Merkur, der kleinste und sonnennächste Planet, ist seltsam. Lange konnten die Wissenschaftler seine Bewegung nicht exakt erklären, das gelang erst, als Albert Einstein 1915 die Newtonsche Theorie der Gravitation mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie ersetzte. Aber auch Merkurs Rotation um seine eigene Achse ist außergewöhnlich. Er befindet sich in einer sogenannten 3:2 Spin-Orbit-Resonanz. Genau in der Zeit, in der er sich zweimal um die Sonne bewegt, dreht er sich auch dreimal um seine eigene Achse. So eine gebundene Rotation findet man auch anderswo, zum Beispiel bei unserem Mond. Er dreht sich genau einmal um seine Achse während er sich einmal um die Erde bewegt, es handelt sich also um eine 1:1 Spin-Orbit-Resonanz. Beim Mond kennen wir die Ursache für dieses Verhalten. Die gebundene Rotation entstand durch die Gezeitenkräfte. Aber wie ist der Merkur zu seiner besonderen Art der Rotation gekommen? Astronomen aus Frankreich haben nun eine Möglichkeit vorgeschlagen: Vielleicht war eine Kollision mit einem großen Asteroiden dafür verantwortlich.
In der Arbeit mit dem Titel “Mercury’s spin-orbit resonance explained by initial retrograde and subsequent synchronous rotation” (hier als preprint verfügbar) versuchen Mark Wieczorek vom Institut de Physique du Globe de Paris der Universität Paris Diderot und seine Kollegen, das Zustandekommen der 3:2 Spin-Orbit-Resonanz in einer detaillierten Simulation zu erklären. In der Frühzeit des Sonnensystems waren die Planeten noch in Entstehung begriffen, ihr Inneres war noch viel heißer, die Planetenkerne aufgeschmolzen. Als sich dann langsam alles beruhigte und die Planeten abkühlten hatte das auch Einfluss auf ihre Rotationsgeschwindigkeit. Zusätzlich wirken natürlich auch die Gravitationskräfte von Sonne und Planeten und natürlich übt die Sonne auch Gezeitenkräfte auf Merkur aus. All das beeinflusst die Rotation eines Planeten. Merkur hätte in seiner Jugend also durchaus in der 3:2 Resonanz “eingefangen” werden können. Wenn die verschiedenen Einflüsse seine Rotationsgeschwindigkeit so verändert haben, dass sie irgendwann genau den Wert für die 3:2 Resonanz erreichen, dann würde sich die wirkenden Kräfte ausgleichen und Merkur fortan genau in dieser Konfiguration bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist aber gering. Bisherige Simulationen zeigten, dass das nur in 26% aller Fälle geschieht. In ihren ausführlichen Computersimulationen kamen Wieczorek und seine Kollegen zum selben Schluss.
Sie simulierten die Entwicklung von 1000 verschiedenen möglichen Anfangszuständen von Merkur mit einer damaligen Rotationsgeschwindigkeit von 10 Tagen (heute sind es 58 Tage) für jeweils 100 Millionen Jahre unter dem Einfluss von Sonne, den anderen Planeten und den Vorgängen im Planeteninneren. Dabei stellte sich in 68 Prozent der Fälle am Ende eine synchrone Rotation ein. Merkur drehte sich also genau in der Zeit einmal um seine Achse in der er auch die Sonne einmal umrundet, so wie bei Mond und Erde. Und so wie der Mond uns immer die selbe Seite zuwendet, zeigt auch Merkur in dieser Konfiguration der Sonne immer die selbe Seite. Sollte dies wirklich so gewesen sein, wie ist Merkur dann aber in der aktuellen 3:2 Resonanz gelandet? Das könnte durch einen Asteroideneinschlag geschehen sein, meinen Wieczorek & Co. Ein Objekt, dass groß genug ist, könnte Merkur aus der synchronen Rotation herauskicken. Hat Merkur einmal die stabile 1:1 Resonanz verlassen, kann er sich ein neues Gleichgewicht in einer anderen Resonanz suchen, zum Beispiel der 3:2 Resonanz die wir heute beobachten. Damit das klappt, muss der Asteroid aber groß genug sein. Hat er die richtige Größe und den richtigen “Wumms”, dann zeigen die Simulationen, dass Merkur sich in 96 Prozent der Fällen danach in einer 3:2 Resonanz befinden wird. Der Einschlag so eines Asteroiden hätte aber einen Krater hinterlassen, der zwischen 600 und 1100 km groß ist, vielleicht sogar noch größer.
Tatsächlich hat der Merkur gleich 14 Krater dieser Größenordnung, der jüngste davon ist das Caloris-Becken mit einem Durchmesser von 1450 Kilometer und etwa 3,7 Milliarden Jahre alt. Es spricht also nichts gegen die These von Wieczorek und seinen Kollegen. Aber spricht auch etwas dafür? Ja, meinen die Astronomen. Wenn sich Merkur vor der Kollision mit dem Asteroiden tatsächlich in einer synchronen Rotation befunden hat, dann müsste man das heute noch sehen können. Denn damals hat er ja immer die selbe Seite zur Sonne gewandt. Die war besser vor Einschlägen von Asteroiden geschützt und es sollten sich daher dort auch weniger Krater finden. Die Verteilung der Krater auf Merkurs Oberfläche sollte also nicht gleichmäßig sein. Irgendwo, in der Nähe des Äquators, sollte es auch heute noch eine Region geben, in der deutlich weniger Krater zu finden als sonst wo. Die Forscher aus Frankreich haben simuliert, wie die Kraterverteilung aussehen müsste, wenn Merkur früher tatsächlich eine synchrone Rotation hatte und das mit den bekannten Daten verglichen:
Das obere Bild zeigt, wie die Verteilung aussehen sollte: Blau sind die Bereiche mit wenigen Kratern, rot die mit vielen. Unten sind echte Krater auf Merkurs Oberfläche eingezeichnet. Die bunten Punkte geben die Krater mit einem Durchmesser von mehr als 400 km an. Man sieht schon auf den ersten Blick, dass sich da in der Mitte ein großes, kraterfreies Gebiet auftut. Sicherheitshalber haben die Astronomen das aber auch nochmal simuliert. Die Wahrscheinlichkeit, dass man so eine Kraterverteilung zufällig bekommt, schwankt zwischen 3 und 11 Prozent (je nachdem, wieviele Krater man in der Analyse berücksichtigt – es ist oft schwer, ihr genaues Alter zu bestimmen und die jüngeren Krater könnten das Bild verfälschen). Genauere Daten wird man erst nach Auswertung der Daten der Raumsonde MESSENGER bekommen, die derzeit den Merkur umkreist. Es ist also durchaus möglich, dass die These von Wieczorek und seinen Kollegen richtig ist: Vor einigen Milliarden Jahren ist ein großer Asteroid mit Merkur zusammengestoßen und hat dafür gesorgt, dass er sich genau auf die seltsame Art und Weise dreht, die wir heute beobachten können.
Wieczorek, M., Correia, A., Le Feuvre, M., Laskar, J., & Rambaux, N. (2011). Mercury’s spin-orbit resonance explained by initial retrograde and subsequent synchronous rotation, Nature Geoscience, DOI: 10.1038/ngeo1350
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