Dieser Artikel gehört zu meiner Serie “Tatort-Wissenschaft”. Wer damit nichts anfangen kann findet hier eine Erklärung. Es geht in diesem Artikel nicht um eine wissenschaftliche Erklärung der Tatort-Handlung sondern darum zu zeigen, dass Wissenschaft tatsächlich überall ist. Egal was wir (oder die Tatort-Kommissare) machen, es steckt Wissenschaft dahinter. Wir erleben die Welt aber meistens getrennt. Da gibt es “Wissenschaft” – und dann gibt es “alles andere”. Zum Beispiel Krimis wie den Tatort. Es mag konstruiert erscheinen, den Tatort mit wissenschaftlichen Phänomenen und Erklärungen in Verbindung zu bringen. Die Wissenschaft war aber schon die ganze Zeit da. Unsere gedankliche Trennung zwischen Krimi und Wissenschaft ist konstruiert. Ach ja, und wenn ihr nicht wissen wollt, wer der Mörder war, dann lest am besten nicht bis zum Ende…
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Tatort-Folge Nummer 881 spielt in Wien. Es geht um Leid und Elend. Es geht um Menschen mit schlimmer Vergangenheit und die Suche nach einer Zukunft. Es geht um Rache und es geht um die fundamentalen Newtonschen Gesetze.

Ich hab mich gefreut, endlich mal eine Folge aus meiner alten Heimatstadt Wien zu sehen. Aber irgendwie haben mich Chefinspektor Moritz Eisner und Major Bibi Fellner nicht so sehr begeistert. Die diversen Kritiken in den Zeitungen haben “Angezählt” zwar alle hoch gelobt – aber ich scheine das mit dem Tatort wohl immer noch nicht so ganz kapiert zu haben. Anscheinend darf man beim Tatort nie einfach nur eine Geschichte erzählen, sondern muss immer auch eine wichtige moralische Botschaft vermitteln oder die tiefgründige Psychologie der jeweiligen Kommissare im Detail beleuchten. Der Wiener Tatort macht diesmal gleich beides und beides sehr ausführlich.

Bibi Fellner sitzt gerade bei ihrer Psychiaterin, spricht über ihre schlimme Kindheit und kann deswegen den Telefonanruf nicht annehmen, der sie erreicht. Der kam von einer ehemaligen Zwangsprostituierten, die mit Bibis Hilfe ein neues Leben mit neuer Identität anfangen konnte. Sie arbeitet nun als Kellnerin in einer Bowlingbahn, wird dort von einem seltsamen Typen belästigt und verschwindet auf die Straße, um sich mit einer Zigarette zu beruhigen. Da taucht plötzlich ein Junge mit einem Fahrrad auf, der sie aus einer Wasserpistole mit Benzin bespritzt. Die Frau geht in Flammen auf und das Kind flitzt mit dem Fahrrad davon. Und immer dann, wenn es um Bewegung geht, ist Isaac Newton auf die eine oder andere Weise beteiligt.

Die ersten beiden Gesetze Newtons; hier noch in Latein.

Die ersten beiden Gesetze Newtons; hier noch in Latein.

Der große Wissenschaftler hat 1687 in seinem Werk “Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” ja nicht nur einfach das Gravitationsgesetz aufgestellt, sondern noch viel mehr gemacht. Er hat die drei Grundsätze der Bewegung formuliert, die heute als “newtonsche Gesetze” oder “newtonsche Axiome” bekannt sind und die Grundlage der kompletten klassischen Mechanik bilden. Das erste Gesetz lautet

“Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Translation, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.“

Oder vereinfacht gesagt: Wenn sich etwas nicht bewegt, dann muss man eine Kraft aufwenden um es in Bewegung versetzen und wenn sich etwas gleichmäßig bewegt, dann muss man eine Kraft aufwenden, damit es aufhört sich zu bewegen. Überlässt man die Dinge sich selbst, dann bleibt alles so wie ist. Der Junge mit der Benzinpistole, der mit seinem Fahrrad mittlerweile auf der Flucht ist, merkt das daran, dass er nicht ständig in die Pedale treten muss. Das Rad fährt aber trotzdem weiter und gäbe es keine äußeren Einwirkungen, dann würde das Fahrrad sogar bis in alle Ewigkeiten weiter rollen, nach dem es einmal angestoßen wäre. Aber leider ist da ja die Reibungskraft zwischen Reifen und Boden und der Widerstand der Luft die die Bewegung langsam aber sicher abbremsen. Im Weltall würde der Junge auf seinem Fahrrad problemlos quer durchs ganze Universum sausen können, ohne dabei mehr als einmal in die Pedale treten zu müssen. In Wien kommt er allerdings nur bis zu einem schäbigen Hinterhof. Dort scheint er zu wohnen, gemeinsam mit seiner Mutter, die ebenfalls zur Prostitution gezwungen wird.

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Kommentare (12)

  1. #1 Florian Freistetter
    16. September 2013

    Aber immerhin reicht es für große Schlagzeilen in den österreichischen Medien: https://twitter.com/MSeeh/status/379521299707473920/photo/1 Ok, das man nen Krimi mit ner Doku verwechselt zu haben scheint ist wieder ne andere Sache…

  2. #2 rolak
    16. September 2013

    muss immer auch eine wichtige moralische Botschaft vermitteln

    Nu ja, Florian, die große Zeit des Film Noir ist vorbei, Sam Spade in weiter Ferne – aktuell ist wie schon in Wilhelm Buschs Ära ein “und die Moral von der Geschicht’:” angesagt.

    Das nervige Klischee as Klischee can ist mir in den letzten Jahren auch bereits diverse Male ziemlich auf den Keks gegangen…

  3. #3 Sepp
    16. September 2013

    Philipp Walulis hat die “Vermittlung der moralischen Botschaft” eigentlich schon ganz gut zusammengefasst 😉

  4. #4 Florian Freistetter
    16. September 2013

    @Sepp: Wär ich Tatort-Schreiber, dann würde ich ja mal nen “Anti-Tatort” schreiben. Leiche, Raubmord, Täter direkt nach Tat gefasst: fertig, nächster Fall. Leiche, Familienstreit, Mörder hockt heulend am Tatort; fertig, nächster Fall. Und das ganze so lange, bis die 90 Minuten durch sind. Da hätten die Zuschauer mal was neues und die TV Kritiker in den Zeitungen jede Menge Spaß 😉

  5. #5 Sepp
    16. September 2013

    @Florian: Vielleicht solltest du dich auf Drehbücher spezialisieren! Ich hätte da gleich noch einen weiteren Vorschlag: ein Tatort “Ordnungsamt”. 90 Minuten auf der Jagd nach Falschparkern, Radfahrern in Fußgängerzonen und jede Menge mitreißende Szenen im Büro: Formulare ausfüllen, Blätter lochen und die spannende Suche nach Heftklammern für den leeren Tacker. Zumindest kämen so viele Menschen am Montagmorgen ausgeschlafen im Büro an.

  6. #6 Florian Freistetter
    16. September 2013

    @Sepp: Oder ich fang an Regionalkrimis zu schreiben, wo ein Polizist in irgendeinem deutschen Kuhdorf keinen einzigen Mord aufzuklären hat und einfach nur durch seine Anwesenheit unnötig Steuergeld verbraucht…

    Da tun sich ganz neue Marktlücken auf!

  7. #7 rolak
    17. September 2013

    unnötig Steuergeld verbraucht…
    ..ganz neue Marktlücken

    Nee Florian, Stammtischparolen werden schon von einigen Sendern ausgiebigst bedient. So ist auch Sepps Vorschlag längst umgesetzt – und wenn fast wie in deinem Multiplot zu viele Fälle das leidende Hirn des Betrachters überbeschäftigen, kommt ebenfalls harsche Kritik.

  8. #8 capt vimes
    17. September 2013

    warum wird ein getroffenes opfer in diversen holywood schinken von einer kugel (oder auch schrot) meterweise nach hinten gerissen?

    weils cool ausschaut…
    denn sollte dieser effekt tatsächlich auftreten, dann müsste der schütze den gleichen impuls erfahren und ebenfalls quer durch einen raum nach hinten fliegen…
    actio est reactio
    😉

  9. #9 Aginor
    18. September 2013

    @capt vimes:
    Nicht ganz, tatsächlich gibt es genügend Waffen die eine solch hohe Energie übertragen dass es den getroffenen zurückschleudern kann (ok, in Hollywood oft etwas übertrieben. Nach hinten geschleudert werden ist aber kein Problem).
    Du hast aber trotzdem Recht, nämlich damit dass die den Schützen auch zurückwerfen (würden).
    Der Unterschied ist der, dass der Schütze die Waffe mit seinen Armen festhält (die federn ein Stück ab), sicher auf dem Boden steht, und vor allem vorbereitet ist. Er bekommt den gleichen Impuls ab, bleibt aber stehen.
    Gibt auch genügend Youtube-Videos und andere Quellen wo man sieht was mit einem Schützen passieren kann, der nicht darauf vorbereitet ist was kommt. Das reicht vom Fallenlassen einer Waffe, über von der Waffe am Kopf getroffen werden bis nach hinten umfallen nach einem Schuss aus dem Gewehr und brechen von Knochen (oft Schlüsselbein, Nase etc.)
    Schrotflinten sind übrigens deswegen in dieser Hinsicht so berüchtigt weil Schrot gerne mal keine Durchschüsse macht (dabei geht ja ein Haufen Energie nicht in das Ziel sondern bleibt in der Kugel, was man am weiterfliegen derselben sehen kann) sondern im bzw. am Körper bleibt (und damit auch die Energie). Gleiches gilt für den Unterschied Teilmantelgeschosse vs. Vollmantelgeschosse. Die sogenannte “Mannstoppwirkung” ist das Stichwort.

    Gleicher Effekt bei Kampfsportlern. Vladimir Klitschko kann mir so eine reinhauen dass ich nach hinten fliege, er selbst bleibt dabei aber stehen, weil er zum einen schwerer ist, und zum anderen besser steht und darauf vorbereitet ist.

    Und wie gesagt, der von Dir beschriebene Coolness-Effekt ist natürlich trotzdem die hauptsächliche Begründung. Ich wollte bloß erläutern dass er nicht ganz erfunden ist.

    @Florian: Danke für diesen Blog, die Inhalte und Diskussionen sind immer wieder klasse. Ich lese hier viel mit, wollte aber jetzt endlich mal was posten zum “danke” sagen. 🙂

    Gruß
    Aginor

  10. #10 rolak
    18. September 2013

    Hi Aginor, die Sache mit dem Rückstoß kann für den Schützen etwas gemildert werden, zum Thema Opfer-Abflug gabs afaik eine MythBusters-Foige zu (kaum Effekt, selbst bei Steckschuß). Bei der Mannstoppwirkung geht es eher darum, den Angreifenden handlungsunfähig zu machen – und wie jeder aus unzähligen Western weiß, stehen selbst meterweit durchs Fenster des dritten Stocks auf die staubige Straße geschossene Feinde ruckzuck wieder auf der Matte 😉

    Aber bitte bitte in Zukunft diesen döseligen bis gräßlichen Pleonasmus ‘Schrotflinte’ vermeiden. Danke!

  11. #11 Aginor
    19. September 2013

    Danke für den Link!
    Ja, bei der Mannstoppwirkung war ich etwas zu unpräzise, hab mich da nur auf den einen Teilaspekt bezogen.

    Zur Schrotflinte: Es ist zum einen das gängigste Wort für diese Art Langwaffe, und zum anderen ging ich ja auf den Kommentar meines Vorredners ein, der das Wort Schrot benutzt hat, und ich kann nicht davon ausgehen dass jeder automatisch weiß dass Flinte sich idR (nicht immer wie Du sicher weisst) auf das abschießen von Schrot bezieht.

    Natürlich sind alle Flinten ursprünglich für Schrot gemacht etc. pp. Kann man alles bei Wikipedia nachlesen wenn man mag. Aber ich benutze lieber einen Pleonasmus (gräßlich liegt im Auge des Betrachters) als anzunehmen dass das jeder weiss und damit Missverständisse zu erzeugen. Ist hier ja schließlich kein Waffenblog.

    Gruß
    Aginor

  12. #12 rolak
    19. September 2013

    das gängigste Wort

    Meine aktuelle Lieblingshypothese, Aginor, um diese in eher jüngster Zeit stettfindende Einschleichung zu erklären ist irgendeine Übersetzungssoftware, die ‘shotgun’ zu diesem Monstrum übersetzt und von (fast) jedem eingesetzt wird. ‘Kugelbüchse’ wird ulkigerweise überhaupt nicht genutzt, vielleicht wegen der Verwendung für Linearkugellager, wer weiß.
    Früher, also vor mehr als 9±1 Jahren tauchte die ‘Schrotflinte’ eher sporadisch, eigentlich so gut wie gar nicht auf (ein echter Flatliner), doch urplötzlich gab es xundneunzig aus dem Englischen synchronisierte Filme/Serien bzw übersetzte Bücher, in denen es bis zum Erbrechen wiederholt wurde.
    Wenn ich die erwische, die jenes Stück SW bzw den Eintrag in dessen Datenbank verbrochen haben – DOS2.1nicht unter 25 Jahren.