Über die studentischen Proteste der letzten Wochen wurde hier bei den ScienceBlogs schon einiges geschrieben. Ich habe ein wenig über die protestierenden Studenten gemerkt und ein paar betroffene Studenten haben ihre Situation geschildert. Dann habe ich vom immer geringer werdenden Interesse der Protestierenden am Protest berichtet und über einen Vorschlag des Bloggers Niko Alm, wie man der drohenden Räumung des Audimax der Uni Wien entgegentreten könnte.
Nun, dieser Vorschlag wurde nicht durchgeführt und das Audimax wurde am 21. Dezember von der Polizei geräumt.
Über diese Räumung des “Mutterschiffs” der Studentenproteste, drüber, wie erfolgreich der Protest bisher war und wie es weitergehen soll berichtet hier in einem Gastbeitrag Michael Horak (@fatmike182 bei Twitter).
#unibrennt-Mutterschiff gekapert!
80 Mann über Board, restliche Mannschaft in Rettungsboot untergebracht.
Wir schreiben den Tag 61 des Audimaxismus – den kürzesten seiner Zeitrechnung. Ein Tag, der begann, noch bevor die Sonne richtig aufgehen konnte. Ein Audimaxismus-Tag, der bereits kurze Zeit später die lange Nacht antrat.
Nach zwei Monaten Studentenprotest, ausgehend von der Akademie der bildenden Künste Wien über das Erobern der Stabstelle an der Universität Wien (visualisiert von @rigardi, Dokumentation von @nacaseven, @fig_88, @georgmahr, Nachlese von derStandard.at) bis zum internationalen Wachrütteln in über 80 Universitäten in Deutschland, Frankreich, Großbritannien,… wurde die, mittlerweile zur Kulturform stilisierte, Bewegung gestürzt.
Unsere Unis (by zurPolitik.com) auf einer größeren Karte anzeigen
(Karte erstellt von @schaffertom)
#unibrennt hat cool gemacht, wenn es bei der Landesversammlung der Grünen Wien erwähnt wurde, es ist nach wie vor trendy mit den Unibrennt-Buttons herumzulaufen, man ist mitunter stolz Teil davon gewesen zu sein. Klar, bei dem Lob und Feedback…
Pünktlich zum viertelhundertsten Jahrestag der systemisch verwandten Besetzung in Hainburg (in einem mittlerweile zum Naturschutzgebiet erklärten Areal hätte ein Wasserkraftwerk errichtet werden sollen, die Protestbewegung konnte das damals erfolgreich verhindern. Drei Tage vor Weihnachten wurde damals der „Weihnachtsfrieden von Hainburg” verkündet – der Rektor der Universität Wien hat drei Tage vor Weihnachten was anderes gemacht) bäumt sich wieder ein Teil der Bevölkerung auf; nicht verwunderlich, dass die Rückendeckung von damaligen Profiteuren kommt.
Schriftsteller Klaus Werner-Lobo (@olobo, “Schwarzbuch Markenfirmen”) hilft uns den Hahn zu rupfen (Anm: Österr. Wissenschaftsminister Johannes „wirbrauchenkeincern” Hahn), Robert Menasse erklärt die besetzte Uni zum Hohen Haus, Vorzeige-Intellektueller Robert Misik (@misik) erklärt solidarisch wie “alright” wir agieren, Punk Band Anti-Flag fragt rhetorisch, ob wir gehen sollen, oder doch bleiben wollen, Che Guevaras Ex-Chauffeur & Soziologe Jean Ziegler sagt uns, dass wir am richtigen Weg sind, Bauchklang applaudiert uns und bringt dabei das #audimax zum platzen, Hans Söllner ruft auch auf, aufzustehen, wenn uns was nicht passt, attac-Sprecher Christian Felber stimmt “bildung statt Ausbildung” zu…
Und auch abseits des Namedroppings kann durch Quantifizieren gezeigt werden, wie mächtig die losgetretene Bewegung ist, der die bildungspolitiker gegenüberstehen. Gerald Bäck (@geraldbaeck) hat eine theoretische Reichweite des Protestes über das verbreitete Web2.0-Tool Twitter von 21 Millionen User ermittelt; real waren das nahezu 400.000 bestätigte einzelne Empfänger. Im Datenerfassungszeitraum von vier Wochen wurden 66.329 einzelne solche Kurznachrichten versendet, wobei durchschnittlich jede dritte Nachricht auch von wem anderen weitergeleitet wurde. Max Kossatz (@karli) hat sich dem zeitlichen Verlauf gewidmet und stellt seine Analyse in einem eindrucksvollen Video dar in dem man punktgenau erkennen kann, wann die Bewegung auf ganz Deutschland übergeschwappt ist und welchen Einfluss der Tag der Großdemonstartion hatte (am besten in HD und fullscreen betrachten):
Walter Rafelsberger (@walterra) untermauert das noch mit einer Rhizom-Virtualisierung bezogen auf den Hashtag #unibrennt.
Aber darf man sich von Internet-bezogenen Analysen blenden lassen? Kann man von >30.000 Facebook-Fans, mittlerweile >90.000 Tweets auf weniger internet-affine Leute, vorwiegend die Entscheidungsträger, rückschließen? Michael Schuster (@smi) hat sich den deutschsprachigen (meinungsbildenden) Printmedien gewidmet, in denen er im vergleichbaren Zeitraum 2700 Artikel extrahieren konnte – ein Ergebnis welches mich ziemlich überrascht hat: zehn Zeitungsartikel pro Tag über die Uniproteste!
Wie kann einer so massiven Bewegung das Mutterschiff gekapert werden? Einer Bewegung die das Wort des Jahres “Audimaxismus” und auch den Spruch des Jahres “Reiche Eltern für alle” (leider ist es nicht “für leiwand gegen oasch“) erfunden und geprägt hat…
Welche Veränderungen haben stattgefunden – haben welche stattgefunden? Hat sich die Politik durchgesetzt, indem sie den Protest ausgesessen und ignoriert haben? Hätten wir bereits da kapitulieren sollen und mit einer großen Abschiedsparty abziehen, so wie Niko Alm (@nikoalm) vorgeschlagen hat (der sich mit Prognose 4 nur um 80 Minuten geirrt hat)?
Ich bin der Ansicht, dass ein “Wir haben es probiert, die Politik ist aber zu stur” verfrüht gewesen wäre – sehe es aber sehr wohl als Fehler der Bewegung, dass nie seriös einer Exit-Strategie angedacht wurde. Aber wer denkt schon daran, dass kurz vor den lehrveranstaltungsfreien Ferien ein ohnehin 2 Wochen lang leerstehender Raum geräumt wird?
Wenige Stunden, bevor sich die Caritas um die von den Studenten betreuten Obdachlosen gekümmert hätte (Anm: auch rechtlich stellt in dieser Hinsicht die Räumung ein Problem dar). Wenige Stunden, bevor im Plenum beschlossen worden wäre, dass das #audimax für Lehrveranstaltungen freigegeben wird, wenn seitens des Rektorates eine Bewertung des Forderungenkatalogs vorliegt. Hat das Rektorat den Studentenprotest dahingehend “solidarisch” ausgenutzt um mehr Geld für “ihre” Universitäten zu bekommen oder liegt wirklich auch Inhalt in den Worthülsen der Unileitung? Das Mutterschiff wurde “aus Sicherheitsgründen” gekapert, die Bes(a/e)tzung ist in ein Rettungsboot ausgewichen, der Rektor bereits zum Rücktritt aufgefordert worden. Informationskampagnen wie #wienbrennt, die eigene Aufklärungszeitung “Morgen“,… war das der absolute Horizont der Bewegung?
Schon aus internationaler Sicht wäre es schade, wenn der ursprüngliche Brandherd, das Statussymbol Wiener #audimax, verglüht – aber die Beweggründe weiterzumachen gehen über pure Solidarität hinaus. Es wurde noch nichts erreicht.
Ein langer Forderungskatalog prangert herrschende Probleme an bildungsstätten an. Die Umsetzung ist essenziell, die Ansatzpunkte definiert, nie wären so viele motivierte Leute greifbar, um eine Änderung zu definieren. bildung statt Ausbildung. Dieser simpel klingende, aber oft missverstandene Satz spiegelt einen Großteil der Mängel: das Ökonomisierungsparadoxon.
Seitdem Humboldt schon festgestellt hat, dass so eine Ökonomisierung langfristig das Gegenteil zur Folge hat, ist es schade, dass Politik und Industrie scheinbar genug Einfluss auf den bildungssektor erlangen. Ausbildung heißt rezente, vordefinierte, jetzt-optimierte Umgebungen. bildung heißt anhand von umfangreichen Grundlagen ein eigenes Bild, eine eigenständige Position zu erarbeiten. bildung sieht keine Orientierung vor und ist undogmatisch. Spätere Akademiker können nur dann Systeme verändern, wenn sie außerhalb derer Restriktionen gelernt haben.
Je früher das erkannt wird, desto früher wird bildung wieder groß geschrieben.
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