Wir wissen, dass die großen Planeten in unserem Sonnensystem nicht dort entstanden sein können, wo sie sich heute befinden. Als sich vor 4.5 Milliarden Jahren die Planeten gebildet hatten, war das Sonnensystem noch in die ursprüngliche Scheibe aus Gas und Staub eingebettet; das Material, aus dem Sonne und Planeten überhaupt erst entstanden sind. Die Planeten mussten sich durch Gas und Staub bewegen und das führte dazu, dass sich ihre Bahnen veränderten. Hier habe ich diese planetare Migration schon im Detail beschrieben. Mit ihr lässt sich vieles erklären: Die erhöhte Anzahl an Asteroideneinschlägen vor etwa 4 Milliarden Jahren, die resonanten oder stark exzentrischen Bahnen von Exoplaneten und die große Anzahl an vagabundierende Planeten die unsere Milchstraße durchstreifen. Einer davon könnte aus unserem Sonnensystem stammen. Denn neue Computersimulationen zeigen, dass es früher vielleicht 5 große Gasplaneten hatten von denen einer im Zuge der planetaren Migration aus dem System geworfen wurde!
David Nesvorny vom Southwest Research Institute in Boulder, Colorado hat sich in seiner Arbeit mit dem Titel “Young Solar System’s Fifth Giant Planet?” die Sache mit der Migration im Sonnensystem nochmal genau angesehen. Wo genau müssen die Planeten entstanden sein und wie groß war die Gasscheibe damals? Welche Ausgangskonfiguration führt am ehesten zu dem Zustand, den wir heute beobachten?
Das ist nicht so einfach wie es klingt, denn bei der Migration ist auch jede Menge Chaos involviert. Solange die Gasscheibe noch da ist, läuft alles halbwegs geordnet ab. Aber wenn sie verschwindet (irgendwann haben die Planeten alle Gasmoleküle eingesammelt bzw. hat der Sonnenwind alles davon geblasen), dann gehts rund. Es dauert dann ein Weilchen, bis sich die Planeten auf halbwegs stabilen Bahnen angeordnet haben. Die Migration kann die Bahnen von Planeten sehr exzentrisch machen; sie können einander dann sehr nahe kommen und solche nahe Begegnungen können die Bahnen dann dramatisch ändern bzw. Planeten ganz aus dem System werfen.
Nesvorny hat nun jede Menge verschiedene Ausgangssituationen simuliert und nachgesehen, wie sie sich entwickeln. Dabei hat er nicht nur die vier bekannten großen Planeten – Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun – berücksichtigt, sondern in manchen Modellen auch noch einen fünften Planeten hinzugefügt. Der befand sich zwischen Saturn und Uranus bzw. außerhalb der Neptunbahn und seine Masse war mit der Uranus bzw. Neptunmasse vergleichbar. Zu Beginn der Simulation befinden sich die Planeten alle viel näher an der Sonne als heute; keiner war weiter entfernt als 15 astronomische Einheiten (heute ist Uranus 20 und Neptung 30 astronomische Einheiten entfernt). Das ganze wurde für verschiedene Ausgangsmassen der Gasscheibe durchgeführt; am Ende waren es knapp 6000 Simulationen bei denen die Bewegung der Himmelskörper für jeweils 100 Millionen Jahre verfolgt wurde (danach war die Scheibe verschwunden und die Migration hört auf). Danach wurde der erreichte Endzustand untersucht und überprüft, wie stark er der heutigen Situation ähnelt.
Wenn man mit den bekannten vier Planeten startet, dann erhält man (abhängig von der Masse der Scheibe) Ende in 10 bis 13 Prozent ein System, dass dem heutigen ausreichend ähnlich ist. Wird dagegen der fünfte Planet inkludiert, dann erhöht sich der Anteil auf bis zu 37 Prozent! Wenn das Ausgangssystem dichter besetzt ist, dann existieren mehr Möglichkeiten für Interaktion und Chaos und mehr Möglichkeiten, am Ende das heutige Planetensystem zu erreichen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass solche anfänglich kompakten Systeme unterwegs den einen oder anderen Planeten verlieren und aus dem Sonnensystem werfen. Wenn unsere Milchstraße wirklich voller vagbundierender Planeten ist, dann müssen die ja irgendwo her kommen.
Natürlich ist es immer schwer bis unmöglich, konkrete Aussagen über solche singulären Ereignisse in der Vergangenheit zu machen. Aber die Simulationen zeigen zumindest, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, dass unser Sonnensystem früher mehr Planeten hatte als heute.
P.S. An dieser Geschichte sieht man schön den Effekt von Öffentlichkeitsarbeit. David Nesvorny hat seine Arbeit nur auf dem Preprint-Server arXiv eingestellt. Was dort erscheint lesen hauptsächlich die Wissenschaftler; Journalisten schauen dort eher selten rein und dementsprechend wundert es auch nicht, dass diese Geschichte völlig unbemerkt blieb. Hätte Nesvorny dagegen eine Pressemitteilung verschickt, dann wäre “Sonnensystem hat einen Planeten verloren!” sicher in vielen Medien gelandet (so wie es ja auch bei Tyche der Fall war – und die Belege für die Existenz von Tyche sind auch nicht wirklich besser als die für den fünften Gasriesen). Wenn man will, dass die Medien interessante Geschichten über Wissenschaft erzählen, muss man sie darauf hinweisen. Selbst recherchieren nur mehr wenige Journalisten; zumindest wenn es um Wissenschaft geht…
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