Im Januar machte man sich in Grönland Sorgen. Die Polarnacht ging viel früher zu Ende als erwartet. In Ilulissat sollte die Sonne eigentlich erst am 13. Januar wieder über dem Horizont erscheinen. Stattdessen war sie schon am Mittag des 11. Januar zu sehen. Was war da los? Wenn die Astronomen eines können, dann vorherzusagen, wann die Sonne auf und untergeht! Immerhin machen sie das schon seit Jahrhunderten ohne Probleme. Warum klappt das auf einmal nicht mehr?
In der einschlägigen Szene wurden natürlich sofort über die wildesten Ursachen spekuliert. Die Erdachse hat sich verschoben! Der Weltuntergang naht!! Wir werden alle sterben!!!
Aber natürlich hat die Erdachse damit nichts zu tun. Wenn sich die Erdachse merklich verschiebt, dann bemerkt man das nicht nur in einer kleinern westgrönlandischen Stadt. Das merkt jeder Astronom auf diesem Planeten; jeder Meteorologe, jeder Pilot und all die anderen zehntausenden Menschen die ständig auf eine exakte Positionsbestimmung oder Satellitendaten angewiesen sind. Aber wenn die Achse der Erde gleich geblieben ist, wieso geht die Sonne dann zu früh auf? Können die Astronomen die Bewegung der Himmelskörper und deren Auf- und Untergang doch nicht so exakt vorhersagen wie man immer denkt?
Naja – die Sache ist ein wenig komplizierter als man denkt. Die eigentlichen Gleichungen zur Berechnung von Sonnenauf- und untergangszeiten sind dabei aber nicht so schwierig. Mit ein wenig Trigonometrie kann man sie leicht aus der sphärischen Astronomie ableiten. Dazu reicht die Oberstufenmathematik locker aus. Aber was berechnet man da eigentlich? Man bestimmt den Zeitpunkt, an dem die Sonne sich genau am Horizont befindet bzw. den Zeitpunkt, an dem sie das erste Mal dort erscheint (Aufgang) oder an dem sie komplett dahinter verschwunden ist (Untergang). Im idealisierten Fall der Gleichungen ist die Erde dabei ein Kugel ohne Eigenschaften. Es gibt keine Gebirge, keine Täler usw. Der Horizont ist überall gleich und überall komplett frei. In der Realität ist das aber natürlich nicht so. Es nützt einem nicht das geringste dass gerade Hochsommer ist und die Tage lang und voller Sonnenschein sind wenn man blöderweise gerade in einem tiefen Bergtal wohnt und die Sonne nur mal kurz mittags, wenn sie genau darüber steht, rein scheint und danach gleich wieder hinter den Bergen – der lokale Horizont! – verschwindet. Will man also die Sonnenauf- und untergangszeiten für einen ganz spezifischen Ort auf der Erde bestimmen und das auch noch sehr exakt: dann muss man auf jeden Fall den lokalen Horizont berücksichtigen.
Aber im Normalfall (tiefe Bergtäler gehören jetzt mal nicht dazu) sollte das ja nicht so eine große Rolle spielen! Vielleicht verschätzt man sich beim Auf- oder Untergang um ein paar Minuten und selbst wenn die Sonne hinter nem Hügel aufgeht sieht man ja doch ein bisschen Streulicht. Wenn die Sonne ganze zwei Tage zu früh aufgeht, dann muss da schon was anderes passiert sein. Aber was?
Der lokale Horizont ändert sich normalerweise nicht. Ein Berg im Osten der die Sonne nach ihrem Aufgang erstmal abblockt verschwindet z.B. nicht plötzlich. Gut, es kann zwar sein dass jemand einen strategisch günstig stehenden Baum fällt oder dass ein Hochhaus irgendwo gebaut wird. Aber das sind nicht wirklich die Veränderungen die groß ins Gewicht fallen und auf jeden Fall nicht das, was in Ilulissat passiert sein muss (dort gibts ja weder Bäume noch Hochhäuser). Was es in Ilulissat aber gibt ist der seltene Fall eines Horizonts der sich tatsächlich ganz unproblematisch ändern kann. Denn dort gibt es jede Menge Eis! Der Blick von Ilulissat Richtung Sonnenaufgang geht zum Ilulissat-Fjord in dem Eisberge schwimmen und dahinter ist ein großer Gletscher. Die erste Vermutung, die zum verfrühten Sonnenaufgang geäußert wurde bezog sich dann auch auf diesen eisigen Horizont. Wenn der nämlich abgschmilzt, dann könnte sich die Sonne früher zeigen. Um die 2 Tage Unterschied zwischen Theorie und Beobachtung zu erklären braucht es nur 20 Meter weniger Eis (etwa 3 Kilometer entfernt von Ilulissat). Ein Foto das am 11 Januar aufgenommen wurde zeigt auch tatsächlich Eisberge im Fjord, die vergleichsweise klein sind und das auch in Grönland dank des Klimawandels immer mehr Eis verschwindet wissen wir ja leider mittlerweile.
Aber es gibt noch eine wesentlich einfachere Erklärung: astronomische Refraktion! Refraktion ist ein bekanntes Phänomen in der Physik. Wenn ein Lichtstrahl sich von einem Medium in ein anderes bewegt deren optische Eigenschaften sich unterscheiden (zum Beispiel von Luft in Wasser), dann ändert er dabei seine Richtung. Dieses Bild demonstriert das schön:
Wenn der Lichtstrahl auf den Halbkreis aus Plexiglas trifft, dann wird er teilweise reflektiert und teilweise abgelenkt. Und genau das passiert auch, wenn Licht aus dem All auf die Atmosphäre der Erde trifft. Deswegen scheinen für uns die Himmelskörper etwas höher zu stehen als sie es eigentlich tun:
Aber die Refraktion läuft nicht so simpel ab wie ich es im Bild oben gezeigt habe. Sie hängt von der Beschaffenheit der verschiedenen Luftschichten ab, von der Temperatur, dem Druck, etc. Das alles ändert sich natürlich ständig und damit auch die Refraktion. Deswegen flackern die Sterne übrigens auch ständig: die Refraktion lässt ihre Position scheinbar ständig um eine Kleinigkeit hin- und her springen. Außerdem ist die Refraktion höhenabhängig. Je höher ein Objekt am Himmel steht desto geringer ist sie. Fällt das Licht genau senkrecht ein (also steht ein Stern oder Planet im Zenit), dann gibt es gar keine Refraktion. Je näher man aber dem Horizont kommt, desto stärker wird sie. Das erklärt auch, warum zum Beispiel die Sonne beim Auf- oder Untergang oft so seltsam verformt wirkt. Sie erscheint am Himmel nicht als Lichtpunkt wie ein Stern sondern als ausgedehnte Scheibe und das Licht das uns von ihrer Oberseite erreicht wird in der Atmosphäre weniger stark gebrochen als das Licht von der Unterseite. Deswegen sehen wir sie nicht als schöne Kreis sondern etwas gestaucht. Das sieht man bei dieser Aufnahme vom Mond (fotografiert vom Space Shuttle aus; durch die Atmosphäre der Erde hindurch) recht schön:
Wie ich schon sagte ist die Refraktion am Horizont besonders groß. Dort wird ein Objekt um etwa 35 Bogenminuten gehoben. Das entspricht auch in etwa der scheinbaren Größe der Sonne am Himmel. Wenn wir also sehen, dass die Sonnenscheibe gerade komplett über dem Horizont steht, dann befindet sie sich in Wirklichkeit noch genau darunter:
Die Refraktion kann aber noch viel stärker sein! In dem kürzlich erschienen Artikel “Verfrühtes Ende der Polarnacht in Nordwestgrönland” (Der Sternenbote, März 2011) haben sich Thomas Posch von der Unisternwarte Wien und Klaus Bernhard aus Linz mit diesem Thema beschäftigt. Unter den richtigen atmosphärischen Bedingungen kann die Refraktion bei Sonnenaufgang bis zu 120 Bogenminuten betragen! In Ilulissat musste die Refraktion nur um 20 Bogenminuten größer sein als normal um das verfrühte Aufgehen zu erklären. Das hätte ausgereicht um die eigentlich noch unter dem Horizont stehende Sonne weit genug zu heben um sie 2 Tage früher aufgehen zu lassen. Diese These wird durch Luftdruckmessungen bestätigt die zeigen, dass der am 11. Januar 2011 tatsächlich viel höher war als in den Jahren davor. Außerdem zeigen Fotos vom Sonnenaufgang, dass sie Sonnenscheibe deutlich verformt ist; bestätigen also die starke Refraktion.
Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass so ein verfrühtes Ende der Polarnacht kein unbekanntes Phänomen ist. Man kennt schon seit längerem den “Novaya Zemlya-Effekt”. Wenn in der Arktis der Lichtweg besonders lang ist und das Licht an genau den richtigen Inversionsschichten (d.h. dass die Temperatur der Luft weiter oben wärmer ist als weiter unten) gebrochen wird, dann kann die Sonne beim Aufgang um bis zu 5 Grad (das wären 1800 Bogenminuten!) gehoben werden was dazu führen kann dass die Polarnacht bis zu 10 Tagen früher endet als normalerweise. Das hat man das erste Mal 1596 in der Nähe der Insel Novaya Zemla beobachtet.
Also: kein Weltuntergang, keine verschobene Erdachse und keine geheimnisvollen Phänomene. “Nur” ein äußerst interessanter physikalischer Effekt den wir jede Nacht beobachten können wenn wir die funkelnden Sterne betrachten und der durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren diesmal für eine Überraschung in Grönland gesorgt hat!
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