Es ist der erste März 1954, ein Jahr nachdem die Sowjetunion ihre erste Wasserstoffbombe gezündet hat. Im Wettlauf der Supermächte testet die USA auf dem Bikini-Atoll ihre zweite, neuartige Wasserstoffbombe, die auf 6 Megatonnen TNT kalkuliert worden war. Tatsächlich entfaltet sie eine Sprengkraft von 15 MT und wird zur stärksten Nuklearexplosion der USA überhaupt – mit furchtbaren Folgen. Die Einwohner mehrerer Atolle und die Besatzung eines japanischen Fischerboots werden durch den Fallout schwer verstrahlt – was war schief gelaufen?
Der Startschuss zum nuklearen Wettlauf
Die Sowjetunion und die USA, ehemalige Alliierte im 2. Weltkrieg, befanden sich wenige Jahre nach dem Ende des Krieges im kalten Krieg. Aus Angst vor der Möglichkeit, dass das dritte Reich eine Atombombe entwickeln könnte, hatten die ungarisch-amerikanischen Physiker Leó Szilárd, Edward Teller und Eugene Wigner Einstein gedrängt, einen Brandbrief an Präsident Roosevelt zu unterschreiben, die Bombe als erste zu entwickeln, denn es waren deutsche Chemiker (Otto Hahn und Fritz Strassmann) und österreichische Physiker (Lise Meitner und Otto Frisch), die die Grundlagen der kontrollierten Kernspaltung entdeckt hatten. Und so brachte Roosevelt das Manhattan-Projekt auf den Weg, das binnen 3 Jahren den Kernreaktor, die Urananreicherung, die Produktion von Plutonium, den Zündmechanismus, die erste Testzündung Trinity im Juli 1945 und schließlich zwei Bombentypen hervorbrachte, die noch im August 1945 gegen Menschen eingesetzt wurden und Tod und Verwüstung über Hiroshima und Nagasaki brachten. Ein Schicksal, dass Deutschland nur deshalb erspart blieb, weil es bereits im Mai zuvor kapituliert hatte.
Die Sowjets, die seit 1942 ihr eigenes Atombombenprojekt ebenfalls aus Angst vor Hitlers Bombe verfolgten und dieses nach den Atombombeneinsätzen der Amerikaner forciert hatten, zogen bald nach und zündeten 1949 ihre erste Spaltungsbombe.
Während der Leiter des Manhattan-Projekts Robert Oppenheimer nach dem Einsatz der Atombombe gegen Menschen entsetzt war und versuchte, die Verbreitung von Atomwaffen durch internationale Verträge zu stoppen, was ihn alsbald in Verruf brachte, die Sowjets mit Wissen über die Bombe versorgt zu haben, forderte Edward Teller die Weiterentwicklung der Spaltungsbombe zur thermonuklearen Fusionsbombe – er wurde der Vater der Wasserstoffbombe. Denn gegen Atomwaffen gibt es keinen Schutz. Kombiniert mit der Möglichkeit, per Rakete fast ohne Vorwarnung jeden Ort der Welt binnen 30 Minuten in Schutt und Asche zu legen, bleibt als möglicher Schutz nur die Drohung eines ebenso wenig abzuwehrenden Rückschlags, und so steigerten sich die Supermächte USA und UdSSR bald in ein mörderisches Wettrüsten um die zerstörerischsten Waffen.
Ein Paradies fährt zur Hölle
Die Sprengkraft der Wasserstoffbombe und der durch sie verursachte Fallout war so stark, dass die Amerikaner ihre Tests von zunächst Nevada (wo weiterhin kleinere Bomben getestet wurden) auf die zu den Marshall-Inseln gehörenden Bikini- und Eniwetok-Atolle im Nordpazifik auslagerten. Die Marshall-Inseln (wie auch die Marianen und Karolinen) gehörten zum vor dem Krieg unter dem Mandat des japanischen Kaiserreichs stehenden Mikronesien, das die USA nach dem Pazifik-Krieg besetzten und das ihnen 1947 von den Vereinten Nationen als Treuhandgebiet zur Verwaltung übergeben worden war – ohne jede Nutzungsbeschränkung. Die US NAVY siedelte im Februar 1946 die 167 Bewohner des Bikini-Atolls in dem guten Glauben, bald wieder zurückkehren zu können, auf das wesentlich kleinere, unbewohnte Atoll Rongerik um, welches eine nur unzureichende Versorgung mit Süßwasser und Nahrungsmitteln bot, so dass sie bald darauf auf Versorgungslieferungen der Amerikaner angewiesen waren und schließlich erneut auf mehrere Atolle umgesiedelt wurden. Die Tests auf Bikini begannen noch im Jahr 1946 mit der Operation Crossroads, die zwei 22-Kilotonnen-Bomben vom Typ der Nagasaki-Bombe detonierte, eine davon (Baker) unter Wasser, deren Bilder sehr prominent wurden.
Der erste Test einer thermonuklearen Zündung fand am 8. Mai 1951 auf dem Eniwetok-Atoll statt. Der Test Greenhouse George beruhte nicht auf einem Design, das für eine als Waffe taugliche Wasserstoffbombe geeignet gewesen wäre: es verwendete einen torusförmigen Behälter, in dem eine Atombombe als Schale eine kleine Menge gekühlten, flüssigen Wasserstoff umgab, der aus den Isotopen Deuterium (2H, 1 Proton, 1 Neutron; gewöhnlicher Wasserstoff 1H hat nur 1 Proton als Kern) und Tritium (3H, 1 Proton, 2 Neutronen) bestand. Zwar hätten je zwei Deuteriumkerne alleine gereicht, zu Helium-4 (4He, 2 Protonen, 2 Neutronen) zu verschmelzen, aber die Energie der zündenden Spaltungsbombe wird größtenteils als Röntgenstrahlung frei, die vom Deuterium alleine nicht stark genug absorbiert wird, um die zur Fusion nötige Temperatur zu erreichen. Tritium war hingegen nur sehr teuer zu produzieren und zerfiel rasch – man hätte für das gleiche Geld eine größere Spaltbombe bauen können. So setzte Greenhouse George auch nur 225 kT frei – die meiste Energie entstammte der Kernspaltung, nur 25 kT kamen aus der Fusion von 30 Gramm an Wasserstoffisotopen. Aber die Fusion gelang und verstärkte die Explosionswirkung.
Die erste echte Wasserstoffbombe war Ivy Mike, ein riesiger, 6,2 m langer, 2 m durchmessender Zylinder mit 30 cm dicker Hülle, genannt Sausage (Wurst), der 82 Tonnen wog. Als Fusionsbrennstoff enthielt er 2000 Liter flüssigen Deuteriums, dessen Kühlvorrichtung alleine 26 Tonnen auf die Waage brachte. Das Deuterium sollte durch ein neues Design nach Edward Teller und Stanislaw Ulam zur Zündung gebracht werden. Hierbei dient eine Spaltungsbombe an einem Ende des zylinderförmigen Stahlbehälters als Zünder für das Deuterium, das in einem inneren Gefäß aus nicht kritischem Uran-238 enthalten ist, in dessen Mitte sich ein Plutoniumstab als zusätzlicher Zündkern (Sparkplug) befindet. Das Urangefäß ist eingepackt in Bleimatten und der Leerraum zwischen Außenwand und Urangefäß ist mit einem wärmeisolierenden Kunststoff ausgefüllt. Die Röntgenstrahlung der Spaltungsbombe wird im Zylindergehäuse nach innen reflektiert, der Kunststoff verdampft und komprimiert die Fusionsladung; der Plutoniumstab wird dadurch überkritisch und beginnt eine Kettenreaktion, die Neutronen freisetzt, welche wiederum die Kernspaltung in der Uranhülle auslösen, so dass das Deuterium von innen und außen erhitzt, unter Druck gesetzt und mit Neutronen beschossen wird. Dies löst die Fusion des Deuteriums aus.
Ivy Mike wurde, wie vorher öffentlich angekündigt, am 31. Oktober 1952 auf der Insel Elugelab im Eniwetok-Atoll von einem Schiff aus 50 km Entfernung gezündet. Die Explosion setzte eine Energie von 10,4 Megatonnen TNT frei – 700mal so viel wie die Hiroshima-Bombe. Dies lag im Rahmen der Erwartungen von 5 bis 10 MT. Der Feuerball der Explosion erreichte initial bis zu 80 Millionen Kelvin und wuchs auf einen größten Durchmesser von ca. 3 km. Er stieg binnen 90 Sekunden auf 17 km Höhe und erreichte eine maximale Höhe von 43 km. Die Explosionswolke dehnte sich auf 160 km Breite aus. Die Insel Elugelab wurde vollständig verdampft – an ihrer Stelle verblieb nur ein Krater von 1,9 km Durchmesser und 50 m Tiefe. Ivy Mikes Pilzwolke sog 80 Millionen Tonnen verdampften und zertrümmerten Bodengrund mit sich in die Höhe. Noch in 56 km Entfernung fielen verstrahlte Korallenstücke auf ein Schiff. Der NAVY-Beobachter Harold Agnew, der die Explosion aus 40 km Entfernung beobachtet hatte, berichtete später, dass die ganze Welt in Flammen gestanden zu haben schien.
Was ich nie vergessen werde ist die Hitze – nicht die Druckwelle, sondern die Hitze, die kam und immer weiter andauerte – das ist eine wirklich beängstigende Erfahrung, weil die Hitze nicht aufhört. Bei einer Kilotonnen-Explosion gibt es einen Blitz und das war’s, aber bei diesen großen Explosionen ist es wirklich beängstigend.
Er fuhr fort, dass seiner Meinung nach die politischen Führer der Welt alle 5 Jahre eine Multi-Megatonnen-Explosion wie Ivy Mike persönlich miterleben sollten.
Das würde ihnen Ehrfurcht vor Allah, Gott, Mohammed, Buddha oder wem auch immer in die Adern jagen.
Edward Teller war nicht vor Ort, sondern 7700 km entfernt im Keller des geophysikalischen Instituts in Berkeley, Kalifornien, und konnte dort noch die Schockwelle mit einem Seismometer messen. Noch ehe das für die Konstruktion der Bombe verantwortliche Labor in Los Alamos über die erfolgreiche Zündung Nachricht erhalten hatte, sendete Teller dorthin ein Telegramm: “It’s a boy” – es ist ein Junge.
Auf der Nachbarinsel Engebi, 5 Kilometer von Ground Zero entfernt, fand man später nur den Körper eines toten Vogels und ansonsten keine Spur eines lebenden Wesens. Von der ursprünglichen Vegetation waren nur noch Stümpfe im Boden übrig. Man fand tote Fische, die verbrannt waren – bei einem fehlte auf einer Seite die Haut, so als ob ihn jemand in eine Pfanne mit heißem Fett geworfen hätte. Und man fing Jahre später noch Fische, die auf eine Röntgen-Fotoplatte gelegt ihr eigenes Röntgenbild hinterließen.
Zwar wurde auf dem Design von Ivy Mike aufbauend auch eine Fliegerbombe entwickelt, aber der Aufwand, das Deuterium auf -250 °C gekühlt zu halten, war zu groß für eine gefechtsmäßige, jederzeit für einen Gegenschlag bereite Waffe.
Der Killer ist nicht praktisch genug
Mit der Operation Castle kehrten die Tests erstmals wieder auf Bikini zurück. Castle Bravo war der erste Test in der Reihe. Für diese zweite große Wasserstoffbombe setzte man auf Lithiumdeuterid als Fusionsbrennstoff: LiD, das ist Lithiumhydrid LiH mit dem schwereren Wasserstoffisotop Deuterium (D) anstelle des Wasserstoffs (H). Lithiumdeuterid ist eine Art Salz, das bei Raumtemperatur ein Feststoff ist, also nicht gekühlt zu werden braucht und das sich dementsprechend beliebig lange lagern lässt. Durch Neutronenbeschuss sollte das Lithium teilweise zu Tritium und Helium zerfallen und das Tritium dann mit dem Deuterium zur Fusion gelangen. So war die Sprengkraft auf 5-6 Megatonnen TNT kalkuliert worden.
Der zylinderförmige Behälter, genannt SHRIMP, war 4,60 m lang, durchmaß 1,40 m und wog kanppe 11 Tonnen – leicht genug, um von einem Bomber ins Ziel gebracht zu werden. Er enthielt (nur) 400 kg Lithiumdeuterid. Man deponierte den SHRIMP auf einer künstlichen Insel nahe Namu am Nordwestende des Bikini-Atolls. Die Zündung war für den 1. März 1954 um 6:45 Ortszeit (28. Februar 19:45 MEZ) geplant. Der Zeitpunkt war geheim und es gab, anders als bei Ivy Mike, keine zivilen Evakuierungen, denn man erwartete, dass der lokale Fallout keine bewohnten Gebiete treffen würde und wollte sich im Übrigen die Kosten sparen. Natürlich verließen alle Militärs das ansonsten nicht mehr bewohnte Bikini-Atoll, bis auf das Zündkommando, das in einem atombomben- und wasserfesten Bunker am südöstlichen Ende auf der Insel Eneu, 30 km entfernt von Ground Zero, untergebracht war. 3 Tage vor dem Test hatte der Wetterdienst günstige Winde vorhergesagt, die den Fallout aufs offene Meer treiben sollten, aber 6 Stunden vorher drehte der Wind unerwartet und der Fallout drohte, auf unbewohnte Inseln niederzugehen. Dennoch hielt der zuständige Generalmajor Percy Clarkson am geplanten Termin fest, weil die Vorbereitungen so aufwändig gewesen waren.
Die Zündung erfolgte planmäßig, aber die Explosion verlief alles andere als nach Plan. Der Feuerball breitete sich binnen einer Sekunde auf 7 km Durchmesser aus und verdampfte drei Inseln, an deren Stelle nun ein 2 km durchmessender Krater von 75 m Tiefe klafft. Die Pilzwolke wuchs binnen 10 Minuten auf 40 km Höhe und 100 km Durchmesser. Anwohner der Marschall-Inseln in 400 km Entfernung berichteten später, dass die Explosion am frühen Morgen wie ein Sonnenaufgang im Westen mit rotem und orangefarbenem Himmel ausgesehen habe – und wie sie die nachfolgende Schockwelle erschreckte.
Wie spätere Analysen ergaben, setzte die Explosion eine Sprengkraft von 15 Megatonnen TNT frei – 2,5 mal mehr, als die Physiker in Los Alamos berechnet hatten, 1000mal so viel wie die Hiroshima-Bombe und mehr als jede andere von Menschen herbeigeführte Explosion zuvor.
Marine-Veteran John Halderman war einer der am Test beteiligten Soldaten. Er befand sich an Bord der USS Curtiss und beobachtete die Explosion der Bombe, die er zuvor mit seiner Unterschrift signiert hatte, aus 40 km Entfernung. In einem TV-Interview berichtete er:
Wir trugen dunkle Schutzbrillen, aber als die Bombe hochging, konnten wir die Knochen in unseren Armen sehen, wie auf einem Röntgenbild. Und dann drehten wir uns um und nahmen die Brillen ab, wir alle dachten, [die Explosion] sei in weiter Ferne. Aber sie war direkt über uns. Dann konnte man die Schockwelle kommen sehen. Wie eine Mini-Flutwelle oder ein Tsunami. Du schnappst nach Rettungsleinen und hältst dich an Kanonenmontierungen fest und Kameraden rutschen über das Deck und du versuchst sie festzuhalten. Dann neigte [das Schiff] sich in die andere Richtung. Ich drehte mich zu meinem Kumpel um und sagte ‘Hey, ich glaube, wir sind erledigt’ und er sagte ‘ich glaube du hast Recht’.
20 Sekunden nach der Zündung wurde der Bunker auf Eneu von einem Erdbeben erschüttert. Nach 90 Sekunden traf die Schockwelle ein und verursachte Risse im Beton des Bunkers. Aber am meisten Angst machte den Soldaten des Zündkommandos die draußen ansteigende Strahlung. Die Geigerzähler stiegen immer weiter, denn der Fallout der Bombe wurde vom Wind in Richtung des Bunkers geweht. Die Soldaten wurden nach einigen Stunden, nachdem die stärkste Strahlung von bis zu 25 Röntgen pro Stunde etwas abgeklungen war, von einem Hubschrauber abgeholt, und hüllten sich zum Schutz vor dem von den Rotoren aufgewirbelten radioaktiven Staub in Betttücher.
Auch auf der USS Curtiss ging Fallout nieder. Halderman berichtet, dass die Besatzung 10 Tage lang unter Deck kommandiert wurde und sie den Befehl hatten, jeden der den Innenraum des Schiffs verlassen wollte, zu erschießen.
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
In der Gegend hielt sich zufällig und unbemerkt ein japanisches Fischerboot auf, die Daigo Fukuryū Maru, deren Besatzung erschrocken und fasziniert zugleich das Lichtspiel der Explosion aus 145 km Entfernung beobachtete. Das Schiff befand sich damit außerhalb der von der US-Regierung verordneten Sperrzone. Besatzungsmitglied Oishi Matashichi berichtete:
Ein gelber Blitz strahlte durch das Bullauge herein. Ich wunderte mich, was das war, rannte an Deck und war verblüfft. Die Schiffsbrücke, Himmel und Meer wurden schlagartig sichtbar, gebadet in flammende Sonnenuntergangsfarben. Ich sah mich völlig verwirrt um – ich hatte keine Ahnung, was da vor sich ging.
Nach 7 Minuten hörten die 23 Seeleute den Donner der Explosion und nach zwei Stunden begann der Fallout, der aus pulverisierten Korallen bestand und an fallende Schneeflocken erinnerte, auf das Schiff zu rieseln. Die Seeleute sammelten das Pulver, das an Haaren und Kleidung haften blieb, in Säcken und einer prüfte sogar mit der Zunge seinen Geschmack. Die gesamte Besatzung erkrankte danach wochenlang an der Strahlenkrankheit. Einer verstarb, allerdings nur indirekt an den Folgen der Verstrahlung, denn während der Behandlung, unter anderem mit unreinen Bluttransfusionen, zogen sich die Seeleute eine Hepatitis-Infektion zu, die der Funker des Schiffs nicht überlebte.
Der zunächst vertuschte Vorfall, der den geheim gehaltenen Castle Bravo Test erst an die breite Öffentlichkeit brachte, führte zu einer diplomatischen Krise zwischen Japan und den USA, insbesondere als das Gerücht für Panik in der Bevölkerung sorgte, dass verstrahlter Thunfisch des Fischerboots auf den japanischen Markt gelangt sei.
5 Stunden nach der Explosion erreichte der Fallout die bewohnten Marschall-Inseln der Rongelap-, Rongerik-, Utrik und Ailinginae-Atolle und rieselte stundenlang herunter, bis die Inseln von einer 2 cm tiefen weißen Staubschicht bedeckt waren. Die Kinder hielten den Fallout für Schnee, von dem die Missionare ihnen erzählt hatten, spielten damit und aßen ihn sogar. Frauen rieben ihn sich in ihre Haare. Fast alle entwickelten Stunden später schwere Symptome der Strahlenkrankheit: Verbrennungen oder Entzündungen der Haut, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, brennende Augen oder anschwellende Gliedmaßen. Das US-Militär ordnete an, dass seine auf der Insel stationierten Meteorologen sich in Metallbunkern verschanzen sollten und dort auf die Evakuierung warten. Erst 48 Stunden später evakuierte das Militär hastig die rund 250 Einwohner der am stärksten betroffenen Atolle Rongelap und Rongerik, die ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen mussten, auf andere Inseln. Da man ihnen dort viel bessere Unterkünfte zur Verfügung stellte als daheim, hielt sich ihr Protest in Grenzen – anfänglich für 6-12 Monate geplant mussten sie 3 Jahre bis 1957 in der Evakuierung bleiben.
Sie hatten Strahlendosen von 60-300 rem erhalten – 5 bis 10 rem führen schon zu genetischen Schäden und 400 rem töten 50% der Betroffenen. 20 von 29 der Kinder, die dem Fallout ausgesetzt waren, entwickelten Knoten in der Schilddrüse, viele bösartig. Viele Frauen brachten entstellte Kinder zur Welt, manche mit vergrößerten Schädeln oder durchsichtiger Haut, die nur ein paar Tage überlebten. In den Jahren darauf starben noch viele Kinder an Leukämie. Die Bevölkerung wurde nie umfassend über die Verstrahlung aufgeklärt und viele erlitten psychologische Traumata. Währenddessen testete die US-Regierung allerlei Medikamente an der Bevölkerung, aber die Ärzte erklärten den Betroffenen nur selten, was die Ursache ihrer Krankheiten war.
Ein tödlicher Irrtum
Warum war die Explosion so viel heftiger ausgefallen als vorhergesagt?
Lithium hat 3 Protonen im Kern und kommt natürlicherweise als Gemisch der stabilen Isotope Lithium-7 (also mit 4 Neutronen) (92,5% Anteil) und Lithium-6 (3 Neutronen) (7,5% Anteil) vor. Man hatte das Lithium für die Bombe auf 40% 6Li und 60% 7Li angereichert. Die Reaktion sollte nämlich wie folgt ablaufen:
Ein Neutron (initial aus den Spaltreaktionen der Zünder geliefert) zertrümmert einen 6Li-Kern in Tritium und 4He (das Neutron wird dabei von einem der Kerne eingefangen). Das Tritium fusioniert dann mit dem Deuterium zu 4He und einem freien Neutron, das die Reaktion beim nächsten 6Li-Kern fortsetzt. Das Lithium-7 sollte hingegen eingefangene Neutronen unverändert wieder abstoßen und somit an der Reaktion nicht teilnehmen.
Dem war jedoch nicht so. Das Lithium-7 wurde durch die eingefangenen Neutronen genau so in Tritium und 4He zertrümmert, wie das Lithium-6, nur dass das eingefangene Neutron dabei wieder frei wurde. Damit war 60% mehr Tritium für die Fusion verfügbar, was die Fusionsreaktion so viel heftiger ausfallen ließ. So führte neben dem verantwortungslosen Festhalten der Verantwortlichen am trotz sich ändernder Wetterbedingungen geplanten Zündzeitpunkt die Fehlkalkulation der Physiker in Los Alamos zur bis dahin größten nuklearen Verseuchung der Geschichte.
Nachwirkungen bis in die Zukunft
1985 wurden die mittlerweile 350 Bewohner von Rongelap nach einer entsprechenden Bitte des Senators der Marshall-Inseln an Greenpeace durch deren Schiff Rainbow Warrior erneut evakuiert, mitsamt all ihrem Besitz. 1996 kehrten sie dann im Rahmen einer $45-Millionen-Dollar Vereinbarung mit der US-Regierung zurück und trugen die Oberfläche der Insel einige Zentimeter tief ab.
Frauen hatten nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1997 auf den Marshall-Inseln ein 60mal höheres Risiko für Gebärmutterhalskrebs als solche in den USA, sowie ein 5-fach erhöhtes Risiko für Brustkrebs. Das Risiko von Magen-Darm-Krebsarten war in der Bevölkerung fünffach und das für Lungenkrebs dreifach erhöht. Messungen aus dem Jahr 2014 ergaben schließlich, dass die Strahlung auf Rongelap nun nicht mehr gefährlich war.
Weniger Glück hatten die ehemaligen Anwohner des Bikini-Atolls – auch sie kehrten 1972 vorübergehend in ihre Heimat zurück, mussten sie aber 1978 wieder verlassen, weil in ihrem Urin Plutonium und in den Brunnen radioaktivees Strontium-90 gefunden worden war. Das Atoll wird noch für Jahrhunderte unbewohnbar bleiben – nur kurze Aufenthalte von Sporttauchern sind erlaubt. Die ehemaligen Bewohner sind immer noch auf Versorgungslieferungen der Amerikaner angewiesen.
Der bis in die Stratosphäre getragene Fallout wurde über die ganze Welt verteilt und führte zu den ersten internationalen Protesten gegen die überirdischen Atomversuche, die allerdings erst 1963 nach einem Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion eingestellt und durch unterirdische Versuche, die keinen Fallout freisetzen, ersetzt wurden (die von den USA bis 1992 fortgesetzt wurden, von Frankreich bis 1996 und Nordkorea hat zuletzt noch 2017 getestet). Castle Bravo wurde noch von drei Nukleardetonationen übertroffen, zwei 20-Megatonnen-Versuche und die berühmte Zar-Bombe mit 58 Megatonnen, allesamt sowjetische Versuche, die in großer Höhe gezündet wurden und daher kaum Fallout produzierten.
Castle Bravo führte zur Entwicklung kompakter, nur wenige hundert Kilogramm schwerer Sprengköpfe und Bomben mit Megatonnen-Sprengkraft, die immer noch zu Tausenden existieren, einige davon befinden sich noch auf deutschem Boden. In den Händen besonnener, rationaler Politiker sichern sie einem Land die Unangreifbarkeit, weswegen einige Länder nach Atomwaffen streben oder sie schon besitzen. In den Händen eines lebensmüden Psychopathen, dem wie zuletzt Hitler im Führerbunker alles egal ist, bringen sie uns nur einen Knopfdruck entfernt an den Rand des Weltuntergangs. Das einzige wirklich wirksame Mittel zur Abwehr der atomaren Bedrohung ist Vertrauen zwischen den Nationen.
Referenzen
- Dale Brumfield, “The day Ivy Mike wiped out Elugelab“, Lessons from History, Medium, April 2019.
- “Race for the Superbomb – U.S. Tests“, American Experience, PBS, 2019.
- April L Brown, “No Promised Land: The Shared Legacy of the Castle Bravo Nuclear Test“, Arms Control Association, 2014.
- “The World’s Biggest Bomb“, Secrets of the Dead – S11 Ep5, PBS, Transskript, 16. Mai 2011.
- “1 March 1954 – Castle Bravo“, CTBTO Preparatory Commission.
- William Burr, “60th Anniversary of Castle BRAVO Nuclear Test, the Worst Nuclear Test in U.S. History“, The Nuclear Vault, The National Security Archive, The George Washington University, 28. Februar 2014.
- Sean Walker, “Castle Bravo: Marking the 65th Anniversary of the US Nuclear Desaster“, Australian Outlook, Australian Institute of International Affairs, 27. Februar 2019.
- Nadja Podbregar, “Castle Bravo strahlt noch immer“, Scinexx, 17. Juli 2019.
- en.wikipedia.org, “Manhattan Project“
- en.wikipedia.org,”Soviet atomic bomb project“
- en.wikipedia.org, “Nuclear testing at Bikini Atoll“
- en.wikipedia.org, “Operation Greenhouse“
- de.wikipedia.org, “Ivy Mike“
- de.wikipedia.org, “Kernwaffentechnik“
- de.wikipedia.org, “Operation Castle“
- en.wikipedia.org, “Castle Bravo“
- en.wikipedia.org, “Bikini Atoll“
- de.wikipedia.org, “Liste von Kernwaffentests“
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