Was haben der Planet Neptun, der (nicht existierende) Planet Vulkan und dunkle Materie gemeinsam? Eigentlich nichts – aber die Geschichtem, die hinter der Entdeckung und der Suche nach den Planeten bzw. der dunklen Materie stehen, sind ziemlich interessant. Und sie erklären, wie die Wissenschaft reagiert, wenn eine Theorie nicht mehr so funktioniert, wie sie eigentlich sollte.
Die Sternstunde der Himmelsmechanik
Urbain Jean Joseph Le Verrier war einer der größten Astronomen des 19. Jahrhunderts. Er war Theoretiker und beschäftigte sich ausführlich mit der Bewegung der Himmelskörper und der Berechnung ihrer Positionen. Probleme hatte er dabei mit Uranus. Die berechnete Werte wichen immer von den beobachteten Positionen des Planeten am Himmel ab. Das lag nicht an ungenauen Beobachtungen oder an fehlerhaften Rechnungen – die Diskrepanz zwischen Theorie und Beobachtung ließ sich nicht eliminieren.
Wenn eine Theorie nicht mit Beobachtungen übereinstimmt, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: 1) die Theorie ist nicht richtig und muss modifiziert oder ganz verworfen werden. 2) Es sind nicht alle Parameter bekannt – nicht berücksichtigte Einflüsse sind der Grund für die Diskrepanz.
Le Verrier war völlig von der Richtigkeit der Newtonschen Gravitationstheorie überzeugt. Er fand sie überall im Sonnensystem bestätigt und die Theorie zu verwerfen wäre für ihn nur der allerletzte Ausweg gewesen. Stattdessen vermutete er, dass ein bisher unbekannter Planet die Bewegung von Uranus beeinflusst. Diesen gravitativen Einfluss hatte man bisher nicht berücksichtigt und deswegen stimmten Beobachtung und Theorie nicht überein.
Le Verrier begann nun, aus den Abweichungen des Uranus von der vorhergesagten Position, die Parameter des noch unbekannten Planeten zu berechnen. Dabei konkurrierte er mit dem Engländer John Couch Adams, der ebenfalls solche Berechnungen anstellte. Die ewige Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien setzte sich auch hier fort: die Suche nach dem unbekannten Planeten war eine Sache von nationaler Wichtigkeit; die Zeitungen berichteten ständig über die jeweiligen Fortschritte. Le Verrier und Adams und ihre Suche nach dem neuen Planeten waren damals allen gebildeten Leuten bekannt (heute sind ihre Namen außerhalb der astronomischen Kreise eher in Vergessenheit geraten).
Schließlich übermittelte Le Verrier 1846 seine Ergebnisse an deutschen Beobachter Johann Gottfried Galle in Berlin und bat ihn, an der von ihm berechneten Stelle am Himmel nachzusehen. Und tatsächlich fand sich dort ein unbekannter Planet – der Neptun! Natürlich war hier auch ein wenig Glück im Spiel. Heute wissen wir, dass sowohl Le Verrier als auch Adams etwas ungenaue Annahmen über den unbekannten Planeten getroffen haben. Sie hätten Neptun sicher auch so gefunden – dass aber Galle den Himmelskörper tatsächlich genau dort fand, wo Le Verrier ihn vorhergesagt hatte, ist auf eine große Portion Glück zurückzuführen.
Noch ein neuer Planet?
Bei Neptun hatte Le Verrier recht. Nicht Newtons Gravitationstheorie war falsch – es waren einfach noch nicht alle Einflüsse bekannt. Mit der Entdeckung des Neptun demonstrierte Le Verrier eindrucksvoll, wie mächtig die Theorie tatsächlich war: vom Schreibtisch aus, nur mit Bleistift und Papier, fand er einen neuen Planeten.
Darum war Le Verrier auch sehr optimistisch, als er sich einem neuen Problemfall zuwandte. Denn auch der sonnennächste Planet Merkur hielt sich nicht an die Vorhersagen der Theoretiker. Die berechnete Bewegung stimmte nicht mit der beobachteten überein. Wieder stand man vor der Wahl, entweder die Theorie zu verwerfen oder nach bisher unbekannten Einflüssen zu suchen. Und wieder entschied sich Le Verrier für Newtons Gravitationstheorie. Basierend auf seinem Erfolg mit Neptun, vermutete er auch hier einen unbekannten Planeten, der die Bahn des Merkur beeinflusste. Diese Planet sollte noch näher an der Sonne liegen und bekam den Namen “Vulkan“.
Le Verrier war ein berühmter und geachteter Astronom und hatte seine Fähigkeiten durch die Erklärung der Bahnabweichungen des Uranus eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass sich seine Vulkan-Hypothese schnell in der wissenschaftlichen Welt verbreitet hatte. Leider schaffte es aber niemand, diesen Planeten auch wirklich zu beohachten. Zuerst vermutete man, dass es an den schwierigen Beobachtungsbedingungen lag: so ein sonnennaher Planet ist enorm schwer zu entdecken. Man nutze Finsternisse, um die Umgebung der Sonne zu untersuchen; man probierte, einen Transit des Vulkan vor der Sonnenscheibe zu beobachten – alles ohne Erfolg. Sichtungen des Planten (siehe das Bild oben rechts, das eine “Beobachtung” des Vulkan während der Sonnenfinsternis 1871 von James Watson zeigt) stellten sich als Fehler in der Optik heraus oder konnten nicht reproduziert werden – trotz aller Bemühungen blieb der Vulkan unentdeckt (Wer mehr über die Suche nach dem Vulkan erfahren will, dem kann ich das hervorragende Buch “In Search of Planet Vulcan: The Ghost in Newton’s Clockwork Universe” empfehlen).
Gelöst werden konnte dieses Rätsel erst 1915, als Albert Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte. Diesmal hatte sich Le Verrier falsch entschieden: Newtons Gravitationstheorie war tatsächlich nicht in der Lage gewesen, die Bewegung des Merkur ausreichend gut zu erklären. Kein unbekannter Einfluss war für die Diskrepanz zwischen Beobachtung und Theorie verantwortlich sondern es war nötig gewesen, eine neue, verbesserte Theorie zu finden. Dies hat Einstein mit seiner Relativitätstheorie getan und mit ihr ließ sich auch die Bewegung des Merkur zufriedenstellend beschreiben – ganz ohne den Einfluß eines hypothetischen Vulkan.
Aber auch später noch wurde die Astronomie vor die Wahl gestellt, eine Theorie zu verwerfen oder nach unbekannten Einflüssen zu suchen. Wieder lag das Problem bei der Bewegung von Himmelskörper.
Dunkle Materie
1933 untersuchte der Schweizer Astronom Fritz Zwicky die Bewegung von Galaxien im Coma-Haufen (rechts). Er fand, dass diese Ansammlung von etwa 1000 Galaxien eigentlich gar nicht existieren dürfte. Die einzelnen Galaxien bewegten sich viel zu schnell, um in einem Haufen organisiert zu bleiben. Die gravitativen Kräften der Gesamtmasse des Haufens ist zu gering, um die Galaxien daran zu hindern, einfach “wegzufliegen”. Dort muss sich entweder mehr Materie befinden, als man beobachten kann – dann würde deren zusätzliche gravitative Wirkung für den Zusammenhalt sorgen. Oder die Theorie ist falsch.
Zwicky postulierte damals zusätzliche, unbeobachtete Materie im Coma-Haufen. Seine Hypothese setzte sich allerdings in der wissenschaftlichen Welt nicht wirklich durch. Einige Jahrzehnte später stieß allerdings die amerikanische Astronomin Vera Rubin auf das gleiche Problem.
Sie beobachtete die Sterne in einer Galaxie. Auch hier hängt die Geschwindigkeit, mit der sich die Sterne um das Galaxienzentrum bewegen, von der in der Galaxie enthaltenen Gesamtmasse ab. Rubin fand nun, dass sich die Sterne nicht so bewegen, wie sie es laut theoretischer Vorhersage tun sollten. Wieder gab es zwei Möglichkeiten, die Diskrepanz aufzulösen: entweder es existiert mehr Masse in den Galaxien, als man sehen kann. Diese Masse würde dann mit ihrer Gravitationswirkung die beobachtete Geschwindigkeit erklären. Oder es gibt Probleme mit der Theorie.
Nun begann man das Problem ernst zu nehmen; besonders dann, als es später auch noch bei Galaxiensuperhaufen (also Anhäufungen von Galaxienhaufen) auftrat. Überall im Universum – von Sternen in Galaxien bis hin zu Galaxienhaufen – schienen sich die Himmelskörper nicht so zu bewegen, wie sie es sollten. Sie bewegten sich so, als stünden sie unter dem Einfluß einer größeren Menge von Materie, als wir beobachten können. Neben der “normalen” Materie schien es also eine Art “dunkler Materie” zu geben. Etwas, das zwar eine gravitative Wirkung ausübt – aber keine elektromagnetische Strahlung (also auch Licht) aussendet bzw. reflektiert.
Auch die Kosmologen stellten fest, dass ihre Theorien besser mit der Realität übereinstimmten, wenn sie davon ausgingen, dass große Mengen dieser dunklen Materie im Universum existieren.
Die dunkle Materie repräsentiert den Weg, den Le Verrier 1846 einschlug: nicht die Theorie ist falsch, sondern es existiert ein bisher unbekannter Einfluss. Damals war es Neptun, heute ist es die dunkle Materie. Aber es könnte auch genauso gut sein, dass der Unterschied zwischen Beobachtung und Theorie auf die gleiche Art gelöst wird, mit der Einstein 1915 das Problem der Merkurbewegung löst: mit einer neuen Theorie.
MOND?
Auch das wurde versucht. 1983 schlug der israelische Physiker Mordehai Milgrom die MOND-Hypothese vor. MOND steht hier für “Modifizierte Newtonsche Dynamik” und postuliert eine Änderung des newtonschen Bewegungsgesetzes. Newton sagte, dass eine Kraft gleich dem Produkt von Masse mal Beschleunigung ist. Normalerweise ist das auch richtig, meinte Milgrom. Geht es allerdings um sehr kleine Beschleunigungen – wie eben bei der problematischen Bewegung der Sterne und Galaxien – dann könnte die Formel anders sein. Seine modifizierte Version des newtonschen Bewegungsgesetzes stimmt bei den alltäglichen Beschleunigungswerten mit der bisher bekannten Theorie überein. Bei kleinen Werten weicht sie allerdings davon ab und könnte so den Unterschied zwischen Beobachtung und Theorie erklären.
Aber was ist nun richtig? Ist die Theorie falsch, die wir zur Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper verwenden? Sollte statt der Newtonschen Theorie bzw. statt Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie die MOND-Theorie (bzw. ihre relativistische Entsprechung, die Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie) verwendet werden? Oder stimmt die Theorie und die Unterschiede werden durch den Einfluss der noch nicht direkt beobachteten dunklen Materie erzeugt?
Hinweise
Zur Zeit stehen die Karten für die MOND-Theorie eher schlecht. Mittlerweile häufen sich die Anzeichen, dass tatsächlich dunkle Materie für die Abweichungen bei den Beobachtungsdaten verantwortlich ist.
Spätestens seit 2006 der Bullet-Cluster beobachtet wurde, hat die MOND-Theorie mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. In diesem Galaxienhaufen beobachtete man die Verteilung der einzelnen Galaxien. Man konnte aber auch das Gravitationspotential des Haufens bestimmen (durch Ausnutzung des Gravitationslinseneffekts).
Hier sah man zum ersten Mal deutlich, dass sich auch dort Materie befinden muss, wo wir nichts sehen können! Wegen des Gravitationslinseneffekts weiß man, dass sich in bestimmten Bereichen Materie befinden muss, die eine gravitative Wirkung erzeugt (ansonsten würde man den Gravitationslinseneffekt nicht messen). In diesen Bereichen sind allerdings keine Galaxien zu sehen. Es muss sich also tatsächlich um “dunkle Materie” handeln.
Die folgende Aufnahme zeigt die Situation noch einmal grafisch. In rot sind die Bereiche dargestellt, in denen sich sichtbare Materie befindet, blau zeigt die Regionen dunkler Materie an:
Diese Beobachtung lässt sich mit der MOND-Hypothese nicht erklären. Das muss nicht bedeuten, dass der Ansatz falsch ist. Es kann gut sein, dass sich die Bewegungsgleichung für kleine Beschleunigungen wirklich anders verhält, als wir bisher gedacht haben. Aber die Beobachtungen am Bullet-Cluster zeigen, dass auf jeden Fall dunkle Materie vorhanden sein muß. Ob zusätzlich auch noch die Theorie geändert werden muß, ist eine andere Frage.
Beweise
Die Beweislage ist mittlerweile so dicht, dass kaum noch an der Existenz dunkler Materie gezweifelt werden kann. Die Beobachtungen, die man beim Bullet-Cluster machte, konnten bei anderen Objekten bestätigt werden. Auch die Teilchenphysiker haben mittlerweile gute Ideen entwickelt, um was sich bei der dunklen Materie handeln könnte (Ich habe darüber einen eigenen Artikel geschrieben).
Dunkle Materie ist also nichts, das sich Astronomen einfach so aus den Fingern gesaugt haben. Ihre Existenz kann mittlerweile fast schon als belegt angsehen werden. Wir haben sie zwar noch nicht direkt beobachtet (wie denn auch 😉 ). Aber “sehen” (bzw. eine Detektion im elektromagnetischen Spektrum) ist ja bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, auf die Existenz von Dingen zu schließen. Dunkle Materie wechselwirkt gravitativ – und diese Wirkung wurde gemessen!
Satelliten, Teleskope und Teilchenbeschleuniger sind gleichermaßen daran beteiligt, auch die letzten Geheimnisse der dunklen Materie zu lösen. Jetzt, am Ende des Jahres, wird ja überall wieder fleißig prophezeit und prognostiziert. Wenn ich auch eine Vorhersage abgeben müsste, dann diese: Innerhalb der nächsten 10 Jahre werden wir die dunkle Materie endgültig dingfest gemacht haben. Wir werden dann wissen, aus was sie besteht und ihre Eigenschaften genau kennen.
Und wenn nicht? Nun – es würde mich sehr überraschen, wenn sich die dunkle Materie doch noch als Sackgasse herausstellen würde. Aber falls doch, dann wird die neue Theorie, die an die Stelle der dunklen Materie rückt mindestens genauso faszinierend sein – wenn nicht gar noch mehr!
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