Dass ich mich in meinem Blog immer wieder über diverse pseudowissenschaftlichen Konzepte ärgere, ist ja nichts neues. Besonders wütend macht es mich aber jedesmal, wenn Kinder betroffen sind. Wenn Erwachsene ihren Verstand beiseite legen und zum Beispiel meinen, Krankheiten mit Zuckerkugeln heilen zu können, dann ist das zwar dumm, aber wer sich dafür entscheidet, dumme Sachen zu machen, der soll das meinetwegen tun. Aber wenn Eltern ihren Kindern eine echte medizinische Behandlung vorenthalten sondern sie mit Homöopathie “behandeln”, dann ist das nicht mehr einfach nur dumm. Sowas ist gefährlich und grenzt an Kindesmißhandlung! Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene die richtigen Entscheidungen für sie treffen. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen Erwachsenen alle relevanten Dinge über unsere Welt erklären und vor allem vertrauen sie den Erwachsenen und glauben ihnen, was sie erzählen – selbst wenn es sich um großen Unsinn handelt. Deswegen hat mich der Vortrag von Barbro Walker am Züricher Denkfest auch etwas erschüttert.
Walker ist Erziehungswissenschaftlerin undarbeitet als Fachberaterin für Neurowissenschaft und Lernen am staatlichen Schulamt in Darmstadt. Ihr Vortrag trägt den Titel “Brain-Gym unter der Lupe” und behandelt ein Thema, von dem ich bisher kaum etwas gehört hat: spezielle Gymnastik, mit der sich die Lernfähigkeit von Schulkindern verbessern lassen soll.
Eine kurze Google-Suche bestätigt, dass es sich hier nicht um ein Nischenprodukt handelt, sondern etwas, das weit verbreitet ist. Auch Onlinebuchhändler wie Amazon bieten hunderte Bücher zu diesem Thema an. Auf den ersten Blick scheint das ja alles wie eine echte medizinische Therapie auszusehen. Die Bücher werden mit Texten wie den folgenden beworben:
“Es geht darum, die für das Lernen notwendigen Bewegungsgrundlagen zu schaffen, wie zum Beispiel den freien Fluss der Augenbewegungen, die Hand-Augen-Koordination, die Fähigkeit, bei sich bewegenden Augen die Zeile zu halten, und anderes. Schulisches, akademisches und berufliches Lernen basiert auf diesen Grundfunktionen. Mit teilweise sehr einfachen Übungen und Bewegungsbalancen werden darüber hinaus die notwendigen zentralen Gehirnfunktionen so integriert, dass ein Lernen mit dem ganzen Gehirn möglich wird.” (Quelle)
“[D]er Bestseller zu diesem Thema, zeigt Eltern, Lehrern und Erziehern, wie sie Lern- und Denkblockaden bei Kindern erkennen und mit gezielten kinesiologischen Übungen auflösen können: So macht das Lernen wieder Freude! Aber auch belastende Situ-ationen im Familienalltag können Eltern mit diesen Übungen spielerisch entschärfen. (Quelle)
Und der Begründer dieser ganzen angeblich lernfördernden Hirngymnastik, wird gar so angekündigt:
“Dr. Paul Dennison ist Begründer der Edu-Kinestetik (bekannt durch Brain-Gym ) und führender Experte für Gehirndominanzmuster.”
Tatsächlich sind, wie Walker in ihrem Vortrag erklärt, alle diese Übungen nicht das Resultat normaler medizinischer Forschung sondern stammen vom “Institut für angewandte Kinesiologie” in Freiburg, welches trotz seines Namens kein Forschungsinstitut ist, sondern diverse Kurse und Ausbildungskonzepte entwickelt, diese markenrechtlich schützen lässt und dann entsprechende Weiterbildungskurse verkauft. Aber was steckt denn nun wirklich dahinter?
Die “Gehirngymnastik” scheint eine Art Wundermethode zu sein, um all die Probleme zu lösen, die Kinder in der Schule so haben können. Mit den richtigen Übungen steigt die Lernleistung, es steigt die Konzentration, die Kinder sollen besser rechnen können, schöner schreiben und schneller lesen und selbst ADHS stellt durch die richtigen Übungen kein Problem mehr da. Das klingt natürlich verlockend, den schulische Probleme gehören zu den größten Sorgen, die das Familienleben schwer machen. Wenn sich all das durch ein bisschen Gymnastik ändern lassen würde, wäre das ja wirklich nicht schlecht. Nur leider scheint diese “Edu-Kinestetik” nicht wirklich eine wissenschaftliche Grundlage zu haben.
Walker hat die Bücher von Dennison und anderen Autoren analysiert und gezeigt, dass sich darin so gut wie keine wissenschaftliche Grundlage findet. Die Schriften bestehen hauptsächlich aus “euphorischen Heilsberichten, Anekdoten von Heilungen und Kritik am Schulsystem”. Dazu gibt es jede Menge Werbung und Aufforderungen, die Übungen durchzuführen. Dabei werden in den Büchern die Kinder direkt angesprochen und es wird ihnen erklärt, dass sie all ihre Probleme ganz einfach durch die richtigen Übungen lösen können. Der Zusammenhang zwischen den Übungen und der Steigerung der Lernleistung wird kaum behandelt und wenn, dann bezieht man sich auf esoterische Konzepte die der “Traditionellen Chinesischen Medizin” entstammen; zum Beispiel dem “Energiefluß” im Körper der durch die Manipulation von “Meridianen” beeinflusst werden kann. Das ganze ist durchsetzt von Pseudo-Neurowissenschaft, wie zum Beispiel der Behauptung, dass sich einzelne Hirnareale “abschalten” können. Durch die Gehirngymnastik sollen nun diese Areale “aktiviert” und der “Energiefluß” im Körper manipuliert werden. Außerdem wird immer wieder darauf hingewiesen, dass man linke und rechte Gehirnhälfte besser verbinden müsse. Bei den Übungen handelt es sich also nicht primär um physische Gymnastik und körperliche Bewegung sondern um eine “spirituelle Bewegung”. Man wird zum Beispiel aufgefordert, ganz bestimmte Gedanken zu denken. Wenn die Kinder an ein “X” denken, dann vernetzt das die Gehirnhälften und sie können danach “besser schreiben”, ihre sportliche Leistung steigt und die Organisationsfähigkeit wird ebenso verbessert. Wer mit den Händen eine Acht in die Luft schreibt, der kann besser rechnen und macht weniger Rechtschreibfehler. Die Behauptungen in den einschlägigen Büchern sind relativ vage gehalten – es wird zum Beispiel versprochen, dass man “Prüfungsaufgaben besser lösen kann” – und zusätzlich versprechen verschiedene Bücher für die gleichen Übungen ganz unterschiedliche Resultate.
Am Ende ihres Vortrags zieht Walker ein negatives Fazit. Die Hirngymnastik hat kein wissenschaftliches Fundament, sie ist inkonsistent, vage und keine explizite Theorie. Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis für die Existenz von Meridianen oder einem “Energiefluss” im Körper, der manipuliert werden kann. Das Gehirn arbeitet immer komplett und immer als Ganzes. Einzelne Areale können sich nicht abschalten und können auch nicht aktiviert werden. Beide Hirnhälften sind immer verbunden und auch nicht wirklich unterschiedlich; zumindest nicht in der absoluten Form, wie es in den Gymnastikbüchern behauptet wird. Deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn wissenschaftliche Studien, die untersucht haben, ob diese Übungen einen Effekt haben, keinen finden konnten (zum Beispiel in “Stressreduktion und Leistungsverbesserung – Hält Brain-Gym, was es verspricht?” von Logen, A., Fügemann, C., Minsel, W.-R. & Stephan, E. (2004) in “Report Psychologie” 29 (10), Seiten 602 – 608, pdf).
Aber muss man sich wirklich so sehr darüber aufregen? Was ist so schlimm daran, wenn die Kinder ein bisschen komische Gymnastik machen? Auch wenn sie nicht wirkt, könnten sich die Kinder ja vielleicht dadurch doch einfach nur besser fühlen und so mehr Selbstvertrauen entwickeln und Stress abbauen? Das Problem hier liegt allerdings woanders. Einmal sollten natürlich Lehrer in der Schule keine Pseudowissenschaft vermitteln und wenn sie den Kindern die Gehirngymnastik beibringen (und leider ist sie in den Schulen weit verbreitet), dann tun sie genau das. Aber viel schlimmer ist, dass die Übungen suggerieren, dass das Problem im Körper der Kinder liegt. Vernünftige und tatsächlich wirksame Therapien zur Behandlung von Lernschwächen werden so verhindert; die Kinder werden in den Büchern sogar explizit dazu aufgefordert, sich selbst zu helfen anstatt anderswo Hilfe zu suchen. Und schließlich gilt das, was die Hamburger Sektenexpertin Ursula Caberta gesagt hat, auch hier – darum möchte ich so wie Barbro Walker ihren Vortrag auch meinen Artikel mit diesem Zitat beenden:
“Ein demokratisch denkender Staat kann es sich nur begrenzt leisten, dass ihm die denkenden Menschen abhanden kommen.”
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