Nicht nur die Theorie der Dunklen Energie und MOND wurden als Erklärungsversuche in Betracht gezogen, auch die Dunkle Materie kam für kurze Zeit in Betracht, die Anomalie zu lösen. Dies scheiterte jedoch an zwei Gründen:
- Wenn es in unserem Sonnensystem eine derart große Menge an Dunkler Materie (in 50 AU müssten sich 5,9·1026 kg befinden) angesammelt hätte, dann wären auch die Planetenbahnen davon betroffen. Dies ist jedoch laut den genauen Vermessungen der Planetenbahnen nicht der Fall.
- Das Sonnensystem hat, nach unserem Verständnis, in seiner Lebensdauer von 4,5·109 Jahren nur etwa 1020 kg an Dunkler Materie ansammeln können. Diese Masse kann in keiner Weise den Betrag der Pioneer-Anomalie erklären.
Da es nicht nur um die Ursache, sondern auch um das Wesen der Anomalie zahlreiche offene Fragen gibt, wurde mehrfach vorgeschlagen eine eigene Mission zu starten um die Anomalie genauer zuvermesen. Erstes Ziel der Mission sollte sein die Anomalie zubestätigen. Desweiteren sollte die Größe der Beschleunigung genau bestimmt werden, sowie ihre genaue Richtung (in Richtung Sonne, Erde, Geschwindigkeitsvektor oder Spinachse). Außerdem sollte das Verhalten der Anomalie über lange Zeiträume hinweg überprüft werden und ob der Effekt auch außerhalb der Ekliptik auftritt.
Als vielversprechende Erklärung hat sich die unterschätzte thermische Emission und Reflexion der Sonden herauskristallisiert. Der Hintergrund ist der, dass die Photonen der Wärmestrahlung bekannterweiße auch einen Impuls haben. Strahlt die Sonde nun in eine Richtung mehr Wärme als in die entgegengesetzte ab, so wirkt auf die Sonde dadurch eine Beschleunigung.
Da alle anderen internen Fehlerquellen relativ genau modelliert wurden und externe Fehlerquellen als Ursache ausgeschlossen wurden, nehmen wir an, dass die Beschleunigung durch die thermische Abstrahlung zustande kommt. Dies würde allerdings zur Folge haben, dass die Anomalie nicht konstant ist, sondern, wie die Halbwertszeit von Pu-238 in den RTGs, abnimmt. Da im Jahr 2002, als die erste umfangreiche Arbeit über die Pioneer-Anomalie veröffentlicht wurde, noch kein vollständiger Telemetrie Datensatz vorlag, konnte dies damals noch nicht überprüft werden. Die momentan laufenden Analysen der gesamten Daten könnten darüber Aufschluss geben.
Die Untersuchung der thermischen Emission ist zur Zeit Bestandteil einiger Studien. Ende März 2011 wurde auf dem Preprint-Server ArXiv.org eine Arbeit von portugisischen Wissenschaftlern veröffentlicht, die eine Erklärung für die Anomalie aufgrund der thermischen Abstrahlung gefunden haben wollen – eine Veröffentlichung in in Physical Review D wird angestrebt. Die zentrale Annahme in dieser Arbeit ist die, dass nicht nur die RTGs als Lambertstrahler1 angenommen werden, sondern auch das Fach für die technischen Geräte als Lambertstrahler modelliert werden muss. Außerdem wird die Reflexion von thermischer Emission an der Sonde mit in die Berechnungen mit einbezogen. Am 20. April 2011 veröffentlichen Benny Rievers und Claus Lämmerzahl vom ZARM in Bremen ebenfalls auf ArXiv.org eine Arbeit welche die Anomalie ebenfalls durch thermische Abstrahlung erklärt. Sie simulieren die thermische Abstrahlung jedoch mit der Methode der finiten Elemente. Somit gibt es eine unabhängige Überprüfung. Die enge zeitliche Abfolge der beiden Veröffentlichungen lässt uns vermuten, dass es hier offensichtlich ein Wettrennen zwischen den beiden Gruppe gab.
Diese Erklärungsmodelle werden zur Zeit vom JPL, namentlich von J.D. Anderson, M.M. Nieto und S.G. Turyshev2 überprüft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit die Pioneer-Anomalie gelöst ist.
Mit der Lösung der Pioneer-Anomalie, 40 Jahre nach dem Start der Sonden und 30 Jahre nach Entdeckung der Anomalie, geht ein wichtiges Kapitel der Astrophysik zu Ende. Die Ergebnisse werden für zukünftige Deep Space Raumfahrtmissionen wichtige Erkenntnisse sein.
Auch die wissenschaftliche Bedeutung ist groß:
Die Pioneer-Sonden stellten einen der größten Tests unserer Gravitationsgesetze dar, und während es anfangs so aussah, als ob die Daten unserem Weltbild widersprechen würden, so scheinen die Daten nun unsere Gesetze zu bestätigen. Die bereits seit längerer Zeit laufende Neuanalyse der kompletten Daten der Sonden, könnte dies abschließend klären.
Auch wenn die gefundene Erklärung eine im Vergleich zu andern Vorschlägen (Dunkle Energie, Dunkle Materie, MOND) vergleichsweise konservativ und fast schon “langweilig” ist, so ist die wissenschaftliche Bedeutung der Anomalie dadurch nicht geschmälert, sind es doch gerade auch Negativ-Resultate und Überprüfungen existierender Theorien, die die Wissenschaft zu dem macht was sie ist.
1: Ein Lambertstrahler ist ein Objekt, welches in alle Raumrichtungen gleichmäßig Strahlung abgibt
2: Diese drei können auch als die Entdecker und führenden Experten der Anomalie angesehen werden.
Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Arbeit “Die Pioneer-Anomalie” von Judith Selig; Michael F. Schönitzer und Florian Schlagintweit. Diese Arbeit ist trotz ihrer Ausführlichkeit explizit auch für Nicht-Physiker/Astronomen verständlich geschrieben. Sie kann unter https://pioneer.99k.org/ frei heruntergeladen werden. Dort findet man auch eine Auseinandersetzung von Michael F. Schönitzer mit der Bedeutung der Lösung der Pioneer-Anomalie.
Kommentare (47)