Die dunkle Materie existiert jetzt doch nicht. Zu dem Schluß könnte man zumindest kommen, wenn man in letzter Zeit die Berichterstattung in den Medien verfolgt hat. Bonner Astronomen haben Beobachtungen gemacht, die in Widerspruch zur bisherigen Auffassungen der dunklen Materie stehen. Ist die dunkle Materie nun also vom Tisch? Nein, nicht wirklich…
Wie die Astronomen auf die Idee gekommen sind, dass es sowas wie dunkle Materie geben muss, habe ich schonmal in einem eigenen Artikel beschrieben. Die Kurzfassung: Bei der Beobachtung von Galaxien, Galaxienhaufen und Sternhaufen hat man bemerkt, dass sich die Dinge nicht so bewegen wie sie es eigentlich tun sollten. Das kann nun zwei Gründe haben: entweder wir benutzen zur Beschreibung der Bewegung die falschen Formeln oder da ist noch irgendetwas, das wir nicht berücksichtigt haben und das mit seiner Masse die Bewegung der Himmelskörper beeinflusst. Also entweder das Newtonsche Gravitationsgesetz bzw. die Einsteinschen Formeln der Allgemeinen Relativitätstheorie mit denen wir beschreiben, wie sich Objekte unter dem Einfluss der Gravitation bewegen sind falsch. Dann müssen wir neue Gleichungen suchen, die dann hoffentlich alles richtig beschreiben und bei denen die Diskrepanz zwischen Beobachtung und Theorie nicht mehr auftritt. Oder die Gleichungen sind richtig. Dann muss da aber im Universum noch viel mehr Materie existieren, die die Bewegung der Sterne und Galaxien beeinflusst – die wir aber nicht sehen können. Eben “dunkle Materie”.
In den letzten Jahrzehnten wurden beide Ansätze von den Astronomen verfolgt. Die einen beschäftigten sich mit alternativen Gravitationsgesetzen – hier sind z.B. MOND (MOdifizierte Newtonsche Dynamik) oder TeVeS (Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie; eine alternative zur allgemeinen Relativitätstheorie) entstanden. Auf der anderen Seite haben die Astronomen immer genauere “Beobachtungen” der dunklen Materie gemacht. Natürlich nicht direkt – wir können sie ja nicht sehen. Aber man kann auf verschiedenste Weise die Gravitationskraft messen, die auf Objekte im All wirkt und so hat man immer mehr Informationen über die Verteilung der hypothetischen dunklen Materie bekommen. In der Zwischenzeit haben sich Theoretiker Gedanken über die Natur der dunklen Materie gemacht und dabei interessante Ergebnisse erhalten. Heutzutage laufen einige Experimente (u.a. auch am großen Teilchenbeschleuniger LHC) die bisher unbekannte Teilchen finden können – mit vielversprechenden Ergebnissen. Auch aktuelle kosmologische Theorien haben Hinweise auf die Existenz der dunklen Materie geliefert.
Heute geht die große die Mehrheit der Astronomen davon aus, dass die Unterschiede zwischen Beobachtung und Theorie tatsächlich auf die Existenz einer bisher unbekannten Form von Materie zurückzuführen sind. Aber die “Gegenseite” forscht immer noch an alternativen Gravitationstheorien und dazu gehören auch Pavel Kroupa von der Universität Bonn und seine Kollegen. Kürzlich haben sie eine neue Arbeit mit dem Titel “Local-Group tests of dark-matter Concordance Cosmology: Towards a new paradigm for structure formation?” veröffentlicht. Dabei haben sie Beobachtungen gemacht, die bisherigen Vorstellungen über die dunkle Materie widersprechen.
Zum Beispiel sollten gewissen Galaxien umso heller sein, je mehr dunkle Materie sie enthalten. Denn man geht davon aus, dass sich ursprünglich zuerst die dunkle Materie zu “Klumpen” zusammengefunden hat die dann die normale Materie angezogen haben. Je mehr dunkle Materie desto mehr normale, helle Materie sollte es also geben. Das konnte aber bei Beobachtungen nicht bestätigt werden. Dazu kommen noch andere Gründe die ebenfalls zeigen, dass sich dunkle Materie anscheinend nicht so verhält, wie man gedacht hatte. Ich will das jetzt nicht im Detail erklären – ich bin auch kein Experte für dunkle Materie und möchte hier nicht noch mehr Verwirrung stiften als sowieso schon herrscht.
Eines ist aber klar – die dunkle Materie ist jetzt wegen dieser Arbeit noch lange nicht vom Tisch. Wir wissen einfach noch nicht genug. Wir wissen nun, dass bestimmte Modelle der dunklen Materie (es gibt ja viele verschiedene) in bestimmten Situationen nicht funktionieren. Aber das ist jetzt nicht so tragisch, wie es klingt. Und wenn Pavel Kroupa sagt:
“Jede einzelne dieser Beobachtungen stellt das Dunkle-Materie-Modell vor Probleme Zusammengenommen kollidieren sie so stark mit der Theorie, dass diese nicht mehr zu halten scheint. Wir müssen uns auf die Suche nach Alternativen machen.”
dann halte ich das für etwas übertrieben. Wie ich schon sagte: wir wissen noch nicht genug. Was wir wissen ist, dass ein Problem existiert: unter der Annahme das die “normale” Materie; die Materie die wir sehen, die gesamte Materie ist, die existiert lässt sich das Universum nicht korrekt beschreiben. Für die Existenz der dunklen Materie gibt es sehr viele gute Belege. Oder besser gesagt: für die Existenz von “etwas” gibt es sehr viele gute Belege. Aber was genau dieses “etwas” ist, ist noch unklar und insofern ist es auch schwierig Vorhersagen über das Verhalten dieses “etwas” zu machen. Wir wissen auch, dass die allgemeine Relativitätstheorie unter gewissen extremen Bedingungen nicht mehr funktioniert und theoretische Physiker überall auf der Welt sind auf der Suche nach einer neuen Theorie der Quantengravitation und einem neuen Verständnis von Gravitation. Für die Existenz so einer Theorie gibt es ebenfalls sehr viele gute Belege – aber auch hier wissen wir nicht, wie die am Ende im Detail aussehen wird.
Wenn wir noch ein paar Jahre warten, dann sieht die Situation vielleicht ganz anders aus. Vielleicht haben die Teilchenphysiker dann schon neue Teilchen nachgewiesen, aus denen die dunkle Materie bestehen könnte. Dann können wir auch ganz konkrete Vorhersagen machen die sich dann auch ganz konkret bestätigen oder widerlegen lassen. Vielleicht gibt es neue astronomische Beobachtungen (z.B. von der GAIA-Mission) die uns neue Informationen über die Bewegung der Himmelskörper liefern. Vielleicht haben wir dann neue, konkrete Ideen für die Modifizierung der allgemeinen Relativitätstheorie.
Momentan jedenfalls braucht man die dunkle Materie noch nicht abzuschreiben. Nur weil man damit noch nicht alles erklären kann, heisst das nicht, dass sie widerlegt ist (das erklärt z.B. auch SB.com Kollege Ethan Siegel in einem seiner Artikel). In einem Punkt stimme ich mit Pavel Kroupa aber absolut überein. Wenn er sagt
“Wir müssen uns auf die Suche nach Alternativen machen.”
dann hat er natürlich Recht! Bei der Forschung zu diesem Thema herrscht im Prinzip der selbe Zustand wie in der theoretischen Physik den auch schon Lee Smolin in seinem Buch “Die Zukunft der Stringtheorie” beschreibt. Hier ist es so, dass fast die gesamten Ressourcen der theoretischen Physik auf die Erforschung der Stringtheorie verwendet werden und Alternativen wie beispielsweise die Schleifen-Quantengravitation nur von einer kleinen Minderheit der Wissenschaftler verfolgt werden. Natürlich gibt es in der Wissenschaft genauso “Mode-Themen” wie anderswo. Aber wenn bei der Lösung eines Problems ein Ansatz zu stark bevorzugt wird, dann kann das problematisch werden.
Ich selbst habe in meinem Blog nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich ebenfalls zu den Leuten gehöre, die davon ausgehen, dass die dunkle Materie tatsächlich eine neue, bisher unbekannte Form von Materie ist. Ich finde die bisherigen Untersuchungen zum Thema überzeugend. Aber ich hätte auch kein Problem damit, von einer modifizierten Gravitationstheorie überzeugt zu werden. Neue Gleichungen die die gravitative Wechselwirkung beschreiben sind mindestens so spannend wie eine neue Form von Materie! In der Vergangenheit haben sowohl die jeweiligen Entdeckungen neuer Gravitationsgesetze (von Newton und Einstein) als auch die jeweiligen Entdeckungen neuer Form von Materie wissenschaftliche Revolutionen ausgelöst! Ich gehe zwar davon aus, dass in diesem Fall die Revolution durch die Entdeckung neuer Materie ausgelöst wird und nicht durch die Entdeckung neuer Gleichungen. Aber falls ich mich irre, dann wäre es gut zu wissen, dass es noch genügend Wissenschaftler gibt, diesen anderen Weg verfolgen. Und wer weiß: es kann gut sein, dass beide Recht haben. Es gibt auch einige Überlegungen die davon ausgehen, dass wir sowohl eine neue Form von Materie als auch eine neue Formulierung des Gravitationsgesetzes brauchen, um das Universum richtig zu beschreiben…
Was auch immer am Ende raus kommt: ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten etwa 10 Jahren mehr wissen. Ich bin gespannt!
P.S. Hier bloggt übriges Marcel Pawlowski; einer der Autoren des Artikels. Vielleicht meldet er sich ja auch hier in den Kommentaren nochmal und beantwortet etwaige Fragen aus erster Hand.
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