Wenn man eine wissenschaftliche Einrichtung besucht, dann wird man dort zwangsläufig auf Formeln treffen. Auf den Tafeln in den Büros und Vortragsälen; auf den Postern in den Gängen und auf Stapeln von Notizzetteln, Büchern und Artikeln. Bei meinem Besuch am Europäischen Kernforschungszentrum CERN war es nicht anders. Hier gab es nicht nur die üblichen Formeln, sondern auch Formeln auf Kaffeebechern, T-Shirts, Lesezeichen und Schlüsselanhänger. Diese Formel, die es aus den wissenschaftlichen Fachartikeln hinaus und bis zum Merchandising-Produkt geschafft hat, beschreibt das Standardmodell der Teilchenphysik. Sie ist nicht leicht zu verstehen – ganz im Gegenteil. Wenn es um wissenschaftliche Formeln geht, dann findet man kaum eine, die noch komplexer ist als die des Standardmodells. Aber angesichts ihrer Bedeutung lohnt es sich trotzdem, sie ein wenig näher zu betrachten.
So sieht sie aus (und das ist nur eine sehr, sehr kurze Version; quasi die Stenografie-Variante – würde man alle Termine explizit aufschreiben, dann bräuchte man vermutlich ein paar Bettlaken und nicht nur ein T-Shirt):
Ich sage am besten gleich zu Anfang, dass ich diese Formel nicht verstehe. Nicht vollständig zumindest und auf jeden Fall nicht im vollständigen mathematischen Sinn. Dazu muss man sich wirklich gut mit Teilchenphysik auskennen und als Astronom habe ich eher mit größeren Dingen zu tun. Aber ich habe während meines Studiums ausreichend Mathematik und Teilchenphysik gelernt, um zumindest halbwegs eine Ahnung zu haben, was in dieser Formel vorgeht.
Um zu verstehen, was die Formel macht, muss man zuerst einmal verstehen, wozu das Standardmodell der Teilchenphysik überhaupt da ist. Es wurde entwickelt, um zu erklären, wie Materie funktioniert. Die gesamte normale Materie besteht aus Atomen, die aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestehen. Die Neutronen und Protonen bestehen wiederum aus Up-Quarks und Down-Quarks. Will man Materie beschreiben, muss man also damit anfangen, das Verhalten von Elektronen, Up-Quarks und Down-Quarks zu beschreiben. Diese Teilchen gehören zur Gruppe der Fermionen, von denen es aber noch mehr gibt. Da sind noch vier andere Quarks: Strange, Charm, Top und Bottom. Es gibt außerdem noch zwei andere Sorten von Elektronen: Myonen und Tauonen und für jedes Elektron ein zugehöriges Neutrino. Insgesamt sind es also 12 Fermionen; unsere Alltagsmaterie besteht aber nur aus Up-Quarks, Down-Quarks und Elektronen.
Teilchen allein reichen allerdings noch nicht; man braucht auch noch Kräfte, mit denen man die Wechselwirkung zwischen den Teilchen beschreiben kann. Wenn zum Beispiel zwei Elektronen miteinander wechselwirken, dann schicken sie Photonen zwischen sich hin und her. Diese Photonen (also Licht) vermitteln die Kraft die zwischen den Teilchen wirkt und in diesem Fall ist das die elektromagnetische Kraft. Eine andere Kraft ist dafür zuständig, die Quarks im Inneren der Protonen und Neutronen zusammenzuhalten. Sie wird von Gluonen vermittelt und starke Kernkraft genannt. Die Quarks tauschen also ständig Gluonen aus und “kleben” dadurch zusammen. Und dann gibt es noch eine dritte Kraft, die dafür sorgt, dass die Bestandteile eines Atomkerns auseinanderfallen können. Das ist die schwache Kernkraft und sie wird von Teilchen vermittelt, die man “W-Boson” und “Z-Boson” nennt. Diese Teilchen – Photonen, Gluonen und W/Z-Bosonen – sind keine Fermionen sondern gehören zu den Bosonen.
Ein Teilchen fehlt allerdings noch und es wurde erst vor kurzem entdeckt: das Higgs-Boson. Die verschiedenen anderen Teilchen wechselwirken verschieden stark mit dem Higgs-Teilchen und ihre Masse hängt davon ab, wie stark die Wechselwirkung ist. Dieser Higgs-Mechanismus ist also dafür verantwortlich, dass unterschiedliche Elementarteilchen unterschiedlich große Massen haben und es war der letzte Puzzlestein, dessen Entdeckung noch gefehlt hat, um das Standardmodell zu vervollständigen.
Explizit nicht Teil des Standardmodells ist übrigens die Gravitation. Die gravitative Wechselwirkung zwischen den einzelnen Elementarteilchen ist im Vergleich zur Stärke der anderen drei Kräften vernachlässigbar gering und spielt keine Rolle. Außerdem ist die Sache auch ohne Gravitation schon kompliziert genug…
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt also, wie die 12 Fermionen und 5 Bosonen miteinander interagieren. Was passiert, wenn ein W-Boson auf ein Elektron trifft? Welche Teilchen tauschen sie miteinander aus und welche Teilchen sind nach dem Treffen vorhanden. Was passiert wenn ein Elektron auf ein Myon trifft? Oder ein Higgs-Boson auf ein anderes Higgs-Boson? Und so weiter. Die Formel auf dem T-Shirt ist eine sehr kompakte Form der kompletten Theorie, die genau diese Fragen beantworten kann.
Wollte man sie komplett aufdröseln und jedes einzelne Symbol erklären, dann erfordert das mehr mathematische Kenntnisse als ich besitze. Mit der normalen Schulmathematik kommt man da nicht weiter und selbst grundlegenden Mathekurse die man als Nicht-Mathematiker an der Uni belegt sind meistens nicht so speziell. Um zu verstehen, was da abgeht, muss man zum Beispiel Ahnung haben, was ein Tensor ist und wie die Einsteinsche Summationskonvention funktioniert. Allein das zu erklären würde lange dauern, wenn man keine Ahnung vom Thema hat. Und eine kurze Erklärung würde zum Beispiel lauten: “Ein Tensor ist ein höherdimensionaler Vektor; also zum Beispiel eine Matrix und die Summationskonvetion sagt einem, wie man die Indizes behandelt wenn man unterschiedliche Tensoren mathematisch miteinander verknüpft” und würde Leuten ohne mathematische Kenntnisse auch nicht wirklich weiterhelfen. Mein Wissen über die Tensorrechnung stammt aus einer Vorlesung, die ich im ersten Semester meines Studiums gehört habe und das ist mittlerweile schon 18 Jahre her. Ich beherrsche das nicht mehr wirklich; schaffe es aber immerhin noch, einen Tensor zu erkennen, wenn ich einen sehe (zum Beispiel die beiden “F”s in der ersten Zeile der Formel auf dem T-Shirt).
Um die Formel zu verstehen, muss man auch mehr als nur die vier Grundrechenarten beherrschen und zum Beispiel wissen, was ein Operator ist (das durchgestrichene “D” in der zweiten Zeile ist zum Beispiel einer). Die Symbole in der Formel sind auch nicht einfach nur simple Variablen die einfache Zahlen bezeichnen wie es zum Beispiel bei a²+b²=c² oder E=mc² der Fall ist. In der Teilchenphysik wimmelt es von Feldern. Es gibt zum Beispiel ein Fermionenfeld, das die oben aufgelisteten Materieteilchen beschreibt. Ein normales Feld beschreibt, welchen Wert eine gewisse Größe an verschiedenen Orten hat. Das Gravitationsfeld der Erde sagt uns, wie stark die Gravitation an verschiedenen Punkten ist. Ein Feld in der Teilchenphysik ist nicht mehr so anschaulich; hier hat man es mit Quantenfeldern zu tun. In der Quantenfeldtheorie werden nicht nur Kräfte durch Felder beschrieben, sondern auch die Teilchen selbst.
Die Formel auf dem T-Shirt beschreibt also, wie sich Felder verhalten und das einsame “L” auf der linken Seite des Gleichheitszeichens ist die Lagrange-Dichte, die mit der Dichte der Lagrange-Funktion zusammenhängt; einer ziemlichen wichtigen Größe, aus der sich die ganze Dynamik eines Systems ableiten lässt (die Lagrange-Funktion existiert auch in der klassischen Physik). Wer Lust hat, mehr über die ganze Mathematik zu erfahren, die hinter dem Standardmodell steckt, kann auf dieser englischsprachigen Wikipediaseite anfangen – aber wie gesagt: Mit Schulmathematik wird man da nicht weit kommen; man sollte die höhere Mathematik einigermaßen beherrschen; die quantenmechanischen Operatoren kennen und ein bisschen Ahnung von Eichtheorien haben. Ich erinnere mich noch genau an die Vorbereitung für eine Prüfung im 5. Semester. Ich habe dazu jede Menge Literatur über die grundlegende Quantenmechanik und Teilchenphysik gelesen und da gab es einen Moment in dem ich mir dachte: “Hey! Endlich hab ich verstanden was eine Eichtheorie ist, wie sie funktioniert und was das alles mit Elementarteilchen zu tun hat!”. Leider ist diese Erkenntnis aber im Laufe der Jahre wieder verschwunden… das Gehirn ist ein äußerst unzuverlässiger Datenspeicher…
Aber zurück zum T-Shirt. Wenn ich mein gesamtes verbleibendes Wissen über Mathematik und Teilchenphysik zusammenkratze, dann müsste die erste Zeile die Bosonen beschreiben und erklären, wie die drei Kräfte funktionieren. “F”s haben in der Physik so gut wie immer mit Kräften zu tun. In der zweiten Zeile sollte die Wechselwirkung der Bosonen und der Fermionen enthalten sein; also die Interaktion zwischen den Kräften und den Teilchen. Zumindest taucht hier ein ψ auf und das ist meistens das Symbol mit dem Fermionenfelder beschrieben werden. Die dritte und die vierte Zeile enthalten ein Φ und das ist normalerweise das Symbol für das Higgs-Feld. Die dritte Zeile der Formel müsste die Interaktion zwischen Higgs-Feld und den restlichen Teilchen beschreiben, denn hier taucht ein ψ und ein Φ auf und die letzte Zeile sollte eine Beschreibung des Higgs-Boson bzw. das Higgs-Feld selbst sein.
Jetzt habt ihr zumindest eine grobe Ahnung davon, was diese Formel bedeutet und könnt euch problemlos so ein T-Shirt zu legen. Wenn euch jemand fragt, was die komischen Symbole zu bedeuten haben, wisst ihr genug, um euch nicht zu blamieren. Zumindest dann, wenn ihr nicht gerade auf einen echten Teilchenphysiker trefft – in dem Fall dreht den Spieß einfach um und bittet um eine ausführliche Erklärung!
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