„Die ganze Welt in einem Haus“. So begrüßt mich ein Plakat an der Fassade der Ernst-Abbe-Bücherei in Jena. Der Satz ist allerdings falsch. In einer Bücherei findet man nicht die ganze Welt. Man findet viel mehr…
Die Welt ist verdammt groß. Die Erde ist eine 6 Quadrillionen Kilogramm schwere Kugel aus Gestein und Metall mit einem Durchmesser von 12700 Kilometer. Sie ist 4,5 Milliarden Jahre alt. Einmal rund um den Äquator sind es 40000 Kilometer. 360 Millionen Quadratkilometer ihrer Oberfläche sind mit Wasser bedeckt. 150 Millionen Quadratkilometer sind Land und einen kleinen Teil davon bewohnen wir Menschen. Die Welt ist verdammt groß und abgesehen vom Weltall ist ein Buch der einzige Ort, an dem sie Platz hat!
Im ersten Stock der Ernst-Abbe-Bücherei ist am Eingang zur Sachbuchabteilung ein Büchertisch aufgebaut. „Die Weltgeschichte der Zahlen“ liegt neben „Pilze – Lebewesen zwischen Pflanze und Tier“ und unter „Quantentheorie – Grundlagen der modernen Physik“. Neben „Die ägyptische Kunst“ findet man „Die Ameisen“ und „Die Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“. „Insekten“ liegen neben „Der Völkerwanderung“ und „Einsteins Relativitätstheorie“ über der „UNO“.
Hinter der Eingangstür reiht sich ein Regal mit Sachbüchern an das nächste und in ihnen findet man die Welt. Bücher sind eine geniale Erfindung. Die Welt ist viel zu groß als dass man in einem Leben überall hin reisen könnte um alles zu sehen. Zu viele Dinge passieren und wir können nicht alle davon erleben. Es sei denn, wir lesen ein Buch. Bücher erlauben uns, an Orte zu reisen, die wir im echten Leben nicht besuchen können. Bücher erlauben uns, Zeiten zu erleben die längst vergangen sind. Bücher zeigen uns die Welt und wenn die Ernst-Abbe-Bücherei verspricht, „Die ganze Welt in einem Haus“ zu versammeln, dann hat sie vollkommen recht. Allerdings ist das noch stark untertrieben. Man findet dort nicht nur die Welt, sondern viel mehr.
Moderne Menschen gibt es auf dieser Welt seit einigen zehntausend Jahren. Heute leben sieben Milliarden davon auf der Erde. Viel mehr sind allerdings auf ihr gestorben. 100 Milliarden wurden auf ihre geboren, haben ihr Leben gelebt und sind gestorben. 100 Milliarden Menschen hatten eine ganz eigene Welt in ihren Köpfen und die meisten dieser Welten sind genau so unwiderruflich verschwunden wie die Menschen selbst. Aber vor ungefähr 6000 Jahren haben die Menschen angefangen, Dinge aufzuschreiben. Und damit war es möglich, die Welten aus den Köpfen heraus zu holen und in Büchern aufzuheben.
Bücher, die im größten Saal der Ernst-Abbe-Bücherei zu finden. Bücher über Liebe und Tod. Über Trauer und Abenteuer. Über die Zukunft und die Vergangenheit. Über Reales und Fiktion. Im Gegensatz zur realen Welt, die zwar verdammt groß aber endlich ist, sind die Welten in den Köpfen der Menschen ohne Grenzen, weder im Raum noch in der Zeit. Und trotzdem passen diese unendlichen Welten in ein Buch. Ein Buch ist ein wirklich bemerkenswertes Objekt.
“What an astonishing thing a book is. It’s a flat object made from a tree with flexible parts on which are imprinted lots of funny dark squiggles. But one glance at it and you’re inside the mind of another person, maybe somebody dead for thousands of years. Across the millennia, an author is speaking clearly and silently inside your head, directly to you. Writing is perhaps the greatest of human inventions, binding together people who never knew each other, citizens of distant epochs. Books break the shackles of time. A book is proof that humans are capable of working magic.”
Das sagte der Astronom Carl Sagan. Er gehört zu denen, die dabei geholfen haben, unsere reale Welt besser zu verstehen als vorher. Er hat die Welt mit seinen Büchern auch für alle anderen verständlich gemacht.
Das Plakat an der Fassade der Ernst-Abbe-Bücherei in Jena dürfte ruhig viel mehr versprechen. Es gibt hier weit mehr als „Die ganze Welt in einem Haus“. Nachdem ich, nicht ohne ein paar Bücher von Carl Sagan mitgenommen zu haben, wieder zurück im Erdgeschoss des Gebäudes bin, warten dort unzählige andere Welten auf mich. Die Kinder haben ihre eigenen, speziellen Welten mit Büchern, Spielen, Zeitschriften, Filmen und CDs. Die Bücher, die ich im ersten Stock selbst lesen kann, bekomme ich hier als Hörbuch vorgelesen. Stapel voller Videos, DVDs und Blu-Ray-Discs und zeigen mir die Welt exakt so, wie andere Menschen sie sich vorstellen. Nebenan stehen Regale voller Notenblätter und Reihen mit CDs, Schallplatten und Kassetten und erlauben es mir, die Welten zu erleben, die nicht mit Buchstaben sondern mit musikalischen Noten geschrieben werden.
Eine Bücherei ist viel mehr als nur ein Ort, an dem Bücher aufbewahrt werden. Eine Bücherei ist ein Haus, dass die ganze Welt enthält. Ein Haus, dass alle Welten enthält, die Menschen sich ausgedacht haben. Und vor allem ein Ort, an dem man all diese Welt erleben kann.
Büchereien gibt es überall. Geht hin!
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Dieser Artikel wurde zuerst in der “Rödentaler Bücherkiste” veröffentlicht, dem Magazin der Stadtbücherei Rödental. Und ich habe die letzte Zeile ernst gemeint: Büchereien gibt es überall! Nicht nur in Rödental oder in Jena. Sondern auch bei euch. Geht hin! Es lohnt sich.
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