“Blaue Nachzügler”? Was soll das denn sein? Betrunkene Mitglieder einer Reisegruppe die den Anschluss verloren haben? Oder Mitglieder einer politischen Partei (zumindest in Österreich passt die Farbe) deren Geschichtsbild der Gegenwart ein wenig hinterherhinkt? Nein, es handelt sich dabei nur wieder mal um eine der kreativen Bezeichnungen die Astronomen gewissen Typen Sternen geben. So wie es “Rote Riesen” oder “Weiße Zwerge” gibt, gibt es auch die “Blauen Nachzügler” (die normalerweise besser unter ihrer englischen Bezeichnung “blue stragglers” bekannt sind). Und wie der Name schon vermuten lässt, handelt es sich dabei um Sterne, deren Entwicklung anscheinend etwas langsamer verlaufen ist als sie eigentlich sollte.
In einem früheren Artikel habe ich schon mal über das Leben und Sterben der Sterne erzählt und die Entdeckung der Astronomen Einar Hertzsprung und Henry Noris Russell dass die Sternmassen und -leuchtkräfte nicht beliebig verteilt sind sondern auf ganz spezielle Art und Weise zusammenhängen. Wie das passiert, zeigt die wichtigste Abbildung der Astronomie: das Hertzsprung-Russell-Diagramm (HRD):
Ein normaler Stern befindet sich den Großteil seines Lebens auf der “Hauptreihe”, erst nachdem die Kernfusionsprozesse in seinem Inneren langsam zum erliegen kommen, wird er sich zuerst auf den “Riesenast” zur Gruppe der Roten Riesen und dann später zu den weißen Zwergen gesellen (bzw. ganz aus dem Diagramm verschwinden wenn er ein Neutronenstern oder schwarzes Loch wird). Die Position eines Sterns auf der Hauptreihe wird durch seine Masse bestimmt (je massiver desto weiter links) und ob er überhaupt noch auf der Hauptreihe ist oder schon am Riesenast hängt vom Alter ab. Das HRD oben zeigt die theoretische Situation für alle Sterne und alle möglichen Plätze die Sterne irgendwann im HRD einnehmen können. Wir können uns aber genauso auf einer Untergruppe der Sterne beschränken. Zum Beispiel alle, die sich in einem bestimmten Sternhaufen befinden. Die Sterne eines Haufens sind alle gemeinsam aus einer großen Gaswolke entstanden und sollten daher auch gleich alt sein. Die Position der Sterne im HRD hängt jetzt allein von der Masse ab. Anfangs waren sie alle auf der Hauptreihe aber je älter der Haufen wurde, desto mehr wanderten vom oberen, linken Ende, dort wo die massiven Sterne sind deren Lebenszeit kürzer ist, auf den Riesenast. Die Position des sogenannten “Abknickpunkts” an dem die Hauptreihe in den Riesenast übergeht, ändert sich also je älter der Haufen ist und man kann das HRD so benutzen, um sein Alter zu bestimmen.
1953 hat Allan Sandage ein HRD für die Sterne des Kugelsternhaufens M3 erstellt. Und dabei entdeckte er ein paar Sterne, die irgendwie nicht dort lagen, wo sie es tun sollte. So sah dass bei ihm aus:
Die relevanten Dinge habe ich farbig markiert: die Hauptreihe verläuft in etwa entlang der gelben Linie und der Riesenast knickt in rot ab. Und dann ist da noch eine seltsame Gruppe von Sternen die weiter oben auf der Hauptreihe liegen (dort wo normalerweise die blauen Sterne sind) obwohl sie eigentlich schon längst mit den anderen auf den Riesenast gewechselt haben sollten. Das waren die “Blauen Nachzügler” und anfangs wusste niemand so recht, was das für Dinger waren. Entweder die Theorien der Sternentwicklung, die man bis jetzt hatte waren falsch. Oder in den Sternhaufen sind Prozesse im Gange, die alte Sterne wieder jung machen und ihr Leben verlängern. Heute haben wir schon ein paar bessere Ideen und kennen ein paar solcher “stellarer Jungbrunnen”.
Zwei Sterne mit unterschiedlichen Massen können sich zum Beispiel in einem Doppelsternsystem befinden. Der massivere wird schneller altern und vor seinem kleineren Kollegen zu einem roten Riesen werden. Er dehnt sich natürlich aus und es kann passieren, dass dabei Material vom roten Riesen zum kleineren Stern fließt. Der wird nun schwerer werden, als es geplant war und so im HRD nicht dort landen, wo er eigentlich sein sollte. Es kann aber auch sein, dass zwei Sterne direkt miteinander verschmelzen um so einen massiveren blauen Nachzügler bilden. Wenn es sich um ein sehr enges Doppelsternsystem handelt, so eng, dass die beiden Sterne sich quasi schon fast berühren, dann können sie im Laufe der Zeit zu einem Stern verschmelzen (da sie durch Gravitationsstrahlung Energie verlieren und sich einander nähern). Natürlich kann auch eine ganz klassische Kollision zweier Sterne dazu führen, dass ein massiver Einzelstern entsteht wenn zwei kleinere Sterne zusammenstossen. Normalerweise sind Sternkollisionen eher unwahrscheinlich; in einem Sternhaufen ist die mittlere Dichte allerdings höher und die Chancen stehen ein bisschen besser.
Astronomen sind natürlich sehr interessiert an den Blauen Nachzüglern. Denn nicht nur aus den typischen Fälle kann man viel lernen; auch und gerade die Ausnahmen von der Regeln verraten viel! Und deswegen ist die Untersuchung der blue stragglers sehr wichtig, wenn man zum Beispiel verschiedene Modelle der Entwicklung eines Sternhaufens testen will. In solchen Haufen hat man bis jetzt schon viele Nachzügler gefunden – aber man würde sie auch gerne im Zentrum unserer Milchstrasse entdecken. Das stellt ja auch eine Art “Sternhaufen” dar: der sogenannte “Bulge” in der Zentralregion ist ein sphärischer Bereich mit hoher Sterndichte der von der eher dünn besiedelten Scheibe mit den Spiralarmen (dort befindet sich auch die Sonne) umgeben ist. Die Beobachtung des Bulges ist schwierig, weil wir mitten drin sind in der Galaxie und uns unter anderem viel interstellarer Staub die Sicht aufs Zentrum verstellt. Das Hubble-Weltraumteleskop hat es nun aber doch geschafft, ein paar der Blauen Nachzügler im Bulge zu entdecken! Die entsprechenden Beobachtungen wurden schon 2006 im Rahmen des Sagittarius Window Eclipsing Extrasolar Planet Search (SWEEPS) Programms gemacht bei dem man eigentlich extrasolare Planeten finden wollte. Da SWEEPS aber im Bulge gesucht (dort kann man wegen der hohen Dichte viele Sterne auf einmal beobachten) und sehr genau hingesehen hat, hat man 42 potentielle Blaue Nachzügler gefunden. Aus der Analyse der Beobachtungsdaten kann man nun einige interessante Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, dass es im Bulge so gut wie keine jungen Sterne mehr gibt. Das stützt bisherige Modelle, die besagen das die Zentralregion der Milchstraße größtenteils aus alten Sternen besteht und dort keine Sternentstehung mehr stattfindet. Mit den Beobachtungsdaten der Blauen Nachzügler lassen sich diese Modelle nun noch besser einschränken und unsere Galaxis noch besser verstehen.
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