Tja. Kaum dass mein Artikel über die jüngste MUSE-Messung der “Galaxie ohne Dunkle Materie” NGC 1052-DF2 hier im Blog erschien, da kamen von Pieter van Dokkums Team, das die ursprüngliche Arbeit zu DF2 veröffentlicht hatte, gleich zwei neue Arbeiten. Zum Einen haben sie sich DF2 noch einmal vorgeknöpft, und zwar mit der gleichen Methode, wie das MUSE-Team, aber am Keck-Riesenteleskop auf Hawaii mit dem neuen Keck Cosmic Web Imager. Und dann fanden sie DF4. Da komme ich natürlich nicht umhin, diese Seite auch noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Das Thema lässt uns nicht los.
Ein messerscharfer integrierter Feldspektrograph
Auf Hawaiis höchstem Berg, dem Mauna Kea, stehen die beiden benachbarten Keck-Teleskope, die mit ihren 10-m Segmentspiegeln gleich nach dem Gran Telescopio Canarias gemeinsam an zweiter Stelle der Liste der größten Teleskope der Welt stehen. Im Januar 2017 erhielt Keck-II ein nagelneues Instrument, den Keck Cosmic Web Imager (KCWI), einen integralen Feldspektrographen wie MUSE: er kann gleichzeitig zahlreiche Spektren in einem ausgedehnten Blickfeld aufnehmen, beispielsweise dem Ausschnitt einer Galaxie. Seinen Namen erhielt KCWI, weil damit die Rotverschiebung fernster Galaxien zu deren Entfernungsbestimmung gemessen werden soll, um so das kosmische Gespinst aus Galaxien und Voids auszuloten. Er ermöglicht die Messung sehr lichtschwacher Objekte bei hoher Auflösung des Spektrums, d.h er vermag nahe beieinander liegende Lichtfrequenzen noch zu trennen.
Die spektrale Auflösung eines Spektrographen wird durch den Parameter R angegeben, der das Verhältnis der Lichtwellenlänge zur kleinstmöglich noch trennbaren Differenz der Wellenlängen angibt. R=1000 für 500 nm sagt beispielsweise, dass bei türkisfarbenem Licht von 500 nm Wellenlängendifferenzen von 500/1000 = 0,5 nm noch getrennt werden können. Für rotes Licht von 800 nm wären 0,5 nm dann R=1600 – die spektrale Auflösung ändert sich mit der Wellenlänge. R ist wichtig, weil es angibt, mit welcher Genauigkeit sich Radialgeschwindigkeiten messen lassen. R=10.000 bedeutet z.B., dass man Geschwindigkeiten von 1/10.000 der Lichtgeschwindigkeit auflösen kann, das wären 30 km/s. Bei einem rotierenden Objekt wie einer Galaxie, bei dem die eine Hälfte sich dem Beobachter nähert und die andere sich entfernt, kann man theoretisch noch halb so große Rotationsgeschwindigkeiten messen, denn die Differenz der Geschwindigkeiten auf beiden Seiten ist doppelt so groß wie die Rotationsgeschwindigkeit selbst. In der Praxis ist die Rechnung etwas komplizierter, R=10.000 bedeutet nicht, dass man exakt 15 km/s messen kann, sondern es handelt sich hierbei um den mittleren Messfehler, der mit der tatsächlichen Dispersion (Streuung) der Sterngeschwindigkeiten kombiniert werden muss, um die beobachtete Linienverbreiterung zu ergeben (Fehlerrechnung).
Das MUSE-Instrument hat R-Werte von 1770 (480 nm) bis 3590 (930 nm). KCWI erreicht hingegen je nach Lichtwellenlänge und verwendetem Gitter R-Werte bis über 20.000. Deswegen, so hat van Dokkums Team dem Blogger Ethan Siegel erzählt, hätten sie nicht MUSE, sondern KCWI verwendet. Die Autoren haben an zur Kalibrierung des Geräts verwendeten Lichtquellen Auflösungen von R=9.100 bei 480 nm und R=11.600 bei 530 nm gemessen. Während MUSE nur 35 bis 85 km/s genau misst, konnten die Autoren Geschwindigkeiten mit einer Genauigkeit von 11 bis 14 km/s messen. Durch Kombination vieler Messungen kann der Fehler auf ein paar hundert m/s verkleinert werden. Das klingt jetzt ein wenig dünn im Vergleich zu den bei der Planetensuche verwendeten Spektrographen wie HARPS mit einer Genauigkeit 0,3 m/s (!), aber mit HARPS misst man sehr helle Objekte, man hat Licht genug, das Spektrum weit auseinander zu ziehen, während MUSE und KCWI von ihren Zielobjekten beinahe jedes Photon persönlich mit Handschlag begrüßen können.
Die Außenseiterin
Mit der höheren Genauigkeit von KCWI haben Shany Danieli, Pieter van Dokkum et al. [1] etwas andere Ergebnisse als Emsellem et al. erzielt:
Hätte die Galaxie einen gewöhnlichen Anteil an Dunkler Materie in einem umgebenden Halo mit NFW-Verteilung, dann sollte die Geschwindigkeit zwischen ca. 30 und 40 km/s liegen (grauer Balken rechts). Tatsächlich sieht es jedoch so aus, als sei fast keine Dunkle Materie vorhanden.
Stellt man NGC 1052-DF2 den Zwerggalaxien der lokalen Gruppe gegenüber, und zwar in Masse, Durchmesser und Geschwindigkeitsstreuung, dann sieht man, wie ungewöhnlich die Galaxie ist – sie liegt weit abseits “von Gut und Böse” an der theoretischen Linie, wo Galaxien keine Dunkle Materie enthalten sollten. Viel leuchtende Masse, großer Durchmesser, aber geringe Geschwindigkeiten der Sterne.
Ein Doppelgänger kommt selten allein
Schon in der ursprünglichen Arbeit fragten sie sich, ob es noch mehr solche Galaxien gibt – und nun fanden sie eine gleiche nebenan! Die ultra-diffuse Galaxie (UDG) NGC 1052-DF4 (ebenso wie DF2 nach dem Dragonfly-Teleobjektiv-Array benannt, mit dem das Team die Galaxie aufgespürt hat) liegt in der gleichen Galaxiengruppe, dem Winkelabstand nach etwa doppelt so weit von NGC 1052 entfernt wie DF2 in der Gegenrichtung liegend (siehe Artikelbild, rund 170 kpc = 550.000 LJ in der Projektion). DF4 ist etwa so groß wie DF2 (Halbwertsradius 5200 LJ vs. 7700 bei DF2) und hat eine vergleichbare Helligkeit (23,7m/Bogensekunde² vs. 24,4m) und Farbe (= Alter der Sterne, ca. 11 Milliarden Jahre). Sie hat etwa 77 Millionen Sonnenleuchtkräfte (vs. 100 Millionen). Die reine Sternenmasse dürfte daher bei 150 Millionen Sonnenmassen liegen (vs. 200 Millionen bei DF2).
Das van-Dokkum-Team [2] maß auch hier mit dem Keck-Teleskop die Geschwindigkeitsdispersion, allerdings nicht mit KCWI am Keck-II, sondern mit dem Low Resolution Imaging Spectrometer LRIS (R=300-5000) am Keck-I – man muss ja auch zuerst einmal Beobachtungszeit am entsprechenden Teleskop bekommen und LRIS ist für die hochauflösende Spektroskopie an lichtschwachen Objekten trotz seines anderslautenden Namens das am besten geeignete Instrument am Keck-I. Das Team identifizierte 7 Kugelsternhaufen von DF4 und maß deren Geschwindigkeiten.
Wie das Bild oben links zeigt, sind die Radialgeschwindigkeiten (also diejenigen auf den Beobachter zu oder von ihm weg; nur diese kann man im Spektrum messen) sehr klein; kleiner noch als bei DF2, wie im letzten Jahr gemessen. Man beachte die kleineren Fehlerbalken bei DF4. Aus den wenigen Datenpunkten wurde dann auf zwei Weisen eine statistische Verteilung für die Wahrscheinlichkeit der räumlichen Geschwindigkeitsstreuung ermittelt (man sieht ja nur die radiale Komponente der Bewegung, nicht die in der Himmelsebene), deren Maxima nahe beieinander liegen. Ein kleiner Unterschied verbleibt, weil 7 Datenpunkte eine recht karge Statistik sind. Die wahrscheinlichsten Werte an der Spitze der Kurven sind 3,8 bzw. 4,2 km/s. Der theoretische Wert für eine Galaxie nur mit Sternen der entsprechenden leuchtenden Masse liegt mit 7,3±1,9 km/s (senkrechte gestrichelte Linie) sogar noch höher, aber man darf nicht vergessen, dass es sich hier um statistische Ergebnisse handelt. Mit 95% Wahrscheinlichkeit liegt die tatsächliche Geschwindigkeitsdispersion niedriger als 10,4 km/s. Ein normal großer NFW-Halo für diese leuchtende Masse würde hingegen eine Geschwindigkeitsdispersion von rund 30 km/s erwarten lassen. Die Autoren drücken es vorsichtig aus: die Hypothese, dass die Galaxie keinerlei Dunkle Materie enthält, ist durch die Daten nicht widerlegt. Oder anders gesagt, es sieht so aus, als sei diese Galaxie wirklich komplett ohne Dunkle Materie.
Rätselhafter Ursprung
Damit ist die Schlussfolgerung einiger Kritiker, die behaupteten, die Kugelsternhaufen von DF2 bewegten sich in einer Ebene und nur weil man diese zufällig von steil oben betrachte erschienen die Radialgeschwindigkeiten sehr klein, unwahrscheinlicher geworden, denn nun müsste diese Annahme zufällig gleich für zwei weit voneinander entfernte, unabhängige Galaxien zutreffen, was viel unwahrscheinlicher ist als in nur einem Fall.
Eine Möglichkeit, solche Dunkle-Materie-armen Galaxien zu bilden, wäre eine Interaktion einer gasreichen Galaxie mit einer sie nahe passierenden zweiten Galaxie, so dass durch Gezeitenkräfte ein Teil des Gases aus der ersten Galaxie herausgerissen würde, jedoch nur wenig Dunkle Materie (dann wären sie sogenannte “Gezeitenzwerge”). Dann sollten sich aber schon in der Ursprungsgalaxie entstandene und von Supernovae freigesetzte schwere Elemente im Licht der Sterne wiederfinden, und das tun sie nicht. Man sieht hier auch keine anderen Überreste einer Interaktion, wie man dies von anderen Gezeitenzwergen kennt. Die Autoren mutmaßen, dass die ungewöhnlich großen und hellen Kugelsternhaufen beider Galaxien irgendetwas mit deren Ursprung zu tun haben könnten. Beide Galaxien haben zusammen 18 bestätigte Kugelsternhaufen heller als -8,5m absoluter Helligkeit – die 100mal schwerere Milchstraße hat deren nur 18. Die Kugelsternhaufen tragen ganze 3% zur Gesamthelligkeit des Gesamtsystems bei, und die beiden äußersten der 7 betrachteten Kugelsternhaufen von DF4 alleine 70% der Gesamthelligkeit außerhalb von 15.000 LJ Radius! Das ist ziemlich ungewöhnlich.
Und was ist mit MOND?
Zu Modifizierter Newtonscher Dynamik MOND äußert sich van Dokkum diesmal ausdrücklich nicht, in keiner der beiden Arbeiten. Van Dokkum sah in der Abwesenheit Dunkler Materie in DF2 in seiner Arbeit vom letzten März einen Beleg dafür, dass sie ein separater Stoff sei, der unabhängig von der Sternenmasse existieren und daher auch fehlen kann – warum auch immer. Einige MOND-Anhänger sehen in den geringen, rein Newtonschen Geschwindigkeiten von DF2 und DF4 hingegen einen Beleg für MOND, weil der externe Feldeffekt durch die benachbarte Galaxie NGC 1052 MOND hier unwirksam mache und daher das “MO” von MOND wegfalle – eben reine Newtonsche Dynamik. DF4 liegt mit mindestens 550.000 LJ viel weiter von NGC 1052 entfernt als DF2 (260.000 LJ), hat aber in der kleineren NGC 1035 eine möglicherweise nur 75.000 LJ entfernte Nachbarin (siehe Artikelbild) – so genau weiß man das jedoch nicht, weil die genauen Entfernungen in der Tiefe des Raums nicht bekannt sind. Beide Galaxien bewegen sich zumindest mit recht unterschiedlichen Radialgeschwindigkeiten, gehören daher offenbar nicht zusammen und sind (wenn überhaupt) nur gerade zufällig benachbart, wenn dies etwas zu sagen hat (der externe Feldeffekt wäre damit nur temporär wirksam, das müsste die Dynamik der Galaxie ziemlich durcheinander bringen).
So kann jede Seite hier einen Punkt für sich reklamieren – man beachte die argumentatorische Ironie: DM belegt, weil sie hier fehlt und MOND belegt, weil sie hier nicht wirkt! – und der letztendliche Gegenbeweis gegen MOND ist in diesem Galaxienhaufen wohl nicht geführt. Aber vielleicht in Carina und Draco?
Referenzen
[1] Shany Danieli, Pieter van Dokkum et al., “Still Missing Dark Matter: KCWI High-Resolution Stellar Kinematics of NGC1052-DF2”, eingereicht bei Astrophysical Journal Letters, 11. Januar 2019; Preprint arXiv:1901.03711.
[2] Pieter van Dokkum, Shany Danieli et al., “A second galaxy missing dark matter in the NGC1052 group”, eingereicht bei Astrophysical Journal Letters, 17. Januar 2019; Preprint arXiv:1901.05973.
[3] Rebecca Boyle, “Ghostly Galaxies Hint at Dark Matter Breakthrough“, Scientific American, 25.01.2019.
[4] Tomer Yavetz, “Where Did All the Dark Matter Go?“, Astrobites, 30.01.2019.
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