hat. Proxima Centauri b hat eine Minimum-Masse1 von 1,29±0,19 Erdmassen und mit 90% Wahrscheinlichkeit eine von weniger als 8±1,2 Erdmassen. Er umkreist Proxima innerhalb von 11,2 Tagen in 7,5 Million km Entfernung, einem Zwanzigstel des Abstands Erde-Sonne, aber da Proxima auch nur knapp 1/600 der bolometrischen Sonnenleuchtkraft hat, bekommt der Planet ungefähr 65% der Strahlung ab, mit der die Erde von der Sonne bestrahlt wird. Das Maximum liegt dabei im Infraroten, so dass die Gleichgewichtstemperatur bei -39°C liegt – das ist die Temperatur, die ein Planet ohne Atmosphäre und Treibhauseffekt annehmen würde (bei der Erde beträgt dieser Wert -18°C). Wie hoch die Temperatur dann tatsächlich ist, hängt hauptsächlich von der Menge an Treibhausgas in der Atmosphäre und der Albedo2 ab. Darüber wissen wir nichts. Auch nicht, wie hoch die Schwerkraft auf dieser Welt ist, die bei 8 Erdmassen auch das vierfache der Erdschwerkraft betragen könnte. Der Planet könnte wie Neptun eine dichte, tiefe Atmosphäre haben oder einen hundert Kilometer starken Eispanzer. Habitable Zone heißt einfach, dass bei geeigneter Atmosphäre und Größe flüssiges Wasser auf dem Planeten existieren könnte.
Vergessen wir einmal, dass wir das alles nicht wissen – vielleicht wissen wir es dank Breakthrough Starshot ja in 100 Jahren. Und vergessen wir, dass Proxima nicht gerade der ideale Mutterstern ist, er spuckt mehrmals jährlich Superflares aus, die einen so nahen Planeten wie Proxima permanent seiner Ozonschicht berauben würden – und die Proxima kurzfristig 100mal heller und damit gelegentlich sogar fürs bloße Auge von der Erde sichtbar machen könnten!
Wie könnte man Proxima erreichen? In der hier betrachteten Arbeit führen die Autoren zunächst an, dass das Apollo-Raumschiff 114.080 Jahre gebraucht hätte (was nicht stimmt, Apollo hätte das Sonnensystem gar nicht verlassen können, die Geschwindigkeit von 40.000 km/h wurde nur in Erdnähe, tief im Schwerefeld von Erde und Sonne erreicht). So oder so, mit chemischen Antrieben erreicht man Proxima nur in paläoanthropologischen Zeiträumen. Die Autoren erwähnen daher das Projekt Orion, eine Studie aus den späten 50er/frühen 60er Jahren, die ein Raumschiff mit Wasserstoffbomben bis auf 10% der Lichtgeschwindigkeit peitschen wollte – jede Explosion in nur wenigen 10 m Entfernung würde ihm per Prallplatte einen Impuls mit 100-facher Erdbeschleunigung (in der hier betrachten Arbeit ist gar von 50.000 g die Rede) verpassen, der über Schockabsorber irgendwie in eine kontinuierliche Beschleunigung von 1 g reduziert werden müsste; da diese über Wochen aufrecht erhalten werden müsste, wäre viel mehr auf Dauer nicht zu ertragen. Ein solches Raumschiff könnte vielleicht 8% bis 10% der Lichtgeschwindigkeit erreichen und die Flugzeit auf 42-84 Jahre reduzieren (die höhere Zahl, wenn man die Hälfte der Bomben zum Abbremsen benutzte). Die technischen Probleme und Kosten wären jedoch immens – im Referenzdesign war von 400 m Durchmesser und einer Masse von 8 Millionen Tonnen die Rede mit Kosten in der Größenordnung des amerikanischen Bruttosozialprodukts.
Auch das Projekt Daedalus, eine britische Studie aus den 1970ern wird kurz erwähnt. Es beruht auf einem ähnlichen Prinzip, allerdings sollten hier kleine Fusionspellets durch Elektronenstrahlen verdichtet und zur Trägheitsfusion gebracht werden, und zwar 250 Stück davon pro Sekunde, so dass ein kontinuierlicher Schub entwickelt würde, der das zweistufige 54.000-Tonnen-Raumschiff in knapp 3 Jahren auf 12% der Lichtgeschwindigkeit bringen würde, allerdings ohne Option zur Abbremsung; es handelte sich um eine Studie für eine unbemannte Sonde zur Erkundung von Barnards Stern in 5,9 Lichtjahren Entfernung.
Die Autoren wollen sich jedoch auf ein konservativere Abschätzung der erreichbaren Geschwindigkeit beschränken und zitieren die Parker Solar Probe, die voraussichtlich am 4. August 2018 Richtung Sonne gestartet werden soll. Die Sonde wird sich der Sonne bis auf 6 Millionen km nähern und dabei 200 km/s erreichen – allerdings nicht durch einen fortschrittlichen Antrieb, sondern durch nicht weniger als 7 Swing-by Manöver an der Venus und die Schwerkraft der Sonne, denn wenn ein Objekt sich der Sonne nähert, wird es von ihr beschleunigt, so wie ein fallender Stein von der Erde beschleunigt wird. Die Autoren geben auch zu, dass wir bisher keine Raumschiffe mit solchen Geschwindigkeiten starten können, berufen sich jedoch darauf, dass dies zeige, dass “unsere Technologie bei solchen Geschwindigkeiten noch funktioniert” – was immer das im Sinne von Einsteins Relativitätsprinzip bedeuten mag3. Elektrische Antriebe (Ionentriebwerke) könnten aber solche und höhere Geschwindigkeiten erreichen, wenn sie nur genügend Leistung zur Verfügung hätten – ein Kernreaktor an Bord wäre die Minimalanforderung. Folgen wir also der Annahme der Autoren, es geht ohnehin um ein völlig anderes Problem, das im Zweifelsfall eben bei größeren Flugstrecken zum Tragen kommt. Und das beginnt mit der projektierten Flugdauer. Die wäre bei 200 km/s nämlich 6300 Jahre…
Generationenschiffe
Da wir noch nicht wissen, ob und wie man Menschen für tausende Jahre reversibel einfrieren oder in einen künstlichen Winterschlaf versetzen könnte, wäre eine theoretische Möglichkeit um eine Crew über so lange Zeit aufrecht zu erhalten, dass sie sich selbst stetig verjüngt: durch ihre eigenen Kinder. Man würde also mit einer Besatzung aus soundsoviel Männern und (nicht notwendigerweise gleich vielen) Frauen starten und die Population sollte durch natürliche Vermehrung einigermaßen konstant gehalten werden, so dass sie weder ausstirbt und ein leeres, defektes Raumschiff am Ziel vorbei flöge, noch explosionsartig vermehrt, so dass die Ressourcen nicht ausreichen würden, alle sterben würden und wieder ein leeres, defektes Raumschiff am Ziel vorbei flöge…
Die Autoren der hier betrachteten Studie haben sich die Aufgabe gestellt zu untersuchen, nach welcher Strategie und mit wie großer Besatzung ein Generationenraumschiff erfolgreich sein Ziel erreichen könnte. Diese Aufgabe haben sie versucht mit einer Monte-Carlo-Simulation zu lösen. Diese Methode haben wir schon im vorletzten Artikel (Der trügerische Mittelwert) kennen gelernt, in dem die Autoren Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die Parameter der Drake-Gleichung angenommen haben und dann wiederholt zufällige Werte per Simulation gezogen haben. Ähnliches haben die Autoren im vorliegenden Papier getan, allerdings auf höherem Detaillevel: sie haben mit ihrem Simulationstool HERITAGE ausgehend von einer anfänglichen Besatzung aus gleich vielen Männern und Frauen für jedes Jahr berechnet, welche Paare zueinander finden, wieviele Besatzungsmitglieder geboren werden und wieviele sterben, wobei ein ganzer Satz von Parametern wie in der Tabelle unten mit in die Simulation eingeht:
“Sozialsteuerungsstrategien”
Dabei wurden verschiedene “Sozialsteuerungsstrategien” (im Original: “social engineering strategies”) ausprobiert, die festlegen, wer nach welchen Regeln sich wann und wie oft fortpflanzen darf. Im Beispiel oben z.B. Frauen und Männer zwischen 35 und 40, die im Mittel zwei Kinder haben dürfen, mit einer gewissen Streuung (ganz so strikt ist die Durchsetzung der zwei-Kind-Direktive dann auch wieder nicht). Mit der Zeit werden die Alters- und Fortpflanzungs-Verteilungen gestaffelt, so dass die Zahl nicht reproduzierender jüngerer und älterer Menschen reduziert und die sozialen Beziehungen stabilisiert würden. Dies entspricht einer Strategie nach dem Anthropologen John Moore, der sich mit dem Problem der Generationenschiffe bereits auseinander gesetzt hatte.
Mit einer starren Sozialsteuerungsstrategie wie oben starb allerdings nach anfänglicher Vermehrung von 150 auf über 250 Besatzungsmitglieder nach ca. 900 Jahren die Besatzung in der Simulation aus. Gleiches passierte bei einer viel größeren Besatzung von 14000 Menschen nach 1300 Jahren. Hauptgrund dafür ist laut den Autoren die Überbevölkerung, die sich bei starren Regeln leicht ergibt.
Daher wurde der Simulationscode so modifiziert, so dass eine Schwelle von 90% der Kapazität des Raumschiffs nicht überschritten werden sollte, damit z.B. im Falle eines beschädigten Teilbereichs des Raumschiffs noch Reserven verblieben. Bis zum Erreichen des Schwellwerts würden Frauen im Schnitt 3±1 Kinder zur Welt bringen dürfen. Bei Überschreitung des Schwellwerts wäre die Fortpflanzung einzustellen, nur den gerade Schwangeren wäre es noch erlaubt, ihre Kinder auszutragen; um soziale Spannungen zu vermeiden, wie die Autoren betonen. Wenn die Bevölkerung dann durch natürliche Tode wieder unter die Schwelle sinken würde, dann wäre die Fortpflanzung wieder erlaubt. Ein Computersystem solle die Bevölkerungszahl überwachen und die Direktiven ausgeben.Auch in diesem Szenario starb die Besatzung binnen ca. 1000 Jahren nach anfänglichem Anstieg aus, weil sich trotz anfänglicher Staffelung der Geburtsjahre durch die Normalverteilung der Geburten die Geburtsjahre und damit auch die Fortpflanzungsjahre der Besatzungsmitglieder allmählich gegeneinander verschoben, so dass schließlich nicht mehr genug Paare im Fortpflanzungsfenster waren, um die Besatzung aufrecht zu erhalten. Erst wenn die Größe des Fensters auf mindestens 33-40 Jahre erhöht wurde, blieb die Population stabil. Dann wurde auch die im Jahr 2500 simulierte katastrophale Epidemie überlebt (Bild unten).
Schließlich versuchten die Autoren noch den Effekt der Blutsverwandtschaft mit einzubeziehen. Der Blutverwandtschaftsgrad ist dabei eine Zahl zwischen 0 und 1 (oder 0 und 100%), wobei nicht verwandte Personen den Grad 0 haben, eineiige Zwillinge den Wert 100%, Eltern mit ihren Kindern und Geschwister untereinander den Wert 50% etc. Haben Paare einen Blutverwandtschaftgrad von 50%, dann haben ihre Kinder einen Inzuchtkoeffizienten von 25%. Paare aus Cousins/Cousinen sind untereinander zu 12,5% blutsverwandt, ihre gemeinsamen Kinder haben einen Inzuchtkoeffizienten von 6,25%. Ab einem Inzuchtkoeffizienten von 5% ist laut den Autoren mit schädlichen Auswirkungen (wohl: Behinderungen) zu rechnen.In den Simulationen stieg der Inzuchtkoeffizient in den ersten Jahrhunderten auf 18%, um dann auf stabile 6,25% zu sinken. 10% der Bevölkerung würden Anzeichen von Inzucht zeigen.
Die Autoren untersuchten schließlich noch, wie sich die Besatzung entwickelt, wenn der Inzuchtkoeffizient auf 10%, 5% oder 0% beschränkt würde – indem Paare mit solchen Nachkommen vermieden wurden. Durch die somit kleinere Zahl möglicher Paare reduzierte sich die Besatzungsstärke für einen Inzuchtkoeffizienten von 5% auf 400 Personen (bei einer Schiffskapazität von 500) und für einen Koeffizienten von 0% sogar auf 320, weil einige simulierte Reisen scheiterten (ca. 30%) und die Besatzung ausstarb. Überlebte die Besatzung jedoch die ersten 1000 Jahre, dann blieb sie stabil, auch bei der späteren ausbrechenden Epidemie.Die Autoren fanden außerdem, dass die minimale Besatzung aus 49 Frauen und 49 Männern bestehen müsse und versprechen, in einer zukünftigen Arbeit den Einfluss von Mutationen und anderen Schädigungen durch die kosmische Strahlung mit in die Simulation einzubeziehen. Wir sind gespannt.
Das Lachen, das im Halse stecken bleibt
Um ehrlich zu sein – als ich von der Arbeit hörte, habe ich herzlich gelacht, und beim Lesen schauderte es mich einigermaßen. Natürlich gehen die Autoren von einem Katastrophenszenario aus, in dem ein Teil der Menschheit als letzte Rettung die Erde verlassen muss, weil diese untergeht – ansonsten wäre es schwer mit der Ethik zu verantworten, die Ungeborenen dazu zu verdammen, ihr gesamtes Leben bei Kunstlicht in einer Röhre im dunklen Weltall zu verbringen mit großem Risiko eines Scheiterns und die Eltern einer strengen Geburtenkontrolle unter der Aufsicht eines diktatorisch handelnden Großen Bruders Computer zu unterwerfen, der entscheidet, wer mit wem verpaart werden darf. Das klingt ziemlich stark nach Faschismus. Ohne ein strenges Regime würde es aber sicherlich schnell zu Aufständen kommen. Soziopathisch handelnde Individuen würden so ein Raumschiff wahrscheinlich spätestens nach wenigen Jahrhunderten in die Katastrophe steuern, oder jedenfalls auf Kosten ihrer Nachkommen leben. Ganz zu schweigen von den technischen Herausforderungen, alle Schäden mit Bordmitteln reparieren zu müssen – über Jahrtausende!
Ich bleibe dabei, interstellare Raumfahrt ist beinahe unmöglich. Wenn überhaupt, dann mit Daedalus-ähnlichen Schiffen und Flugzeiten, für die die Technologie in greifbarer Nähe ist. Versuchen wir lieber, unser großes Raumschiff Erde mit seiner Besatzung auf Kurs zu halten.
Aber wie man sieht, kann man mit einfachen Simulationen, die im Prinzip jeder auf dem heimischen PC durchführen kann, auch ohne erwähnenswerte Kenntnisse in Orbitaldynamik in einem angesehenen wissenschaftlichen Journal unterkommen. Wer also Langeweile hat…
Originalarbeit
[1] Frédéric Marin, Camille Beluffi, “Computing the Minimal Crew for a multi-generational space journey towards Proxima Centauri b“, Journal of the British Interplanetary Society, Vol. 70, No. 2, Februar 2018, S. 433 ff; arXiv:1806.03856.
1 Minimum, da man die Bahnneigung nicht kennt und per Beobachtung der Dopplerverschiebung von Proxima nur auf die Bewegungskomponente auf den Beobachter zu bzw. von ihm weg (Radialgeschwindigkeit) schließen kann; siehe auch Pollux b.
2 Albedo bezeichnet das Rückstrahlvermögen eines Planeten. Ein Planet mit einer Albdeo von 0,4 reflektiert 40% des einfallenden Lichts zurück in den Weltraum. Die Albedo der Erde beträgt ca. 0,37, die der Venus 0,69.
3 Nach Einsteins Relativitätsprinzip liefern alle Experimente in allen gleichförmig bewegten Systemen (Inertialsystemen) dieselben Ergebnisse, d.h. es ist vollkommen wurstegal, wie schnell sich ein Raumschiff bewegt, es wird genau so wie in Ruhe funktionieren.
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