Im ersten Teil haben wir das Relativitätsprinzip kennen gelernt und erfahren, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen den gleichen Wert hat und dass der Zeitablauf in einem hinreichend schnell relativ zu einem Beobachter bewegten Inertialsystem diesem Beobachter folglich verlangsamt erscheinen muss (Zeitdilatation). Nicht nur das, auch Strecken erscheinen in Bewegungsrichtung verkürzt (Längenkontraktion). Die Umrechnung zwischen den beiden Bezugssystemen erfolgt über den Lorentzfaktor γ, den wir über die Lichtuhr hergeleitet haben. Beim im Artikel vorgestellten Zwillingsparadoxon führte das dazu, dass Horst auf seiner Reise nach Alpha Centauri und zurück weniger gealtert ist, als die auf der Erde gebliebene Angela.
Was auf den ersten Blick paradox erscheint, weil doch laut Relativitätsprinzip Horst sich in Ruhe betrachten könnte und dann Angelas Zeit langsamer vergehen sähe, sowohl auf dem Hin- als auch Rückweg. Wer hat Recht und warum ist nach Horsts Rückkehr seine Uhr die mit dem kleinsten Zählerstand?
Der Grund ist nicht etwa, wie schon bei Martin erklärt, ein Effekt der allgemeinen Relativitätstheorie, wie man gelegentlich hört, der gemäß die Zeit im Schwerefeld wie auch unter andauernder Beschleunigung langsamer verläuft. Was zwar stimmt, aber die spezielle Relativitätstheorie reicht vollkommen aus, wir betrachten hier den Fall, dass die Umkehr instantan erfolgt, ohne andauernde Beschleunigung, auch wenn in der Realität eine solche unvermeidbar wäre.
Der Grund ist vielmehr die Richtungsumkehr von Horst: er wechselt unterwegs das Bezugssystem. Tatsächlich haben wir es nämlich mit 3 Bezugssystemen zu tun: Das System A, in dem Angela, die Erde und Alpha Centauri ruhen, das System H’, in dem Horst auf dem Hinweg ruht, und ein drittes System H”, auf dem Horst auf dem Rückweg ruht. Man kann sich vorstellen, dass Horst in Erdnähe auf ein gleichförmig bewegtes Raumschiff H’ aufspringt, das ihn mit nach Alpha Centauri nimmt, und dort beamt1 er auf ein gleichartiges entgegenkommendes Raumschiff H” hinüber, das mit der gleichen Geschwindigkeit in Gegenrichtung unterwegs ist. Dann ist jedes Raumschiff ein Inertialsystem mit eigener Zeitdilatation (und Längenkontraktion).
Betrachten wir nun den Ablauf der Reihe nach aus allen drei Bezugssystemen.
[Update 13.07.18.] Habe das Folgende noch einmal tabellarisch überarbeitet in einem weiteren Artikel zusammengefasst.
Horsts Reise aus der Sicht dreier Bezugssysteme
In den folgenden Bildern sind Raum-Zeit-Diagramme dargestellt (aber keine Minkowski-Diagramme), in denen die Zeit von unten nach oben verläuft und der Raum in der Waagerechten ausgedehnt ist. Geschwindigkeiten sind Pfeile, die um so flacher verlaufen, je höher die Geschwindigkeit ist (vertikaler Pfeil: Objekt verharrt am gleichen Ort).
Damit man bei den verschiedenen Zahlen nicht die Übersicht verliert, wer welche Werte beobachtet, sind die Zahlen jeweils in der gleichen Farbe eingefärbt, wie die Achsen und Beschriftungen der Systeme, aus deren Sicht sie gelten. System A verwendet blau, H’ rot und H” grün.
Zeiten werden mit t wie time benannt, Entfernungen mit d wie distance und Geschwindigkeiten mit v wie velocity. Geschwindigkeiten mit tiefgestellten Indizes A, H’ und H” sind die Relativgeschwindigkeiten der jeweiligen Systeme, Index h bezieht sich auf den Hin- und r auf den Rückweg. Hochgestellte Striche und Doppelstriche beziehen sich auf Messungen in den Bezugssystemen H’ und H”, ungestrichene Werte auf A.
Fangen wir mit dem einfachsten Fall an:
Angelas Sicht
Angela ruht im System A und das System H’ entfernt sich ab dem Zeitpunkt 0 mit vH’=0,8c von der Erde (Terra) und erreicht Alpha Centauri in dh=4,3 Lichtjahren Entfernung nach th = 4,3 LJ/0,8 c = 5,375 Jahren. H’ fliegt danach unbehelligt weiter bis in die doppelte Entfernung (und darüber hinaus, hier ist nur das Bild zu Ende).
H” ist zum Zeitpunkt 0 aus der doppelten Entfernung unten rechts im Bild gestartet und mit vH”=-0,8c in Gegenrichtung von H’ unterwegs gewesen. Alles ist symmetrisch, deshalb erreicht H” Alpha Centauri ebenfalls nach th=5,375 Jahren und ermöglicht Horst, just zu seiner Ankunft bei dem Stern auf H” hinüber zu beamen (schwarzer Kringelpfeil). H” fliegt weiter bis es nach weiteren tr=5,375 Jahren oben links im Bild die Erde erreicht.
Bezeichnen wir mit γ(v) den Lorentzfaktor für die Geschwindigkeit v, also γ(0,8c) sei der Lorentzfaktor für 0,8-fache Lichtgeschwindigkeit. Betrachtet man die aus Sicht von H’ bzw. H” gültigen roten und grünen Zahlen, dann sieht H’ beim Start die Strecke zu Alpha Centauri auf d’h=d/γ(0,8c) =0,6 · 4,3 LJ= 2,58 LJ verkürzt, denn 1/γ(0,8c) ist √(1-0,8²) = 0,6. Die 0,6 merken wir uns, 1/γ(0,8c) taucht noch öfters auf. Die Uhr läuft in H’ um den selben Faktor 0,6 langsamer, also beträgt die Dauer des Hinflugs aus Sicht von H’ nur t’h=0,6 · 5,375 J = 3,225 J.
Die entsprechenden Zahlenwerte in grün 🙂 finden sich bei H”, wo alles symmetrisch ist, nur die Richtung ist umgekehrt: d”h= 2,58 LJ, t”h=3,225 J. H” bleibt auch nach dem Passieren von Alpha Centauri mit -0,8c unterwegs und die Entfernung und Zeit des Rückwegs entsprechen denen des Hinwegs: d”r= 2,58 LJ, t”r=3,225 J.
Horst nutzt also von H’ die Zeit t’h=3,225 J und von H” die Zeit t”r=3,225 J. Macht in Summe 6,45 Jahre Flug- und Alterungszeit, während Angela th+ tr=5,375 J + 5,375 J= 10,75 Jahre gealtert ist. Horst lässt Angela somit alt aussehen.
Soweit alles klar, aber müssten H’ und H” am Ende nicht auch für A verkürzte Zeiten beobachten? Schauen wir uns die Sicht von H’ an:
Sicht aus Bezugssystem H’
Stellen wir uns den Ablauf aus dem Raumschiff H’ betrachtet zuerst bildlich vor, bevor wir das Diagramm und die Zahlen betrachten. Wir blicken zurück und sehen vom Start an die Erde mit 0,8c davon rasen. Drehen wir uns um, sehen wir Alpha Centauri aus längenverkürzter Entfernung entgegen kommen, so dass wir nach verkürzter Bordzeit dort eintreffen. Just in diesem Moment rast uns mit noch größerer Geschwindigkeit das Raumschiff H” entgegen und Horst beamt im Moment der Begegnung auf H” hinüber. Dann sehen wir H” in der Schwärze des Alls verschwinden. Irgendwo in der Ferne holt H” dann die sich stetig mit 0,8c entfernende Erde ein, denn H” ist schneller als diese unterwegs.
Aber wie schnell erscheint uns H”? Im System A kamen sich H’ und H” mit jeweils 0,8c entgegen, aus Sicht von A also relativ zueinander mit 1,6c. Aber aus Sicht von H’, das sich in Ruhe sieht, kann H” keinesfalls mit 1,6 c entgegen kommen, denn in H’ kann nichts schneller als Licht relativ zum Ruhezustand unterwegs sein. H” muss langsamer als c sein. In der Relativitätstheorie addieren sich Geschwindigkeiten deswegen anders (zur Herleitung braucht man nichts weiter, als wir bis hierher schon wissen, aber aus Platzgründen verweise ich für die Herleitung auf den Link). Nach der dort hergeleiteten Additionsformel
erhält man durch Einsetzen der Geschwindigkeitsbeträge von H’ (0,8c) und von H” (0,8c) aus Sicht von A für u’ und v die Summengeschwindigkeit u=0,9756c für H” aus der Sicht von H’. Damit braucht H” aber aus Sicht von H’ viel länger, um die Erde einzuholen. Bei 0,9756c mit gerade einmal 0,1756c Geschwindigkeitsüberschuss gegenüber der Erde dauert der Rückflug von Horst aus Sicht von H’ viel länger als der Hinflug. Aber H” hat wegen der höheren Geschwindigkeit eine viel höhere Zeitdilatation. Schauen wir uns die Zahlen an:
H’ ruht am Ort des roten Pfeils halb rechts (wo H’ drunter steht). Zur Zeit 0 (ganz unten) verlässt A (die Erde mit Angela) H’ nach links mit v’A=-0,8c. Nach t’h=3,225 J kommt von rechts Alpha Centauri ebenfalls mit -0,8c vorbei (schwarze Linie). Die Erde ist inzwischen bereits 3,225 J/0,8c = 2,58 LJ entfernt – diese Entfernung zwischen der Erde und Alpha Centauri bleibt konstant, denn sie sind gleich schnell unterwegs (habe die 2,58 LJ deshalb unterstrichen; aus ihnen und v’A lässt sich alles im Bild errechnen).
Just zum gleichen Zeitpunkt kommt von rechts H” mit 0,9756c angeflogen, so dass H’ und H” sich bei Ankunft von Alpha Centauri begegnen. Horst kann also bei Alpha Centauri von H’ auf H” überwechseln. Damit H” zur rechten Zeit eintrifft, muss H” zum Zeitpunkt 0 in d’H”=0,9756c · 3,225 J = 3,146 Entfernung gewesen sein (unten rechts). Diesen Startzeitpunkt von H” und seine eigene Begegnung mit der Erde nimmt H’ als gleichzeitig wahr, sie liegen auf der gleichen waagerechten Linie (Zeitpunkt 0). In ersten Bild war H” zum Zeitpunkt 0 hingegen 8,6 Lichtjahre von A entfernt bzw. aus Sicht von H’ 2·2,58=5,16 LJ. Im System H’ werden also andere Positionen der Erde und H” als zeitgleich wahrgenommen als im System A – und das löst das Zwillingsparadoxon auf.
Betrachten wir nämlich den weiteren Verlauf, nachdem H” Alpha Centauri und H’ passiert hat. H” ist nur 0,1756c schneller als die Erde, die 2,58 LJ Vorsprung hat. Folglich braucht H” t’r=2,58 LJ/0,1756c = 14,69 Jahre, um die Erde einzuholen. Wenn H” die Erde dann endlich eingeholt hat, sind für H’ insgesamt schon 17,92 Jahre vergangen. Aus Sicht von H’ läuft die Zeit von A jedoch 0,6mal langsamer. In A sollte Angelas Zeit bei Horsts Rückkehr also 17,92·0,6=10,75 Jahre betragen (siehe blaue Beschriftungen). Und das ist genau der Wert, der auch in Bild A für die Reise herauskam – obwohl in System H’ mehr Zeit vergangen ist als im System A, wie das Relativitätsprinzip das fordert.
Auch in der von A gemessenen Strecke sind sich die Bilder A und H’ einig: in Summe ergeben sich aus 10,75 Flugjahren und 0,8c 8,6 Lichtjahre Gesamtstrecke für Hin- und Rückflug.
Und was sagt Bild H’ über die für H” vergangene Zeit aus? Die Zeitdilatation von H” ist wegen des größeren γ(0,9756c)=1/0,2195=4,555 so hoch, dass die Rückflugzeit von t’r=14,692 J auf t'”r=0,2195·14,692=3,225 Jahre verkürzt erscheint. Horst altert auf dem Rückweg also nur um 3,225 Jahre – genau wie es im Bild A der Fall ist! Zusammen mit der Verweilzeit von 3,225 Jahren in H’ bis zum Eintreffen des Rückflugs vergehen für Horst also 6,45 Jahre. Es gibt keinen Widerspruch, und somit kein Paradoxon!
Sicht aus Bezugssystem H”
Der Vollständigkeit halber nun noch die Betrachtung aus Sicht von H”. Zuerst bitte bildlich vorstellen: das Rückflug-Raumschiff sieht sich ortsfest. In der Ferne starten gleichzeitig die Erde und der Hinflug H’, wobei der H’ schneller als die Erde ist. Ein Stück näher ist Alpha Centauri, der mit konstantem, um 1/γ(0,8c)=0,6 gegenüber der Entfernung in System A (4,3 LJ) längenverkürzten Vorsprung (0,6·4,3 LJ = 2,58 LJ) der Erde vorauseilt. H’ holt langsam auf Alpha Centauri auf und erreicht ihn just in dem Moment, wo beide am Ort von H” ankommen. Horst beamt herüber und erwartet nun die Ankunft der Erde. Diese erreicht H”, wenn sie den Vorsprung von Alpha Centauri mit 0,8c zurückgelegt hat (2,58LJ/0,8c=3,225 J).
Im Bild H” sind noch einmal alle Zahlen dargestellt. Die Relativgeschwindigkeit von H’ in Bezug auf H” ist natürlich die gleiche wie in umgekehrter Richtung, nur mit anderem Vorzeichen. Ergo hat H’ hier nur einen kleinen Geschwindigkeitsüberschuss gegenüber Alpha Centauri und braucht 14,692 Jahre, um den Stern von der Erde startend einzuholen. Entsprechend groß ist die initiale Distanz zur Zeit 0, die im Bild H’ extrem kurz war – weil H’ und H” unterschiedliche Gleichzeitigkeiten haben. Dennoch vergeht wegen der großen Zeitdilatation für H’ nur wenig Zeit: t’h=0,2195·14,692=3,225 Jahre. Horst ist also auf dem Hinflug um 3,225 Jahre gealtert.
H’ erreicht Alpha Centauri genau am Ort von H”, so dass Horst überwechseln kann. Schon 3,225 Jahre später kommt die Erde vorbei und Horst ist am Ziel. Gesamtflugzeit: 6,45 Jahre.
Und Angela? Hat t”h+t”r=17,917 H”-Jahre auf die Rückkehr von Horst gewartet, was ihr bei v”A=0,8c jedoch 0,6-mal kürzer erschien, und das sind 10,75 Jahre. Auch aus der Sicht von H” ist alles stimmig.
War da was paradox?
Aus allen drei betrachteten Bezugssystemen ergibt sich, dass Horst 6,45 Jahre unterwegs ist und Angela 10,75 Jahre warten muss. Der entscheidende Unterschied zwischen Angela und Horst ist, dass Horst einmal das Bezugssystem wechseln muss, um umzukehren. Selbst wenn diese Umkehr keine Zeit benötigt und keine Beschleunigung im Sinne der allgemeinen Relativitätstheorie vorliegt (daher das “Beamen”), vergeht für Horst weniger Zeit als für Angela.
Das Missverständnis beim Paradoxon resultiert daher, dass übersehen wird, dass die Hin- und Rückflugzeiten in den drei Systemen A, H’ und H” sehr unterschiedlich lang erscheinen, denn beide gehen aufgrund der verschiedenen Jetztzeiten von jeweils ganz unterschiedlichen Zeitpunkten für den Start bzw. die Ankunft von Horst aus. Gemäß System A müsste H” beim Start von Horst 5,16 Lichtjahre Abstand von der Erde in seinem Bezugssystem haben, aber H” ermittelt2 einen viel früheren Zeitpunkt, zu dem seine Distanz noch 14,33 LJ betrug. Entsprechende Diskrepanzen bestehen auch über die Gleichzeitigkeit anderer Ereignisse. Einig über die Gleichzeitigkeit von Ereignissen sind sich die verschiedenen Systeme nur, wenn sie Ereignisse betrachten, die am gleichen Ort stattfinden.
Horst nutzt in den Systemen H’ und H” jeweils den kürzeren Abschnitt der Hin- und Rückreisezeit. Insgesamt vergeht in beiden Systemen jedoch jeweils eine sehr viel längere Zeit, die unter Berücksichtigung der Zeitdilatation von A relativ zu den beiden Systemen genau die Wartezeit von Angela ergibt.
Und dies alles haben wir daraus gefolgert, dass c in allen Inertialsystemen den gleichen Wert hat. Diese einfache Forderung, die durch Experimente zigfach bestätigt wurde, führt unausweichlich zu vollkommen absurden Phänomenen, die jedoch in sich nur genau so schlüssig sind.
Ich hoffe, anhand eines praktischen Beispiels des Zwillingsparadoxons ein wenig Licht in die Abgründe der Relativitätstheorie gebracht zu haben. Ich hatte jedenfalls einen Heureka-Moment, als ich das erste Mal das Paradoxon aus den drei Blickwinkeln betrachtet habe. Minkowski-Diagramme waren mir zu abstrakt. Nun dürft Ihr für Euch entscheiden, welche Erklärung Euch am einleuchtendsten erscheint.
1 Raumschiff Enterprise und Start Trek kennen doch hoffentlich alle? Horst wird vom Transporter entmaterialisiert und als Energiestrahl (oder per Quantenteleportation, wer weiß das schon so genau…) in einen gleichartigen Transporter im entgegenkommenden Raumschiff übertragen, wo er re-materialisiert. Das klappt im Film immer, bei allen Relativgeschwindigkeiten und über große Entfernungen.
2 Nachdem die Lichtlaufzeit der Beobachtung herausgerechnet wurde.
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