Wikipedia ist erfolgreich. Die freie Internet-Enzyklopädie ist Anlaufstelle Nummer 1, wenn man irgendwelche Fragen ab. In meinen Vorlesungen an der Universität lies sich das wunderbar beobachten: Erste (und leider oft einzige) Ressource bei einer Recherche ist Wikipedia. Sogar Marc berichtete in der Wissenswerkstatt kürzlich darüber, dass langsam auch die Wissenschaftler beginnen, aus Wikiepedia zu zitieren. Und in der Wikipedia selbst läuft seit einiger Zeit ein Projekt, dass die dort enthaltenen Informationen verläßlicher und letztendlich auch zitierfähig machen soll. Peer-Review in der Wikpedia? Leider nicht ganz…
Freiheit und Verläßlichkeit
Der größte Vorteil der Wikipedia ist ihre Freiheit: jeder kann jeden Artikel bearbeiten (mit kleinen, temporären Aussnahmen) und im Laufe der Zeit werden so Unmengen an relevanten Informationen gesammelt und vernünftig aufbereitet. Diese Freiheit ist aber auch gleichzeitig der größte Nachteil der Wikipedia: wenn jeder alles ändern kann, wie kann ich mich dann darauf verlassen, dass das was ich lese, auch richtig ist? Hier vertraut die Wikipedia darauf, dass sich das System selbst kontrolliert: da jeder ändern kann, können Fehler auch auch schnell korrigiert werden. Bei simplen Vandalismus funktioniert das wunderbar. Wer z.B. den Artikel über den Planeten Venus löscht und durch den Text “Susi ist blöd!” ersetzt, wird damit wenig Erfolg haben. Änderungen dieser Art werden im Allgemeinen spätestens nach ein paar Minuten revertiert. Schwieriger wird es bei nicht so offensichtlichen Störungen. Was passiert, wenn jemand den im Artikel angegeben Wert für die geometrische Albedo von 0.65 auf 0.64 ändert? Nun, wenn ich diese Änderung anonym und ohne Quellenangabe mache, dann wird das vermutlich genauso schnell revertiert werden wie der offensichtliche Vandalismus. Wenn ich allerdings eine Quelle angebe, dann stehen die Chancen gut, dass diese Änderung bleibt – und zwar ohne dass jemand diese Quelle auch überprüft! (Natürlich gibts Ausnahmen). Hier wird dann meist einfach vertraut, dass man konstruktiv arbeitet und nicht destruktiv. Und auch das ist eine sinnvolle Annahme – denn Menschen die extra die Mühe machen, solche versteckten Änderungen durchzuführen wird es wohl nicht so zahlreich geben.
Trotzdem sehe ich ein Problem bei der Wikipedia – nicht unbedingt durch Vandalismus. Sondern durch die Struktur und das Prinzip der Wikipedia an sich. Ich habe selbst jahrelang dort als Autor mitgearbeitet – mich dann aber zurückgezogen. Das, was mich dort am meisten gestört hat, war nicht der Vandalismus durch anonyme Benutzer sondern die Differenzen unter den registrierten und “anerkannten” Autoren selbst. Grund dafür ist ein Mangel an “Fachleuten”. Wenn jeder alles editieren kann, dann heisst das eben auch, dass ein Chemiker über französische Literatur schreiben kann; eine Biologin über Ägyptologie und ein Schüler über Teilchenphysik. Klar, dass es da zu Konflikten kommt. Wenn ich, als Astronom, einen astronomischen Artikel bearbeite, nur um dann von einem (astronomischen) Laien mit “Galileo-Bildung” erklärt zu bekommen, dass ich keine Ahnung habe, dann ist das sehr ärgerlich! (Mir persönlich ist das zwar konkret so noch nicht passiert – aber sowas lässt sich bei Wikipedia immer wieder beobachten). Im schlimmsten Fall resultiert aus diesem Konflikt ein “Edit-War” (ein ständiges Editieren und Revertieren von Änderungen). Man muss sich auf den Diskussionsseiten der Artikel “verteidigen”; viel Zeit und Energie in die Diskussion investieren um dem “Gegner” klarzumachen, worum es eigentlich geht, usw. Oft “gewinnt” nicht derjenige, der faktisch Recht hat – sonder der, der den längsten Atem beim Diskutieren hat. Insbesondere trifft das auf Themen zu, die in den Bereich “Pseudowissenschaft” fallen (dieses Wort ist übrigens bei Wikipedia gar nicht gern gesehen – die zugehörige Kategorie wurde vor einiger Zeit abgeschafft und pseudowissenschaftliche Dinge “pseudowissenschaftlich” zu nennen kommt meistens gar nicht gut an…). Wer schon mal mit UFO-Gläubigen, Astrologen, Homöopathen, Einstein-Leugner, Kreationisten, etc diskutiert hat, der weis, was ich meine… Viele Fachleute (die dann meistens Wissenschaftler sind) werden von diesen Diskussion abgeschreckt – was dann dazu führt, dass viele Artikel eben von interessierten Laien geschrieben werden. Auch das ist nicht zwingendermassen ein Problem! Eine Enzyklopädie ist keine wissenschaftliche Publikation und man muss nicht unbedingt ein ausgebildeter Fachmensch sein, um vernünftig und korrekt über ein bestimmtes Thema schreiben zu können. Das Problem ist, das man sich eben nicht sicher sein kann, wer nun gerade was geschrieben hat. Wurde z.B. der Artikel über wechselwirkende Galaxien von einem Astronom geschrieben? Oder einer Hobby-Astronomin? Oder von jemand ganz anderem? (Natürlich ist so gut wie jeder Wikipedia-Artikel ein Gemeinschaftswerk; trotzdem gibt es fast immer ein oder zwei Personen, die besonders intensiv mitgearbeitet haben). Wenn es ein Astronom war, dann kann ich vermutlich davon ausgehen, das er sich auf dem Gebiet auskennt und alle für einen Enzyklopädie relevanten Themen angesprochen hat. Gleiches kann natürlich auch für die Hobby-Astronomin oder jeden anderen gelten. Aber die Chance, etwas zu übersehen bzw. (unabsichtlich) eine verzerrte Version der Wirklichkeit darzustellen ist bei fachfremden Leuten sicher größer1. Ohne umfassende zusätzliche Recherche hat man also keine wirkliche Sicherheit, dass die im Artikel dargestellten Informationen wirklich korrekt, relevant und ausreichend sind, um das Thema komplett darzustellen.
Um das zu ändern, wurde bei der Wikipedia nun ein neues Werkzeug eingerichtet: gesichtete und geprüfte Versionen.
Gesichtete und geprüfte Versionen
Seit 6. Mai läuft – exklusiv in der deutschen Wikipedia – ein Test, um herauszufinden, wie man die Qualität der Artikel und die Verläßlichkeit der Wikipedia steigern kann. Dabei geht es um die “gesichteten und geprüften Versionen“.
Eine gesichtete Version wird folgendermaßen beschrieben:
“Eine gesichtete Version ist eine mittels der MediaWiki-Extension Flagged Revisions speziell gekennzeichnete Version eines Artikels, die aussagen soll, dass diese Version frei von offensichtlichem Vandalismus
ist. Sie sagt nicht aus, dass der Artikel fachlich geprüft wurde. Ziel
ist es, die Verlässlichkeit der Wikipedia auf einfache Weise zu erhöhen
und den Lesern ungesichtete Versionen nicht mehr anzuzeigen. Dies wird
zum Einen dadurch erreicht, dass über jede Änderung an gesichteten
Versionen durch neue oder unangemeldete Benutzer einmal kurz
rübergeschaut wird, und zum anderen dadurch, dass gesichtete Versionen
dem Leser bevorzugt angezeigt werden.”
Ein “normaler” Wikipedia Leser, der keinen Benutzeraccount hat, sieht also zur Zeit nur die Version eines Artikels, bei der festgestellt wurde, dass sich dort kein offensichtlicher Vandalismus befindet. Das ist prinzipiell eine gute Sache – auch wenn es meiner Meinung nach ein wenig viel Aufwand für wenig Effekt ist. Offensichtlicher Vandalismus ist ja sowieso “offensichtlich”. Um beim Beispiel von oben zu bleiben: niemand wird glauben das “Susi ist blöd!” ernsthaft eine relevante Information über die Venus darstellt. Früher reichte ausserdem auch ein Klick um solch einen Vandalismus rückgängig zu machen – nun braucht es eben einen Klick, um eine Version zu “sichten”. Natürlich ist für die öffentliche Wirkung der Wikipedia positiv, wenn dieser Vandalismus für die normalen Benutzer gar nicht erst sichtbar ist – insofern machen die gesichteten Version durchaus Sinn (auch wenn es immer noch ein großer Aufwand ist, fast 800000 Artikel zu sichten).
Etwas anderes sind allerdings die geprüften Versionen:
“Eine geprüfte Version ist eine mittels der MediaWiki-Extension Flagged Revisions speziell gekennzeichnete Version eines Artikels, die aussagen soll, dass ein Artikel nach Meinung des Prüfers keine falschen Aussagen und keine verfälschenden Lücken enthält. Damit wird ein Werkzeug eingeführt, welches erlaubt,
den Artikelbestand systematisch auf Fehler zu überprüfen und dies auch
festzuhalten, wobei das Ergebnis dieser Prüfung dem Leser kommuniziert
wird, so dass die Verlässlichkeit von Wikipediaartikeln erhöht wird.”
Diese geprüften Versionen sind allerdings noch in Planung und noch nicht implementiert. Hier soll dann aber genau das Problem behoben werden, dass ich weiter oben angesprochen habe: durch die Prüfung soll sichergestellt werden, dass die Artikel korrekt und vollständig sind. Der Knackpunkt ist hier allerdings die Aussage “nach Meinung des Prüfers“. Wer sollen die Prüfer sein? Mit dieser Entscheidung steht und fällt der Sinn der geprüften Versionen. Darüber wird natürlich auch bei der Wikipedia selbst heftig diskutiert. Von “(fast) jeder soll prüfen können” bis “nur Leute mit Doktortitel sollen in ihrem Fach prüfen dürfen” ist bei den Vorschlägen fast alles dabei (sogar der absolut unsinnige Vorschlag Nr. 9, die Prüfung mittels einer Wahl durchzuführen).
Analog dazu kann man den wissenschaftlichen peer-review Prozess betrachten. Wenn ich einen Artikel bei einer Fachzeitschrift einreiche, dann bekommt den dort ein Editor, der, wenn er auch kein Fachmann für mein Themengebiet sein muss, zumindest eine gute allgemeine Vorstellung vom Fachbereich haben sollte. Dieser Editor wählt dann einen oder mehrer Gutachter aus, also Wissenschaftler, die er für kompetent genug hält, die Qualität meiner Arbeit zu beurteilen. Diese Gutachter lesen und bewerten meinen Artikel und anhand deren Urteil entscheidet der Editor über die Veröffentlichung. Dieses System ist zwar nicht fehlerfrei – aber doch besser als alle anderen Möglichkeiten.
Peer-review bei Wikipedia?
Läßt sich das auch auf die Wikipedia umlegen? Schwer… Wikipedia ist nun mal eine Gemeinschaft für alle und nicht nur für Fachleute! Man könnte natürlich für jeden Artikel externe Fachleute für die Prüfung anwerben – aber das ist kaum realistisch. Eine vernünftige Prüfung ist immer aufwendig und es ist zweifelhaft, ob viele Experten so viel Zeit für die Wikipedia aufwenden wollen.
Was es bei der Wikipedia gibt, sind Portale, bzw. Redaktionen – also Zusammenschlüße von Wikipediaautoren, die tatsächlich Fachleute auf einem bestimmten Gebiet sind bzw. allen, die sich für ein bestimmtes Gebiet interessieren. Also wieder die gleiche Mischung aus Fachleuten, interessierten Laien und anderen. Diese Redaktionen könnten nun die jeweiligen Prüfer für bestimmte Artikel/Themenbereiche bestimmen.
Oder man bestimmt die Prüfer durch gemeinschaftliche Wahlen (so wie bisher beispielsweise die Administratoren der Wikipedia bestimmt wurden).
Schließlich könnte man die Rechte zur Prüfung auf (nachgewiesene, nicht-anonyme) Experten, die gleichzeitig Wikipediaautoren sind beschränken.
(Oder man bastelt eine Kombination der drei Vorschläge von oben. Die bisher bei der Wikipedia genannten Vorschlägen ergeben sich alle aus diesen 3 Möglichkeiten).
Meiner Meinung nach kann keiner dieser Vorschläge das grundlegende Problem der Verläßlichkeit lösen! Wenn die Prüfer auf die eine oder andere Art Wikipedia-intern bestimmt werden, dann bleibt alles so wie es ist. Wikipediaautoren sind im allgemeinen anonym – und es lässt sich nie mit einigermassen vernünftiger Sicherheit feststellen, dass ein Autor bzw. ein von den Autoren gewählter Prüfer ausreichend Kenntnisse vom Thema hat, um eine verläßliche Prüfung zu machen.
Auch der Nachweis von entsprechenden Kenntnissen birgt die gleichen Gefahren. Wer beurteilt, welche Kenntnisse man haben muss und wer ein Experte ist und wer nicht? Das kann auch nur wieder die Wikipedia selbst machen – und ich sehe da wieder große Diskussionen! Wer wäre z.B. ein Experte für wechselwirkende Galaxien? Ein Astronom? Das ist möglich – bei der Wahl zwischen einem Astronom und z.B. einem Politikwissenschaftler hätte der Astronom hier sicher die Nase vorn. Ich bin Astronom – aber ich würde mich trotzdem nicht zwingendermassen als Experten für wechselwirkende Galaxien bezeichnen. Was ist mit einem Amateurastronomen, der viel zum Thema gelesen hat und gerne diesen Artikel prüfen will? Hat er die entsprechenden Kenntnisse oder nicht? Wer beurteilt das…? Uswusf. Noch schlimmer wirds bei kritischen Themen, wie z.B. Politik. Wer ist kompetent genug, den Artikel zur SPD zu prüfen? Ein Politikwissenschaftler? Oder vielleicht ein SPD-Mitglied? Oder vielleicht wer von der CDU? Und nicht zu jedem Thema werden sich Experten finden….
Kein Ausweg
Solang man nicht wirklich externe Experten heranzieht (was praktisch undurchführbar ist), wird sich das Grundproblem der Wikipedia nicht lösen lassen. Die gesichteten Versionen mögen eine gute Idee sein – aber für die geprüften Versionen sehe ich keine Möglichkeit zur Umsetzung die tatsächlich auch das Versprochene einhält. Um das Problem der Verläßlichkeit lösen zu können, müsste die Wikipedia ihr Grundprinzip – die absolut freie Mitarbeit durch jeden – aufgeben. Dann würde aber auch die Wikipedia nicht mehr funktionieren.
Eine schwierige Situation. Ich werde jedenfalls beobachten, wie das mit den geprüften Versionen weitergeht. Vielleicht fällt den Leuten ja noch etwas ein – ich würde mich drüber freuen!
1: Ich habe übrigens mal eine Kollegin (Expertin für wechselwirkende Galaxien) nach ihrer Meinung über den Artikel gefragt. Die Kurzversion des Urteils lautete “Naja, da fehlt schon noch einiges. So richtig toll ist der Artikel nicht”
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