Im ersten Teil des Artikels über Boltzmann-Hirne habe ich erläutert, was ein Boltzmann-Hirn ist und warum das Standardmodell der Kosmologie scheinbar erzwingt, dass der Leser fast sicher ein Boltzmann-Hirn sein muss. Man könnte die ganze Sache als Spinnerei abtun, aber das ist sie nicht. Wie Sean Carroll in [1] schreibt, sind Boltzmann-Hirne in einem von Dunkler Energie dominierten Universum die kleinste mögliche Abweichung vom thermodynamischen Gleichgewicht, die konsistent mit der nach René Descartes einzig sicheren Beobachtung ist, dass es mindestens einen intelligenten Beobachter gibt, nämlich den Leser (“Ich denke, also bin ich”). Tatsächlich liefert die Betrachtung von Boltzmann-Hirnen überraschend tiefe Einblicke in das Schicksal des Universums.
Wie baut man ein Boltzmann-Hirn?
Die plausible Entstehung im thermodynamischen Gleichgewicht kann man sich ungefähr so vorstellen: wie wir in meinem Artikel über die Expansion des Universums gelernt haben, hat ein Universum mit dominanter Dunkler Energie (de-Sitter-Universum; unser Universum strebt mit weiterem Wachstum und damit einher gehender Verdünnung der Materie diesem Zustand entgegen) einen Ereignishorizont, jenseits dessen alles kausal getrennt von uns ist. Auch Schwarze Löcher haben bekanntlich einen Ereignishorizont, für den Stephen Hawking gezeigt hat, dass er eine thermische Strahlung, die Hawking-Strahlung aussendet. Weniger bekannt ist, dass Hawking zusammen mit Gary Gibbons 1977 gezeigt hat, dass jeder kausale Horizont, insbesondere der eines de-Sitter-Raums ebenfalls Hawking-Strahlung erzeugt (wir reden hier von einer Temperatur des Strahlungshintergrundes von ca. 10-29 K). Wir erhalten also in einem Universum mit dominant Dunkler Energie eine ewige Quelle von Photonen und eventuell auch Gravitonen, wenn es sie gibt. Stoßen zwei Photonen oder Gravitonen mit hinreichend hoher Energie zusammen, können aus ihnen durch Paarerzeugung massebehaftete Elementarteilchen wie Quarks und Elektronen entstehen, wobei sich Quarks stets zu zusammengesetzten Teilchen zusammenfinden, z.B. Protonen und Neutronen. Somit ist potenzielles Baumaterial gesichert.
In einem Universum im thermodynamischen Gleichgewicht ohne Entropiegefälle sind alle Prozesse zeitlich symmetrisch, d.h. die Entstehung eines Boltzmann-Hirns wäre der zeitlich umgekehrte Prozess seines Zerfalls, der als schnelles Einfrieren nach kurzer Aktivität gefolgt von einem allmählichen Auseinanderfallen vor sich gehen würde. Bei der Entstehung würden die Teilchen sich demnach allmählich zufällig zusammenfinden und eine Struktur bilden. “Nukleation” oder “Keimbildung” nennt sich dieser Prozess, der durchaus sehr lange dauern kann und mit einer kurzen Aufheiz- und Aktivitätsphase beendet würde, in welcher Denk- und Wahrnehmungsvorgänge möglich wären.
Natürlich könnte und würde die Nukleation auch und meistens zur Entstehung allen möglichen anderen Zeugs führen, aber eben gelegentlich auch zu einem Bewusstsein, die minimale Anforderung dafür, welche die Descartsche Beobachtung erfüllt. Und nach dem anthropischen Prinzip können wir uns nur in einem solchen Boltzmann-Bewusstsein wiederfinden, nicht in der Boltzmann-Entsprechung eines Ameisenhirns (genau deswegen sind wir auch Menschen, obwohl es viel mehr Ameisen als Menschen gibt und die Statistik dagegen spricht).
Das Hirn in den Sand stecken?
Die meisten Physiker lehnen die Auseinandersetzung mit Boltzmann-Hirnen kategorisch ab. Zum Einen, weil ihre Existenz nicht empirisch bestimmbar ist und damit außerhalb des naturwissenschaftlich erkundbaren Horizonts liegt. Was man nicht messen kann, hat keinen Einfluss auf uns und kann daher getrost ignoriert werden. Manche vertreten die Ansicht, eine Physik die die Existenz von Boltzmann-Hirnen vorhersagt, müsse intrinsisch fehlerhaft sein. Man könnte auch argumentieren, so ein Hirn hätte ja keinen Körper und keine Sauerstoffversorgung und sei gar nicht lange genug lebensfähig. Aber wer sagt, dass ein menschliches Gehirn die einzige Möglichkeit ist, ein Bewusstsein hervorzubringen? Das Boltzmann Hirn wird wohl eher keines aus “Fleisch und Blut” sein, sondern irgendeine minimale organisierte Struktur, die des Denkens fähig ist – ein möglicher Kritikansatz, das so ein Gehirn einen Blutkreislauf mit Sauerstoff bräuchte, geht damit ins Leere.
Zum Anderen werden Boltzmann-Hirne abgelehnt, weil sie in einen logischen Widerspruch führen: Aufgrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse können wir darauf schließen, dass wir Boltzmann-Hirne sein müssten. Als Boltzmann-Hirn wissen wir aber nichts Wirkliches über die Natur, wir wären nur ein Zufallsprodukt mit zufälligem Gedächtnisinhalt in einem leeren Raum. Damit wären aber zugleich alle von uns geglaubten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Makulatur und damit fiele die physikalische Grundlage weg, aus der wir überhaupt auf unsere Boltzmann-Existenz geschlossen haben. Sean Carroll nennt dies “Kognitive Instabilität” und dies sei Grund genug, Universen mit Boltzmann-Hirnen abzulehnen.
Mögliche Auswege
Nun möchte niemand ein Boltzmann-Hirn sein. Es ist leider vollkommen unmöglich, mit absoluter Sicherheit auszuschließen dass man eines ist, denn alles, was man denkt und wahrnimmt, ist so oder so nur ein Produkt des eigenen Hirns, das genau so gut von einem Boltzmann-Hirn geliefert werden könnte. Aber man kann zumindest Auswege suchen, unter denen es möglich und plausibel wäre, dass man keines ist. Sean Carrolls oben erwähnte “Kognitive Instabilität” gibt uns zwar einen guten Grund anzunehmen, warum wir keine Boltzmann-Hirne sind, aber keine physikalisch motivierte Ursache dafür. Schauen wir uns also an, welche Auswege physikalisch denkbar wären.
Wodurch haben wir uns die Boltzmann-Suppe überhaupt eingebrockt? Durch folgende Annahmen: 1) Das Universum existiert ewig, 2) über die gesamte Existenz des Universums gilt dieselbe Physik wie heute, welche Nukleation von Teilchen und zusammenhängenden Strukturen ermöglicht und 3) die Raumzeit*, in der die Entropie ansteigt, ist beschränkt. Die erste Annahme führt zusammen mit der zweiten zur unendlichen Zahl von Boltzmann-Hirnen, die dritte zur endlichen Zahl von biologischen Hirnen.
Dies bietet grundsätzlich zwei Lösungsansätze, um die Boltzmänner (und -frauen?) kurz zu halten. Entweder muss man die Zahl entstehender Boltzmann-Hirne nach oben deckeln – durch eine raumzeitliche Beschränkung des Universums insgesamt, um 1) auszuhebeln, oder zumindest eine Zeitbeschränkung der heute gültigen Physik, um 2) zu entkräften – oder man muss die Zahl entstehender biologischer Hirne gegen unendlich streben lassen, und zwar so, dass sie die der Boltzmann-Hirne bei weitem übertrifft.
Alles hat ein Ende…
Zunächst zum zeitlichen Deckel: Könnte die Lebensdauer des Universums wider Erwarten doch endlich sein? Derzeit sieht es zwar nicht so aus, als ob das Universum irgendwann wieder schrumpfen könnte und in einem “Big Crunch” untergehen, aber wir haben den Mechanismus der Dunklen Energie noch nicht verstanden und deshalb wäre es voreilig, Aussagen über die nächsten 101050 Jahre machen zu wollen. Es wäre denkbar, dass die Dunkle Energie nicht einfach die kosmologische Konstante des aktuell favorisierten ΛCDM-Modell ist, die überall gleich groß ist. Vielleicht hat sie ihren Wert nur lokal im beobachtbaren Universum und ist in größerem Maßstab kleiner oder zeitlich variabel, und irgendwann schrumpft das Universum dann insgesamt wieder und endet in einem großen Kollaps, dem “Big Crunch”, der dann möglicherweise der nächste “Big Bang” wäre, wenn aus ihm das nächste Universum geboren würde usw. (zyklisches Universum; Bild).
Eine weitere Variante bietet das “ekpyrotische Universum” (ex pyros = “aus dem Feuer [geboren]” )das unser Universum in einem höherdimensionalen Raum wie den der Stringtheorie befindlich annimmt, welches regelmäßig mit einem vielleicht gar nur Zentimeter entfernten Nachbaruniversum kollidiert. Man stelle sich zwei riesige Platten vor, die parallel nebeneinander schweben und sich zyklisch voneinander weg und wieder aufeinander zu bewegen, bis sie kollidieren, wobei es zu einem neuen Urknall mit niedriger Anfangsentropie kommt (Bild). In der Realität passierte dies nur eine Dimension höher, zwei Hyperflächen (eine davon unser dreidimensionaler Raum, die andere ein anderes Universum) bewegen sich im mindestens 4-dimensionalen Raum und kollidieren in ihren gesamten 3D-Volumina, wodurch ihr gesamter Inhalt ausgelöscht würde und was sie wieder mit Strahlung füllte. Damit würde quasi regelmäßig die Uhr zurück zum Anfang gesetzt und das Weltall würde nie den Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts erreichen.
Zugegeben gibt es weder für ein irgendwann wieder kollabierendes, noch für ein ekpyrotisches Universum irgendwelche Beobachtungshinweise. Ihr einziger nennenswerter Vorteil ist derjenige, dass zyklisches und ekpyrotisches Universum eine zur Inflationstheorie (siehe unten) alternative Erklärungen dafür bieten, warum die Temperatur der Hintergrundstrahlung überall am Himmel ein- und dieselbe ist, auch für Orte, die soweit entfernt voneinander sind, dass sie nie in kausalem Kontakt waren und somit niemals Strahlung zum Temperaturausgleich austauschen konnten. In einem immer wieder kollidierenden Universum besteht zwischen den Kollisionen jedoch genug Zeit zum globalen Temperaturausgleich.
Die ultimativen Katastrophen
Um Voraussetzung 2) auszuhebeln, müsste sich die Physik in endlicher Zeit so grundlegend ändern, dass die Nukleation von Boltzmann-Hirnen oder zusammengesetzten Objekten unmöglich werden würde. Eine Möglichkeit wäre ein Big Rip (Bild), eine zunehmend beschleunigte Expansion durch immer weiter steigende Dunkle Energie, die am Ende alles bis zum Elementarteilchen zerreissen würde. Damit würde es schließlich auch unmöglich, dass Teilchen sich zu Strukturen zusammenfinden könnten; sie würden zu schnell auseinander getrieben und kausal entkoppelt. Damit könnte kein Boltzmann-Hirn allmählich nukleieren.
Es gibt ja bereits Hinweise darauf, dass die Dunkle Energie angestiegen sein könnte, wobei aber noch nicht auszuschließen ist, dass die Diskrepanz zwischen der im lokalen Universum und im Urknall gemessenen Hubble-Konstante H0 auf einen systematischen Fehler bei der Entfernungsbestimmung zurückgehen könnte. Aber immerhin haben wir zur Stützung dieser Hypothese mehr Daten als für die zeitliche Deckelung der Lebensdauer des Universums.
Die derzeit plausibelste Variante wäre jedoch ein Vakuumzerfall. Nach der kosmologischen Inflationstheorie begann das Universum nach einer kurzen Periode des Temperaturausgleichs mit einer Phase extrem schneller, exponentieller “inflationärer” Expansion, in der es sich alle 10-35 s im Durchmesser verdoppelte. Das brauchte es nur einhundert Mal zu tun, dann wäre es nach 10-33 s um einen Faktor 2100 = 1,3·1030 angewachsen. Das bedeutet, dass binnen dieser kurzen, gar nicht sinnvoll zu irgendetwas in Perspektive zu setzenden Zeit der Durchmesser eines Wasserstoffatoms (in der Größenordnung von 0,1 nm) auf 10.000 Lichtjahre angewachsen wäre (ungefähr halbe Strecke von hier bis zum Milchstraßenzentrum). Als Ursache für die Expansion könnte nach der Allgemeinen Relativitätstheorie eine Vakuumenergie gedient haben, im Prinzip ähnlich zur Dunklen Energie, nur sehr viel größer.
Wenn das Vakuum intrinsisch eine Energie beinhaltet, gespeichert in einem “Inflatonfeld” genannten Kraftfeld, welches den gesamten Raum erfüllt, und es in der Potenzialkurve des Inflatonfelds Zonen gibt, deren Energieniveau tiefer liegt, dann spricht man von einem “falschen Vakuum” – das “echte Vakuum” liegt hingegen an der tiefsten Stelle der Potenzialkurve (siehe Bild unten). Beim Inflatonfeld könnte es sich um ein dem Higgs-Feld ähnliches Skalarfeld handeln, das in unserem Universum den Teilchen ihre Masse vermittelt. Die kosmische Inflation soll damit geendet haben, dass das Inflatonfeld auf einen Zustand niedrigerer Energie fiel und dabei ein neues stabiles Minimum erreichte. Die überschüssige Vakuumenergie materialisierte als Strahlung, aus der später die Materie entstand. Der Ort des Energieminimums bestimmte die physikalischen Eigenschaften unseres Universums und legte die Naturkonstanten fest, und zwar zufällig genau so, dass Materie überhaupt entstehen konnte. Möglicherweise gibt es viele Minima, in denen der Zustand des Inflatonfelds hätte enden können, und die meisten davon hätten niemals zur Entstehung von Teilchen oder Strukturen wie in unserem Universum geführt. In solchen Universen gäbe es uns jedoch nicht als Beobachter und deswegen finden wir uns zwingend in einem solchen wieder, das unsere Existenz ermöglicht (schwaches anthropisches Prinzip).
Die Dunkle Energie als mögliche Folge einer Vakuumenergiedichte deutet darauf hin, dass der derzeitige Energiegehalt des Vakuums noch weiter fallen könnte. Wir leben demnach immer noch in einem falschen Vakuum. Wenn das Higgs-Feld irgendetwas mit der Inflation zu tun hatte, dann ist es nachvollziehbar, dass die Masse des Higgs-Teilchens (einer Anregung des Higgs-Felds) Rückschlüsse auf die Stabilität des Vakuums erlaubt. Aus den Massen des Top-Quarks und des Higgs-Teilchens folgt, dass wir uns in einem metastabilen Vakuumzustand befinden, d.h. er ist nicht für ewig stabil, sondern wird nach einer gewissen Zeit in der Größenordnung mehrerer zehn Milliarden Jahre wieder auf einen neuen Zustand noch niedrigerer Energie fallen. Im folgenden Vakuum wären die Karten dann neu gemischt, die Naturgesetze gänzlich andere und die Existenz von Teilchen und erst recht denkender Strukturen höchstwahrscheinlich ausgeschlossen (das gilt dann übrigens auch für den gesamten Inhalt des vorherigen Universums, der abgeräumt würde), wenn man davon ausgeht, dass die Naturkonstanten dafür einigermaßen aufeinander abgestimmt sein müssen.
Damit wäre die Kuh vom Eis bzw. das Boltzmann-Hirn vom Tisch, denn einige 10 Milliarden Jahre sind zu kurz, um auch nur annähernd ein Boltzmann-Hirn hervorzubringen. Allerdings ungemütlich nahe am bisherigen Lebensalter des Universums. Es wäre allerdings verfrüht, wegen des Vakuumzerfalls in Panik zu verfallen, denn erstens sind die Daten noch viel zu dünn, aufgrund derer auf diese Größenordnung geschlossen wurde, zweitens ist der Spielraum groß genug, dass der Zerfall auch erst nach ein paar weiteren Weltaltern stattfinden könnte und drittens kann die ganz zugrunde liegende Hypothese schlicht falsch sein und es hat weder die kosmologische Inflation stattgefunden, noch zerfällt je das Vakuum.
Aber immerhin ist der Vakuumzerfall ein plausibler Ausweg dafür, kein Boltzmann-Hirn zu sein!
Das Wettrennen der Hirne
Damit kommen wir zur oben erwähnten Voraussetzung 3): gibt es eine Möglichkeit, die Zahl der biologischen Hirne gegen unendlich wachsen zu lassen?
Die gibt es tatsächlich. Gerade habe ich erklärt, dass bei der Inflation das Vakuum auf einen niedrigeren Energiezustand fiel, der die dramatische Expansion beendete. In den meisten Varianten der Inflationstheorie wird dieser Vorgang durch den Tunneleffekt erklärt (ähnlich dem radioaktiven Zerfall, der durch das quantenmechanische Tunneln von Bestandteilen des Atomkerns durch eine Potenzialbarriere verursacht wird). Der Tunneleffekt ist aber ein statistisch zufälliger, gedächtnisloser Vorgang, der mit einer gewissen Verteilung der Wartezeit eintritt. Gedächtnislos heißt hierbei, dass bereits vergangene Wartezeit keinen Rückschluss auf die noch folgende erlaubt. Ein Beispiel für einen anderen gedächtnislosen Prozess sind die Ankünfte von Kunden an einer Ladentheke; wann der letzte Kunde eingetroffen ist, erlaubt keinerlei Rückschluss darauf, wann der nächste folgen wird, selbst wenn man die Ankunftsrate in Personen pro Stunde kennt, weil die aufeinanderfolgende Kunden gar nichts miteinander zu tun haben.
Da die kosmologische Inflation schon auf kurzen Entfernungen von weniger als einem Protonendurchmesser den kausalen Zusammenhang benachbarter Raumregionen zerstört, weil sie sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernen (der Ereignishorizont ist entsprechend winzig), gibt es keine Möglichkeit, dass die Inflation überall gleichzeitig endet, sondern sie endet stets lokal und bildet eine mit Lichtgeschwindigkeit wachsende Blase aus Vakuum geringerer Energie, aus der dann ein Universum wie das unsere wächst. Dessen Wachstum hält nun aber bei weitem nicht mit der Expansion des umgebenden inflationär wachsenden Raums mit, und so läuft die Inflation außerhalb der Blase ungehemmt weiter. Gedächtnislos, wie die Inflation ist, hat sie keine maximale Lebensdauer und wird niemals überall enden. Damit erzeugt die Inflation ein “Multiversum” unendlich vieler Blasenuniversen, und jedes davon macht eine Phase steigender Entropie durch, in der eine endliche Zahl von biologischen Hirnen entstehen können. Ergibt insgesamt eine unendliche Zahl von biologischen Hirnen.
Der Haken ist: jedes der Universen, das geeignet ist, endlich viele biologische Intelligenz hervorzubringen, bringt potenziell (wenn die vorherign Argumente nicht greifen) auch unendlich viele Boltzmann-Hirne hervor. Damit scheint zunächst nichts gewonnen. Wenn nun aber in einem solchen Universum nach hinreichend langer Zeit Universen spontan durch zufällige Fluktuationen der Vakuumenergie auf einen hohen Wert wie zur Zeit der Inflation entstünden, die sofort exponentiell wachsen würden und damit durch kausale Entkopplung dem Rückfall auf niedrige Vakuumenergie entgehen würden, dann würde jedes der Universen seinerseits für unendlich lange Zeiten unendlich viele Tochteruniversen hervorbringen, in welchen wieder biologische Intelligenz entstehen könnte und später dann Boltzmann-Hirne.
Um zu entscheiden, wie dieses Wettrennen zwischen biologischen und Boltzmann-Hirnen ausgeht, kommt es darauf an, welche Unendlichkeit mächtiger ist: die der neu entstehenden Universen mit jeweils einer beschränkten Zahl von biologischen Hirnen aber unendlichem Quell neuer Tochteruniversen oder die Zahl der Boltzmann-Hirne, die in einem Universum entstehen kann. Dies kann man sich wie folgt klar machen:
Man betrachte ein de-Sitter-Universum. In diesem entsteht in einem gewissen Zeitintervall durch Vakuumfluktuation eine bestimmte Zahl von Tochteruniversen, die biologische Intelligenz ermöglichen (“anthropische Universen”, von anthropos, der Mensch). Im gleichen Zeitraum entsteht eine bestimmte Zahl von Boltzmann-Hirnen – wir können hier sicherheitshalber davon ausgehen, dass es sehr viel mehr Boltzmann-Hirne als anthropische Universen sind – entscheidend ist nur, dass zu jeder gegebenen Zeit endlich viele Boltzmann-Hirne endlich vielen anthropischen Universen gegenüber stehen. In jedem der Tochteruniversen entstehen aber unendlich viele biologische Hirne und damit unendlich viele mehr, als Boltzmann-Hirne auf gleicher Ebene. Und in der Ebene darunter ist es genau so. Und in der folgenden Ebene wiederum, ad infinitum. Mathematisch sauber begründet wird diese Lösung des sogenannten Maßproblems der Kosmologie in [2] und [3].
Wir hätten dann also eine unendliche Regression von Universen, die dafür sorgt, dass die Zahl der Boltzmann-Hirne verschwindend klein gegenüber derjenigen der biologischen Hirne bleibt. Damit wäre die Wahrscheinlichkeit, sich als zufällig ausgewählter denkender Beobachter in einem Boltzmann-Hirn wieder zu finden, verschwindend klein.
Das Universum bleibt spannend
Somit gibt es also gute Gründe und Auswege, warum Du fast sicher kein Boltzmann-Hirn bist. Alle diese Möglichkeiten implizieren eine im ΛCDM-Modell nicht ohne Weiteres gegebene, teilweise dramatische Dynamik – entweder ist die Lebensdauer des Universums beschränkt ODER das Universum ändert sich irgendwann katastrophal ODER es gebiert neben Boltzmann-Hirnen immer wieder neue Universen durch eine Rekursion der ewigen Inflation, die damit quasi als Theorie gesetzt wäre. Sicher erscheint jedenfalls, dass das Universum nicht einfach in einen Zustand der Ereignislosigkeit fallen wird.
Ich finde es ziemlich erstaunlich, wie weitreichende Schlussfolgerungen über das Schicksal des Universums aus der vermeintlichen “Spinnerei” der Freak Observer folgen. Ein Grund dafür, warum sich einige Kosmologen ernsthaft mit dem Thema auseinander setzen.
Referenzen und weitere Texte
[1] Sean M. Carroll, “Why Boltzmann Brains Are Bad“, Walter Burke Institute for Theoretical Physics, California Institute of Technology, Pasadena, CA 91125, U.S.A., 6. Februar 2017; arXiv:1702.0085v1.
[2] Alexander Vilenkin, “Freak observers and the measure of the multiverse”, Journal of High Energy Physics, Volume 2007, JHEP01(2007), 26. Januar 2007; arXiv:hep-th/0611271v2.
[3] Andrea de Simone, Alan H. Guth, Andrei Linde, Alexander Vilenkin et al., “Boltzmann brains and the scale-factor cutoff measure of the multiverse”, Massachussetts Institute of Technology, 20. August 2010; arXiv:0808.3778v3.
[4] en.wikipedia.org, “Boltzmann brain“.
[5] Andrew Zimmermann Jones, “What Is the Boltzmann Brains Hypothesis?“, ThoughtCo., 25. Mai 2019.
[6] Joe Felsenstein, “Boltzmann Brains and evolution“, The Skeptical Zone, 19. Juni 2016.
[7] Sven Titz, “Entropie“, Welt der Physik, 23. Juli 2013.
[8] Sean Carroll, The Mindscape Podcast, “Episode 31: Brian Greene on the Multiverse, Inflation, and the String Theory Landscape”, Transscript, 28. Januar 2019.
[9] en.wikipedia.org, “Inflation (cosmology)“.
Kommentare (64)