[Das hier ist eine Rezension eines Kapitels des Buches “Der Drache in meiner Garage” von Carl Sagan. Links zu den Rezensionen der anderen Kapitel finden sich hier.]
Ist Nerd eigentlich mittlerweile ein deutsches Wort? Oder gibt es wenigstens eine vernünftige Übersetzung? Leo schlägt folgendes vor: Fachidiot, Langeweiler, Schwachkopf, Sonderling, Streber. Aber das klingt irgendwie alles zu negativ – so negativ besetzt kommt mir “Nerd” gar nicht vor.
Naja – egal. Carl Sagan behauptet jedenfalls in Kapitel 23, das wir wesentlich mehr Nerds brauchen!
Der Nerd ist ein typisches Klischeebild eines Wissenschaftlers. Hochbegabt, was Wissenschaft angeht – dafür aber sozial komplett daneben und unfähig, mit anderen Menschen normal zu interagieren. Unsportlich, unattraktiv, mit Taschenrechner am Gürtel – und wenn er eine Frau trifft (was ist eigentlich mit weiblichen Nerds?) bringt er kein Wort mehr heraus. Wer ein Nerd ist, ist niemals cool und wer cool ist, kann kein Nerd sein.
Das sind so in etwa die gängigen Vorurteile – und es gibt durchaus Wissenschaftler, auf die diese Beschreibung zutrifft. Vielleicht gibt es diesen Typ Mensch unter Wissenschaftler sogar häufiger? Sagan spekuliert, dass vielleicht das ernsthafte Studium eines bestimmten Fachgebiets so viel Zeit und Zuwendung braucht, dass für andere Menschen keine Zeit mehr ist. Oder Menschen, die generell Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen haben, fühlen sich eher von der Wissenschaft angezogen, wo sie sich in Ruhe mit einem bestimmten Feld beschäftigen können?
Dieses negative Bild der Nerds/Wissenschaftler mag auch dafür verantwortlich sein, dass viele Menschen der Wissenschaft und deren finanziellen Förderung negativ gegenüber stehen: Warum soll man diesen Freaks auch noch Geld geben, damit sie ihrer seltsamen und sinnlosen Arbeit nachgehen können? Wenn schon, dann soll man ihnen genau sagen, was sie tun und erforschen sollen!
Aber das ist natürlich unmöglich. Forschung und vor allem Grundlagenforschung funktioniert so nicht!
Um das zu demonstrieren, erzählt Sagan folgende fiktive Geschichte.
Es ist das Jahr 1860 und Königin Victoria von Großbritannien hat eine Vision. Sie will Bilder und Stimmen überall in ihr Köngreich übertragen. Ohne Drähte, ohne Leitungen und möglichst ohne Zeitverlust. Die besten und berühmtesten Wissenschaftler des Landes werden darauf angesetzt und mit haufenweise Geld ausgestattet.
Werden sie es schaffen, den Auftrag zu erfüllen und Fernsehen und Radio zu erfinden? Mit ziemlicher Sicherheit nicht. Wahrscheinlich würden trotzdem jeden Menge interessanter Erfindungen und Entdeckungen gemacht – aber das Fernsehen haben wir einem anderem zu verdanken. Einem, der absolut nicht daran interessiert war, irgendeine “nützliche” Anwendung zu entwickeln. Einem Nerd.
Einer der wichtigsten Wissenschafler des 19 Jahrhunderts war James Clerk Maxwell. Und er war ein Nerd. Von klein an hat er sich für Wissenschaft interessiert und den Umgang mit seinen Mitmenschen vernachlässigt. Dafür wurde er auch entsprechend verspottet.
Maxwell hat sich aber davon nicht beirren lassen und weiter seine Forschung betrieben. Unter anderem haben ihn Elektrizität und Magnetismus interessiert. Wie ändert sich das eine unter dem Einfluß des anderen? Das Ergebnis gehört zu den wichtigsten Formeln der Physik: die Maxwell-Gleichungen:
Mit diesen Gleichungen gibt es Poster (so wie am Bild oben), T-Shirts, Kaffee-Tassen und manche Menschen haben sich die Gleichungen sogar eintätowieren lassen. Ihre genaue Bedeutung zu erklären, würde jetzt zu weit führen (Wikipedia weiß mehr) – aber selbst wenn man nicht weiß, was sie bedeuten, erkennt man doch eine gewisse Symmetrie und Schönheit in ihnen. Die Ästhetik spielt hier eine wichtige Rolle – denn als Maxwell sich überlegte, wie die Gleichungen wohl im Vakuum aussehen würden, hat er sich zuallererst auf sein ästhetisches Empfinden verlassen.
Das war eine gute Idee – denn mit diesen Gleichungen könnte später Heinrich Hertz erstmals Radiowellen erzeugen – die Grundlage für alle Radio- und Fernsehsendungen.
Eine große Forschergruppe mit viel Geld und einem konkreten Auftrag hätte so eine Entdeckung wohl nie machen können. Es war Maxwell alleine, der nur von seiner Neugier getrieben ein abstraktes Gebiet untersuchte – ohne irgendwelche speziellen Anwendungen im Kopf, der die Grundlage für Radio und Fernsehen (und noch viel mehr) gelegt hat.
Newton hatte keine Kommunikationssatelliten im Sinn, als er die Gravitation erforschte. Röntgen hat sich nicht für Medizin interessiert, als er die Röntgenstrahlen entdeckte. Flemming hat kein Heilmittel für Millionen Menschen gesucht und trotzdem das Penicillin gefunden. Usw… Forscher forschen hauptsächlich, weil sie neugierig sind. Und im Allgemeinen kann niemand sagen, was am Ende an Anwendungen entstehen wird. Grundlagenforschung heisst ja auch deswegen Grundlagenforschung, weil sie die Grundlage für alle möglichen Anwendungen ist.
Trotzdem ist es heutzutage oft sehr schwierig, diese Forschung zu finanzieren. Politiker wollen nicht mehr langfristig denken sondern sind an schneller Verwertbarkeit interessiert – die aber die Grundlagenforschung nicht garantieren kann. Trotzdem wären Kürzungen bei der Grundlagenforschung fatal.
Sagan findet folgenden Vergleich: Wir können das Getreide essen, dass für die Saat im nächsten Jahr vorgesehen wäre. Dann haben wir diesen Winter viel zu essen. Mehr als normal. Im nächsten Winter aber gar nichts mehr.
Wissenschaftler haben keine große Lobby. Umso wichtiger ist es, dass sie trotzdem probieren, den Menschen so gut wie möglich zu vermitteln, was sie tun und warum sie es tun. Natürlich gibt es jede Menge andere wichtige Dinge, für die Geld ausgegeben werden muss. Aber, so sagt Sagan, wir sind eine wohlhabende Gesellschaft. Wir können uns auch ein paar Maxwells leisten!
Rezensionen der vorhergehenden Kapitel: Kapitel 1, Kapitel 2, Kapitel 3, Kapitel 4, Kapitel 5, Kapitel 6, Kapitel 7, Kapitel 8, Kapitel 9, Kapitel 10, Kapitel 11, Kapitel 12, Kapitel 13, Kapitel 14, Kapitel 15, Kapitel 16, Kapitel 17, Kapitel 18, Kapitel 19, Kapitel 20, Kapitel 21, Kapitel 22
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