Im Jahre 1956 behauptete der polnische Astronom Kazimierz Kordylewski, er habe in den Lagrange-4 und -5-Punkten des Erde-Mond-Systems Staubwolken gefunden. Andere Astronomen konnten diese Beobachtungen nicht bestätigen. Nun behauptet ein ungarisches Team von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, sie hätten die Wolken wiedergefunden.
Lagrange-Punkte
Die Lagrange-Punkte, benannt nach dem italienischen Mathematiker Joseph-Louis Lagrange, der sie unabhängig vom deutschen Mathematiker Leonhard Euler 1772 entdeckte, sind Lösungen der Himmelsmechanik für das im allgemeinen nicht geschlossen lösbare 3-Körper-Problem (d.h. man kann keine Formel angeben welche die Bahn dreier Körper umeinander beschreibt, sondern diese nur näherungsweise berechnen).
Es handelt sich um fünf Punkte, in denen ein Objekt vernachlässigbarer Masse in konstanter Position relativ zu einem Planeten um die Sonne kreisen kann. Auch Monde haben Lagrange-Punkte relativ zu ihrem Planeten, insbesondere der Erdmond im Erde-Mond-System. Drei Lagrange-Punkte liegen auf der Linie Erde-Mond: Punkt L1 liegt vor, Punkt L2 hinter dem Mond und Punkt L3 auf der dem Mond gegenüber liegenden Seite seiner Bahn (siehe Grafik unten). Diese drei Punkte sind nicht stabil: ein Objekt, das sich dort befindet, wird bei kleinsten Störungen den Punkt irgendwann verlassen. Anders die Punkte L4 und L5: diese befinden sich auf der Bahn des Mondes, 60° voraus und hinter ihm (Winkel gemessen aus Sicht der Erde). Objekte, die sich dort befinden, bleiben dort und können die Punkte umkreisen. Die Planeten Jupiter und Neptun haben Trojaner-Asteroiden in ihren L4-/L5-Punkten mit der Sonne, und auch die Erde hat dort einen 2010 entdeckten Trojaner, 2010 TK7. Auch Staub hat sich in manchen Lagrange-4/-5-Punkten angesammelt.
L4 und L5 des Sonne-Erde-Systems sind ziemlich stabil, die anderen Planeten sind weit weg und stören kaum.
Beim Erde-Mond-System ist jedoch die Sonne als weiteres Objekt mit im Spiel, die dem Staub um L4 und L5 nicht nur durch ihre Gravitation, sondern auch ihren Sonnenwind den Garaus machen sollte, und deswegen kamen Zweifel auf, als Kazimierz Kordylewski vermeldete, er habe Staubwolken in den L4- und L5-Punkten des Mondes visuell beobachtet. Die nach ihm benannten Kordylewskischen Wolken sollten nach seinen Beobachtungen mit 2° ca. 4 Vollmonddurchmesser gehabt haben. Sie sollten ausgesprochen lichtschwach sein: der Staub in der Ebene der Planetenbahnen streut das Sonnenlicht und bei sehr dunklem Himmel kann man vor allem im Frühjahr nach Sonnenuntergang und im Herbst vor Sonnenaufgang dieses Streulicht als Zodiaklicht oder Tierkreislicht in der Nähe der Sonne beobachten. Deutlich schwächer ist das ebenso gestreute Licht aus der Gegenrichtung zur Sonne, der sogenannte Gegenschein, der nur unter absolut günstigsten Bedingungen visuell sichtbar ist. Zodiaklicht und Gegenschein werden durch eine noch lichtschwächere Brücke verbunden – und die Kordylewskischen Wolken sollen gerade einmal halb so hell wie diese Brücke sein [3]. Steile These. 1961 will Kordylewski die L5-Wolke auf knapp 2000 m in der Hohen Tatra fotografiert haben.
Die meisten Astronomen waren nicht überzeugt. Einige wenige Beobachtungen aus Wüsten, Gebirgen oder vom Meer aus [4] schienen die Existenz zu bestätigen, so eine Aufnahme aus dem Kuiper Airborne Observatory, einem fliegenden Teleskop (dem Vorgänger von SOFIA). 2009 flog die japanische Sonde Hiten jedoch mitten durch den besagten L5 Punkt und maß die Zahl der Staubteilchen dort, ohne eine Erhöhung ihrer Anzahl feststellen zu können. Daher blieb die Existenz der Kordylewskischen Wolken umstritten.
Es muss nicht immer das Hubble-Teleskop sein…
Nun hat ein Team ungarischer Astronomen und Physiker den Versuch unternommen, das polarisierte Licht der Kordylewskischen Wolken abzulichten. Und zwar nicht mit einem der bekannten Riesenteleskope in Chile oder auf Hawaii, sondern mit der Privatsternwarte eines der Teammitglieder und handelsüblichem Equipment für die Hobbyastronomie!
Zugegeben, eine Fornax-100-Montierung und eine Moravian G3-11000C CCD-Kamera mit aktiver Kühlung des 11-Mpx-Sensors sind keine Schnäppchen – 5,9 bzw. 5 k€ muss man schon dafür hinlegen. Dafür trägt die Montierung 90 kg und die Kamera hat einen Vollformat-Sensor (24×36 mm), so groß wie die klassische Bildgröße von Negativ- und Diafilmen. Große CCD-Chips kosten großes Geld (meinereiner gibt sich daher mit einem gekühlten 8 mm durchmessenden Sensor zufrieden). Aber im Vergleich zu professionellen Instrumenten, wie sie in großen Sternwarten zum Einsatz kommen, ist das Kleingeld.
Vor die Kamera wurde ein handelsübliches Tokina-300mm-Objektiv geschraubt, das ihr ein Blickfeld von 7,5°×5° eröffnete.
Vom Staube zerstreut
Licht, das von einem Medium zur Seite gestreut wird, ist polarisiert: Sieht man im rechten Winkel auf die elektromagnetische Welle, dann sieht man nur die Komponente, die senkrecht zur Blickrichtung schwingt, aber nicht diejenige, die ihre Amplitude entlang der Sichtlinie hat (also auf den Beobachter zu oder von ihm weg). An feinsten Staubteilchen um 90° abgelenktes Licht behält deswegen nur die Schwingungsrichtung senkrecht zur neuen Ausbreitungsrichtung, verliert hingegen diejenige, die mit der Fortbewegungsrichtung zusammen fällt. Deswegen ist beispielsweise der blaue Himmel 90° von der Sonne entfernt maximal polarisiert und man kann mit einem dazu in Sperrrichtung ausgerichteten Polfilter vor der Kamera einen tiefblauen Postkartenhimmel herbei zaubern – ein billiger Trick, mit dem ich in den 90ern meine Urlaubsfotos aufgepeppt hatte. In anderen Winkeln als 90° ist noch ein Rest der ansonsten verschluckten Polarisationsrichtung übrig, das Licht ist dort teilpolarisiert.
Auch das Licht der Kordylewskischen Wolken sollte, je nach dem Winkel zwischen Sonne und Beobachter aus der Sicht der Wolke (der sogenannte Phasenwinkel), voll- oder teilpolarisiert sein. Verwendet man ein Polfilter, in Durchlassrichtung, so wird das Licht der Wolken nur wenig abgeschwächt, der Himmelshintergrund jedoch um die Hälfte, denn von allen Lichtwellen des unpolarisierten Lichts (das im Wesentlichen reflektiertes Licht vom Erdboden und Airglow aus der Hochatmosphäre ist) kommt nur die Komponente durch, die in Richtung der Durchlassrichtung schwingt, die andere wird verschluckt – im Schnitt genau die Hälfte.
Die Autoren machten mit ihrer Farbkamera jeweils drei Aufnahmen der Gegend des L5-Punkts der Mondbahn mit 180 s Belichtungszeit. Die Aufnahmen erfolgten mit Polfiltern, die von Aufnahmen zu Aufnahme um 120° verdreht waren. Mit der Software einer ungarischen Firma wurde daraus der Grad und die Richtung der Polarisation in allen drei Grundfarben gemessen. Um den Effekt von Zirruswolken und Kondensstreifen zu berücksichtigen, wurden neben Aufnahmen bei klarem Himmel auch solche bei leichter Zirrusbewölkung und bei Kondensstreifen am Himmel durchgeführt. Eiskristalle in solchen Wolken können nämlich ebenfalls das Licht polarisieren. Als weitere Gegenprobe machten sie Aufnahmen der gleichen Himmelsgegend, wenn der L5-Punkt, der ja mit dem Mond die Erde umkreist, gerade nicht in der Gegend war. Die Kamera war auf -10°C gekühlt und man nahm selbstverständlich Dark- und Biasframes auf.
Ungarn ist nicht die Atacama-Wüste
5 Monate musste das Autorenteam auf das passende Wetter bei der passenden Mondphase und Beleuchtungsrichtung durch die Sonne (nahe 90°) warten, dann hatten sie die Kordylewskischen Wolke in L5 an zwei aufeinanderfolgenden Nächten (17.08.2017 gegen 23:30, 19.08.2017 gegen 01:15) im Kasten (bei Phasenwinkeln von 73,0° und 87,3°). Und so sahen die Aufnahmen aus, ohne und mit Verarbeitung:
Auf den unbearbeiteten Bildern (obere Reihe) sieht man die Wolken nicht; der Ort von L5 ist markiert. In der zweiten Reihe ist der Polarisationsgrad des Lichts für 10%-20%n Polarisation dunkel hervorgehoben. In der dritten Reihe ist Licht mit 81°-90° Polarisationsrichtung rötlich hervorgehoben und die Polarisationsrichtung mit kurzen weißen Strichen kenntlich gemacht. Die gelbe Linie zeigt die Richtung des einfallenden Sonnenlichts und die lange weiße die dazu senkrechte Richtung an. Wie zu erwarten ist die Polarisationsrichtung senkrecht zur Richtung des Sonnenlichts, was es sehr wahrscheinlich macht, dass es sich in der Tat um gestreutes Sonnenlicht handelt – und das spräche für eine Streuung an Staub in der Kordylewskischen Wolke.Gut, aber wie schauen die Gegenproben aus? Diese sind im nächsten Bild dargestellt:
Links die Aufnahmen für einen abwesenden L5 (daher in Gänsefüßchen). Der Polarisationsgrad fällt nicht in den erwarteten Bereich von 10°-20°, alles ist weiß. Auch die Richtung der geringen vorhandenen Polarisation passt nicht zur Einfallsrichtung des Sonnenlichts, das polarisierte Licht muss aus anderer Quelle stammen. In der Mitte die Zirrusbewölkung, die ebenfalls keine signifikante Polarisation im fraglichen Prozentbereich zeigt und deren Richtung überhaupt nicht zum einfallenden Sonnenlicht passt. Und schließlich Kondensstreifen, die ein gänzlich anderes Muster und variierende Polarisationsrichtungen verursachen.In der Tat gleichen nur die Aufnahmen im ersten Bild dem, was man für die Kordylewskischen Wolken erwarten würde. Lichtverschmutzung oder polarisiertes Licht vom Zodiaklicht im Hintergrund schließen die Autoren ebenfalls aus; ersteres, weil sie von einem Ort fernab jeder Lichtverschmutzung beobachteten und sich die mutmaßliche L5-Wolke nur dann zeigte, wenn der L5 auch im Blickfeld der Kamera lag, und letzteres, weil das Tierkreislicht eine andere Struktur zeigt. Ziemlich klare Sache.
Wir sehen was, was Du nicht siehst!
Wie ist es zu erklären, dass die Kordylewskischen Wolken hier eindeutig nachgewiesen scheinen, während etwa die Mondsonde Hiten nichts von ihnen bemerkt haben will? Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Wolken nicht stabil sind, sondern im Sonnenwind und durch gravitative Störungen mal zerfranst und mal ganz aufgelöst werden, um sich später wieder mit eingefangenem Staub zu füllen. Auch auf den Bildern erkennt man, dass die L5-Wolke offenbar kein kompakt zusammenhängendes Gebilde ist.
Das Autorenteam hat in einer weiteren 2018 erschienen Arbeit [5] Simulationen durchgeführt, um die Dynamik von Staub in der Nähe der Mond-L4-/L5-Punkte zu untersuchen und fand, dass die Wolken aus mehreren Komponenten bestehen, deren Teilchendichte zeitlich variiert (siehe folgendes Bild). Die Wolken bewegen sich in der Simulation um die L4-/L-5-Punkte herum. Vielleicht flog Hiten durch eine Lücke in der Wolke, oder diese hatte sich temporär aufgelöst.
Für visuelle (Nicht-)Nachweise gilt, dass der Staub in den Wolken dann besonders hell für das bloße Auge ist, wenn die Wolken sich am Himmel gegenüber der Sonne befinden, denn die Streuung ist in 180°-Richtung zum einfallenden Licht (nach der Vorwärtsstreuung bei 0° im Gegenlicht) am größten – bei anderen Phasenwinkeln sind sie nur fotografisch erfassbar. Allerdings ist dort auch der Gegenschein des Tierkreises am hellsten, so dass eine Verwechslung oder Überstrahlung möglich ist. Das Licht der Wolken ist dort unpolarisiert. Bei 90° Phasenwinkel ist die Polarisation des gestreuten Lichts hingegen maximal, sie sind am leichtesten polarimetrisch nachweisbar und gut von anderen Quellen abzugrenzen, aber visuell kaum nachzuweisen.Wie im nächsten Bild zu sehen, einem Mosaik aus mehreren Aufnahmen, ist die L5-Wolke recht groß, sie misst mindestens 10°×15° (20×30 Monddurchmesser) oder in Mondentfernung etwa 70.000×100.000 km.
Damit wäre nun also die Kordylewskische Wolke im L5 des Erde-Mond-Systems nachgewiesen. Interessant wäre nun noch der Nachweis der L4-Wolke. Die Arbeit sollte ein Ansporn für gut ausgerüstete Amateure sein, diese aufzuspüren, denn es gibt viele Hobbyastronomen mit ähnlich ausgezeichnetem Equipment, die damit zum Teil Reisen in abgelegene Gegenden mit optimalen Sichtbedingungen unternehmen, von der Caldera des Teide-Vulkans auf Teneriffa bis in die Wüste Namib im Süden Afrikas. Jedenfalls Hut ab vor der Leistung des ungarischen Teams.
Und wen interessiert’s?
Warum sind die Kordylewskischen Wolken interessant? Abgesehen von der Herausforderung, solch geisterhaft flüchtige Objekte am Himmel nachzuweisen dürfte es für zukünftige Raumfahrtprojekte wichtig sein zu wissen, ob die Staubteilchen in den Wolken ein Problem für zukünftige Missionen jenseits der Mondbahn sein könnten. Und schließlich ist es interessant zu wissen, dass die Erde mehr als nur den einen Mond hat.
Referenzen
[1] Judit Slìz-Balogh, Andràs Barta und Gàbor Horvàth, “Celestial mechanics and polarization optics of the Kordylewski dust cloud in the Earth–Moon Lagrange point L5 – Part II. Imaging polarimetric observation: new evidence for the existence of Kordylewski dust cloud“, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 482, S. 762–770 (2019) (Advance Access publication 2018 October 2).
[2] Andrew Fazekas, “Die Erde hat zwei versteckte ‘Staubmonde’“, National Geographic, 8. November 2018.
[3] “Kordylewskische Wolken“, de.wikipedia.org.
[4] “Kordylewski cloud“, en.wikipedia.org.
[5] Judit Slìz-Balogh, Andràs Barta und Gàbor Horvàth, “Celestial mechanics and polarization optics of the Kordylewski dust cloud in the Earth–Moon Lagrange point L5 – I. Three-dimensional celestial mechanical modelling of dust cloud formation“, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 480, S. 5550–5559 (2018).
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