Ich habe gerade ein äußerst hervorragendes Buch über Wissenschaft gelesen. Es trägt den etwas sperrigen Titel “Warum Tee im Flugzeug nicht schmeckt und Wolken nicht vom Himmel fallen: Eine Flugreise in die Welt des Wissens”. Im englischen Original heißt es etwas treffender: “Inflight Science: A Guide to the World from Your Airplane Window”.Der Autor, Brian Clegg, hat eine typische Flugreise zum Anlass genommen, Wissenschaft zu erklären. Vom Einchecken am Flughafen bis zur Landung am Ziel absolviert man einen ganz normalen Flug. Aber anstatt die Zeit mit langweiliger Warterei bzw. dem Ansehen des Bordfilms zu verbringen, zeigt Clegg, wie wir überall auf die Wissenschaft stoßen. Wir müssen nur die Augen aufmachen.
Clegg hat wirklich enorm viele verschiedene wissenschaftliche Themen untergebracht. Das reicht von ganz offensichtlichen Fragen wie “Was passiert im Metalldetektor bei der Eingangskontrolle?” oder ““Wie fliegt ein Flugzeug?” (übrigens nicht weil die Luft unterschiedlich schnell über die verschieden langen Flügelseiten streicht) bis hin zu Dingen, die wirklich überraschend sind. Ich weiß jetzt, warum die Fluglinien das Licht bei nächtlichen Landungen dimmen (damit das Auge für die dunkle Umgebung adaptiert ist und man, sollte man den Flieger während eines Notfalls schnell verlassen müssen, ausreichend gut sieht) und warum immer ein gewisser Mindestabstand zwischen zwei startenden Maschinen liegen muss (damit sich die von der ersten Maschine erzeugten Verwirbelungen in der Luft legen können, die die zweite Maschine ansonsten beim Start bremsen würden).
Clegg schreibt über Flugzeugtreibstoff, über Aberglaube und selektive Wahrnehmung (“Gate 13”), die Newtonschen Gesetze, GPS und Gyroskope. Es geht aber bei weitem nicht nur um Technik! Wir erfahren auch, was man vom Flugzeug aus so alles Interessante sehen und verstehen kann. Clegg erklärt, warum sich Flussläufe verästeln und mäandern und warum am Meer Wellen entstehen. Er beschreibt, wie man unterschiedliche Wachstumsphasen der städtischen Entwicklung erkennt und längst vergangene Ruinen aus der Luft entdecken kann. Es wird erklärt, warum die Luft voll mit Bakterien ist, wie daraus Wolken entstehen und welche Vögel 10000 Meter hoch fliegen. Es geht um Kondensstreifen, Quantenmechanik, Blitze und Vulkanasche. Um die biologischen Vorgänge bei Jetlag, Thrombosen und die Frage, warum Essen und Getränke im Flugzeug anders schmecken. Um Berge, Gletscher, Planeten und eine Methode, wie man die Bevölkerungszahl einer Stadt schnell aus der Luft abschätzen kann. Und noch um ein paar Dutzend andere Themen. Selbst wenn man meint, man hätte eine gute Ahnung davon, was während eines Fluges passiert und zu sehen ist, sollte man das Buch lesen. Clegg überrascht einen immer wieder mit neuen Details und Dingen, die vermutlich selbst Physikern und anderen Wissenschaftler bisher unbekannt waren.
Das Buch ist äußerst unterhaltsam und sehr verständlich geschrieben. Die Themen werden kurz, knapp und anschaulich beschrieben. Die deutsche Ausgabe hat 230 Seiten und ist damit ideal geeignet, um während eines Langstreckenfluges gelesen zu werden. Da hat man auch gleich Zeit, ein paar der Experimente auszuprobieren, die verschiedene Kapitel des Buches illustrieren. Es handelt sich explizit um Experimente, die an Bord ausgeführt werden können (wenn allerdings die Gefahr besteht, dass man als potentieller Terrorist verhaftet wird, merkt Clegg das extra an 😉 ).
“Inflight Science” ist nicht nur sehr spannend und angenehm zu lesen. Es ist – meiner Meinung nach – auch ein Buch mit einem sehr wichtigen Grundthema. Einerseits demonstriert das Buch, wie sehr unsere Alltagswelt von den Erkenntnissen der Naturwissenschaft geprägt ist und das selbst so scheinbar abgehobene Theorien wie die Quantenmechanik oder die Relativitätstheorie unseren Alltag wesentlich stärker prägen als es den meisten bewusst sein wird. Andererseits zeigt Clegg aber auch wunderbar, wie leicht es ist, Wissenschaft zu entdecken. Wir brauchen nicht in Labors mit komplizierten Maschinen hantieren oder müssen millionenteure Geräte bauen um kleinste Elementarteilchen kollidieren zu lassen. Wir müssen nur die Augen aufmachen, beobachten und vor allem denken! Die Welt ist voll mit faszinierenden Phänomenen! Auch so etwas simples und unoriginelles wie eine Wolke oder ein Berg kann als Ausgangspunkt für eine gedankliche Reise dienen, die uns schnell dazu bringt, uns über fundamentale Fragen Gedanken zu machen. Eine Flugreise ist natürlich eine ideale Ausgangssituation aber im Prinzip hätte man das Buch auch anlässlich eines Spaziergangs um den Häuserblock schreiben können. Wer die Augen und vor allem den Geist nicht verschließt, findet die Wissenschaft und ihre Faszination überall.
Kommentare (57)