Im Jahr 2002 erfolgte eine weitere DNA-Analyse im Auftrag des ZDF, die allerdings zu einem in sich widersprüchlichen Resultat führte. Verglichen wurden Haarproben aus verschiedenen Quellen sowie Blut von der Hose Hausers mit dem Blut eines weiblichen Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais. Teilweise unterschieden sich die Proben aber sowohl untereinander als auch mit den Proben von 1996. Der Spiegel resümiert hierzu: „Wie Brinkmann [Anm.: Der Untersuchungsleiter von 2002] einräumt, führen seine Ergebnisse zu einem kriminalistischen Patt: Es gibt keinen Beweis, dass Kaspar Hauser mit dem Haus Baden verwandt ist; allerdings sollte man es auch nicht als unmöglich ausschließen. Wegen der vielen Einschränkungen und Interpretationen weist Rechtsmediziner Eisenmenger, 58, hingegen die neuesten Untersuchungen zurück: ‚Die Ergebnisse sind widersprüchlich und helfen keinem weiter.’“ (3)
Die Erbprinzentheorie ist löchrig wie ein Schweizer Käse und weist mehr Fragen auf als Antworten: Wie sollte der Austausch der Kinder stattgefunden haben? Wo kam das Austauschkind her? Warum wurde der Erbprinz nicht einfach getötet? Warum wurde Hauser gerade in Nürnberg freigesetzt? Warum war sein Schreiben explizit an dieses Regiment adressiert? Etc. Bei logischer und vor allem unsentimentaler Betrachtung zeigt sich, dass schon von der rein praktischen Seite her ein derartiger Austausch unmöglich war. Auch wenn man sich betrachtet, wie viele Menschen an dieser Verschwörung hätten beteiligt sein müssen, ist es doch unwahrscheinlich, dass ein derartiges Geheimnis nicht vorher offenbart worden wäre. Alles in allem stellt die Erbprinzentheorie eine nette Abenteuergeschichte dar, die dem romantischen Zeitgeist der Biedermeierepoche entsprang.
3.3 Die Tiroltheorie
Die Tiroltheorie geht auf den Karlsruher Neurologen Günter Hesse zurück, der davon ausgeht, dass Hauser aus Tirol stammt und der Sohn einer Magd und eines bayerischen Soldaten war. Er gründet diese Theorie vor allem auf medizinische Beweise, die er aus dem Obduktionsbericht und aus Beschreibungen des Bewegungsablaufes Hausers ableitet. So bezieht sich Hesse zum Beispiel auf krankhafte Veränderungen des Gehirns, die bei der Obduktion gefunden wurde. Dies weise auf ein erbliches Syndrom (Epidermolysis bullosa)hin, das in Tirol vermehrt auftrete, in der Zähringer-Linie des badischen Großherzogshaus allerdings nicht aufgetreten sei.
Weiter gründet Hesse seine Theorie auf die Pockenschutzimpfung Hausers und auf dessen altbaierischen Dialekt, den er auch im Fränkischen immer beibehalten hat. Auch die Adressierung der beiden „Begleitschreiben“ Hausers speziell an den Rittmeister 4. Eskadron des 6. Chevauxleger-Regiments weise auf Tirol hin, da diese Truppe während des Tiroler Volksaufstandes dort eingesetzt war. Hauser muss zur gleichen Zeit geboren worden sein, somit sei es wahrscheinlich, dass er ein „Besatzungs-Kind“ sei, das nun zurück geschickt wurde. Hesse zieht daraus den Schluss, „Kaspar sei kein Sproß des Hauses Baden gewesen, sondern wahrscheinlich‚ ein armer kranker Junge aus Tirol und nicht zuletzt das Opfer einer Clique von Esoterikern, die in eigener Sache an ihm herumexperimentierten’.“ (4)
4. Schlussbemerkung
Über Kaspar Hauser wurde viel geschrieben und viele, zum Teil sehr skurrile Theorien gebildet. Eine geht etwa davon aus, dass Hauser der letzte Bewohner von Atlantis war. Derartige Auslassungen entlarven sich natürlich schon von alleine als Unfug. Was der Forschung und Debatte um Kaspar Hauser aber fehlt ist eine sachliche und unsentimentale Herangehensweise an das Thema. Natürlich ist die Geschichte von einem vertauschten Erbprinzen spannend. Hier liegt das Flair von Alexandre Dumas und seinem „Mann mit der eisernen Maske“ in der Luft. Wie kann da ein etwas zurückgebliebener und ausgesetzter Sohn eines Taglöhners mithalten? Bei allem Verständnis für den Hang zu Abenteuer und Verschwörungen, darf doch darunter der wissenschaftliche Diskurs nicht leiden. Fakten müssen Fakten bleiben und dürfen nicht mit Indizien, Halbwissen und Wunschdenken in den Mixer gesteckt und solange verquirlt werden, bis sie die Theorie ergeben, die man sich wünscht. Besonders die Rolle von Hausers Umfeld und seiner „Betreuer“ und ihrer Eigeninteressen wird bis heute nicht besonders beleuchtet.
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