Wieviele Haare hat ein Mensch am Kopf? Wieviele Grashalme wachsen auf einem Fussballfeld? Aus wie vielen Atomen besteht Deutschland? Wie groß ist der Anteil der Erdoberfläche, der von Autos bedeckt wird?
Das alles sind Fragen, die sich eigentlich nicht genau beantworten lassen. Obwohl eine Antwort existiert, existieren im Allgemeinen nicht genügend Daten, um diese exakte Antwort auch zu finden. Man kann nur eine mehr oder weniger vernünftige Abschätzung durchführen.
Fragen dieser Art werden als Fermi-Probleme bzw. Fermi-Fragen bezeichnet. Benannt sind sie nach dem Kernphysiker Enrico Fermi, der dafür bekannt war, solche spontanen Abschätzungen besonders gut und genau durchführen zu können.
Das klassische Beispiel für eine Fermi-Frage ist folgende: Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?.
Eine Lösung (ich habe das Beispiel aus der Wikipedia übernommen) könnte so aussehen. Wir treffen zuerst folgende, einigermaßen vernünftige Annahmen:
- Ungefähr 5 Millionen Leute leben in Chicago.
- Ungefähr zwei Personen leben durchschnittlich in einem Haushalt.
- Ungefähr in jedem zwanzigsten Haushalt gibt es ein Klavier, das regelmäßig gestimmt wird.
- Klaviere werden ungefähr einmal pro Jahr gestimmt.
- Es dauert etwa zwei Stunden, um ein Klavier zu stimmen, inklusive Fahrzeit.
- Ein Klavierstimmer hat einen 8-Stunden-Tag, eine 5-Tage-Woche und arbeitet 50 Wochen pro Jahr.
Daraus kann man berechnen, dass es in Chicago 125000 Klaviere gibt, die einmal pro Jahr gestimmt werden müssen. Ein Klavierstimmer kann dagegen nur 1000 Klaviere pro Jahr stimmen – um den Bedarf in Chicago zu decken, sollten also etwa 125 Klavierstimmer dort leben.
Es gibt noch jede Menge andere Beispiele – und nicht alle sind so scheinbar praxisfremd wie das der Klavierstimmer. Erst vor kurzem habe ich über die Frage geschrieben, ob die abgestürtzte Air-France Maschine von einem Meteoriten getroffen wurde. Hier kann man zwar viele Dinge konkret berechnen: ganz ohne Abschätzungen kommt man aber nicht aus: wie groß ist die Gesamtfläche aller sich in der Luft befindlichen Flugzeuge? Wie viele Asteroiden, die ein Flugzeug gefährden können befinden sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Erdatmosphäre? Das alles sind klassische Fermi-Fragen.
Vernünftige Abschätzungen treffen zu können ist in der Wissenschaft enorm wichtig! Abschätzungen können einem den Weg weisen, auch ohne lange und komplizierte Rechnungen anstellen zu müssen. Man kann durch Abschätzungen sinnvolle von weniger sinnvollen Projekten trennen, ohne sie konkret durchführen zu müssen. Und oft (siehe das Beispiel oben) ist es schlicht und einfach nicht möglich einen exakten Wert zu bekommen und man ist auf das Ergebnis einer Abschätzung angewiesen.
Die Fähigkeit, quantitative Schätzungen durchzuführen, wird leider in Schulen und an Universitäten nicht wirklich ausreichend gelehrt. Meiner persönlichen Erfahrung nach lernen die Studenten in den physikalischen Übungskursen hauptsächlich, wie man Werte in Formeln einsetzt und per Taschenrechner das Ergebnis erhält. Man muss schon froh sein, wenn sie dieses Ergebnis dann nicht bis zur sechszehnten Nachkommastelle aufschreiben… (Naja – vielleicht bin ich auch ein wenig zu zynisch – ich kenne ja nicht alle Übungskurse an allen Unis. Es wird sicher auch wo anders sein). In den Übungskursen zur astronomischen Einführungsvorlesung, die ich an der Uni Jena gehalten habe, habe ich daher immer darauf geachtet, dass auch solche Schätzaufgaben mit dabei sind. Z.B. “Gibt es mehr Sterne in der Milchstrasse oder Mücken auf der Erde?”. (Hier gibt es noch mehr schöne Fermi-Probleme)
Und auch in den Schulen scheint es gute Ansätze zu geben. Hier kann man sich sogar eine “Fermi-Box” kaufen, die für den Unterricht aufbereitete Fermi-Fragen enthält (hat jemand der mitlesenden Lehrer vielleicht schon Erfahrung damit?).
Auch hier gibt es ein paar schöne Beispiele für den Unterricht; zusammen mit netten Bildern:
Wie komme ich eigentlich auf dieses Thema? Ich bastel gerade an einem Vortrag für die “Tage der Schulastronomie“, die von 25. bis 27. Juni in Jena stattfinden. Für meinen Vortrag zum Thema “Virtuelle Observatorien” hätte ich gerne eine Zahl, die die Gesamtmenge der täglich produzierten astronomischen Daten (Beobachtungsdaten und Daten aus theoretischen Berechnungen) angibt. Auch das ist eine klassische Fermi-Frage. Hier gibt es natürlich mehrere Lösungsansätze – wie würdet ihr diese Frage beantworten?
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