Dieser Artikel gehört zu meiner Serie “Tatort-Wissenschaft”. Wer damit nichts anfangen kann findet hier eine Erklärung. Es geht in diesem Artikel nicht um eine wissenschaftliche Erklärung der Tatort-Handlung sondern darum zu zeigen, dass Wissenschaft tatsächlich überall ist. Egal was wir (oder die Tatort-Kommissare) machen, es steckt Wissenschaft dahinter. Wir erleben die Welt aber meistens getrennt. Da gibt es “Wissenschaft” – und dann gibt es “alles andere”. Zum Beispiel Krimis wie den Tatort. Es mag konstruiert erscheinen, den Tatort mit wissenschaftlichen Phänomenen und Erklärungen in Verbindung zu bringen. Die Wissenschaft war aber schon die ganze Zeit da. Unsere gedankliche Trennung zwischen Krimi und Wissenschaft ist konstruiert. Ach ja, und wenn ihr nicht wissen wollt, wer der Mörder war, dann lest am besten nicht bis zum Ende…
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Tatort-Folge Nummer 884 spielt in München. Es geht um Häuser und Baustellen. Es geht um Vergangenheit und Veränderung. Es geht um Dinge die immer gleich bleiben und es geht um eines der wichtigsten Theoreme der Physik.
Schon der Vorspann des Münchner Tatorts (der nach dem normalen Vorspann – der auch mal aktualisiert werden könnte! – kommt) zeigt, dass wir wieder mit dem Auftreten von “Kunst” rechnen müssen. Schnelle Schnitte, Rückblenden, Vorschau und jede Menge Protagonisten. Alles irgendwie sehr durcheinander und ohne Zusammenhang. Und das war eben nur der Vorspann! Der echte Tatort war noch viel verwirrender…
Die Kommissare Batic und Leitmayr haben es diesmal mit Baustellen zu tun. In ganz München wird gebaut und alte Stadtviertel werden in moderne Wohnsiedlungen für betuchte Menschen umgewandelt. Das nervt natürlich die eigentlichen Anrainer, die nicht nur mit jeder Menge Baulärm leben müssen, sondern sich bald die Mieten in ihrem eigenen Viertel nicht mehr leisten können. Und das nervt auch Kommissar Leitmayr der kurzfristig in eben so einem Baustellenviertel wohnt weil seine eigene Wohnung anscheinend einen Wasserschaden hat. Der Weg dorthin wird ihm aber von einer Baustelle nach der anderen versperrt und das Navigationsgerät in seinem Auto lotst ihn im Kreis herum und von Stau zu Stau aber nicht dorthin, wo er hin will. Er ist in gewissem Sinn gleich doppeltes Opfer einer Invarianz geworden.
Als “Invarianz” beziehungsweise “Invariante” bezeichnet man in der Physik eine Größe, die sich unter einer bestimmten Transformation nicht verändert. Ich kann zum Beispiel eine 10-Kilo-Hantel nehmen und sie einmal von vorne betrachten und dann um sie herum gehen und sie von hinten ansehen. Ihr Gewicht wird sich dadurch nicht ändern; es ist invariant. Das ist ein bisschen so wie mit den Baustellen in München die Leitmayr auf die Nerven gehen. Da werden Politiker bestochen und falsche Gutachten erstellt, damit alte Häuser abgerissen werden können. Aber dort wo die alten Häuser gestanden sind stehen danach bald wieder neue Häuser und im großen und ganzen hat sich nichts geändert…
In der Physik sind solche Invarianzen von großer Bedeutung und es gibt ein sehr berühmtes Theorem, dass sich mit ihnen beschäftigt. Es wurde 1918 von der Mathematikerin Emmy Noether formuliert und trägt deswegen auch den Namen “Noether-Theorem”. Man kann es eigentlich recht knapp und prägnant formulieren:
“Zu jeder kontinuierlichen Symmetrie eines physikalischen Systems gehört eine Erhaltungsgröße.”
Hinter diesem simplen Satz steckt allerdings jede Menge fundamentale Physik! Eine “kontinuierliche Symmetrie” ist eine Transformation, bei der konkrete Anfangsbedingungen keine Rolle spielen. Eine Quadrat zum Beispiel kann ich um 90 Grad drehen und es sieht danach wieder genau so aus wie vorher. Es ist symmetrisch gegenüber einer Rotation von 90 Grad (oder 180 Grad oder 270 Grad). Aber nicht gegenüber einer Rotation von zum Beispiel 37 Grad – danach würde das Quadrat deutlich schief liegen und nicht mehr so wie vorher aussehen. Es ist keine kontinuierliche Symmetrie. Einen Kreis dagegen kann ich drehen so viel ich will. Egal um welchen Winkel ich ihn drehe, er sieht danach genau so aus wie vorher. Das ist eine kontinuierliche Symmetrie und die sind es, die im Noether-Theorem von Bedeutung sind.
Denn sie sind mit Erhaltungsgrößen verknüpft, also invarianten Parametern, die immer gleich bleiben, egal wie sich das System ändert. Energie ist zum Beispiel so eine Größe: Sie bleibt immer erhalten und kann nur transformiert werden und nicht vernichtet oder geschaffen. Oder der Drehimpuls. Und Emmy Noether konnte zeigen, dass genau diese Erhaltungsgrößen eine Folge der Symmetrien in einem System sind.
Es spielt zum Beispiel keine Rolle, aus welcher Richtung man ein physikalisches System betrachtet. Die Physiker nennen das die “Isotropie des Raums”. Egal aus welcher Richtung wir etwas ansehen; es verhält sich deswegen nicht anders. Die physikalischen Gesetze der Planetenbewegung verändern sich zum Beispiel nicht auf einmal plötzlich, nur weil man aus einer anderen Richtung auf das Sonnensystem blickt. Diese Symmetrie führt laut Noether-Theorem zu einer Erhaltungsgröße und in diesem Fall ist das die Drehimpulserhaltung. Die genaue mathematische Ableitung dieser Tatsache ist sehr komplex und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen – aber wer einen kleinen qualitativen Einblick bekommen will, dem empfehle ich diesen Artikel von SB-Kollegen Martin Bäker. Oder dieses kurze Video, dass aber auf die Mathematik auch nicht sehr stark eingeht:
Die Drehimpulserhaltung ist also eine direkte Folge der Isotropie des Raums und eine fundamentale Eigenschaft unseres Universums. Wir treffen sie daher auch überall im Alltag. Jeder Kinderkreisel zum Beispiel dreht sich unbeirrt um seine Drehachse und die bleibt (ausreichende Drehgeschwindigkeit vorausgesetzt) dank der Drehimpulserhaltung stabil.
Das ist übrigens auch das Prinzip hinter einem Gyroskop. (Ja, ich muss ja langsam wieder mal zurück zum Tatort kommen, obwohl ich da diesmal keine Lust habe. Der ist so verworren und verkünstelt kompliziert dass ich lieber weiter über das vergleichsweise klare und einfache Noether-Theorem schreiben würde). Das ist ein rotierender Kreisel der sich in einem beweglichen Lager dreht. Er behält seine ursprüngliche Orientierung bei; egal wie die Aufhängung geradet orientiert ist. Bewegt sich das Gyroskop, weil es zum Beispiel irgendwo in einem Auto oder einem Flugzeug montiert ist, dann kann man die Orientierung zwischen Kreisel und dem Rest des Systems messen und exakte Rückschlüsse auf die Bewegung ziehen. Sie werden deswegen auch zur Navigation eingesetzt und können GPS-Systeme dort unterstützen, wo man nur schlecht ein Satellitensignal empfängt (zum Beispiel in Tunneln oder zwischen den Hochhäusern großer Städte). Das Navi von Leitmayr (um jetzt endgültig zum Tatort zurück zu kommen) hat dann am Ende jedenfalls doch funktioniert und er erreicht seine Übergangswohnung im Baustellenviertel.
Dort bekommt er auch gleich Arbeit denn ein Bagger baggert eine Leiche aus. Die liegt dort seit Monaten und eine Vermisstenmeldung deutet auf einen gewissen Florian Holzer hin. Der wohnte mit seiner Mutter, seinem Bruder und dessen Frau in einer großen Villa. Die Familie ist allerdings ein klein wenig seltsam… Die Mutter ist eine ehemalige Kunstschützin aus nem Zirkus, der Bruder ein Eventmanager und seine Frau verkleidet sich ständig und hat dauernd verschiedene Perücken auf. Florian Holzer war Architekt und sein Bruder der Eventmanager hatte ihm einen Job auf der Baustelle verschafft, auf der er schließlich zu Tode kam. Außerdem hatten sie irgendwie eine Dreierbeziehung mit der Perückenfrau oder so ähnlich. Und sie hatten Streit, aber nicht wegen der Frau, sondern aus anderen Gründen weil Florian Holzer den Architektenjob nicht mehr wollte. Alles wird enorm kompliziert; es taucht noch irgendein “Dr. Quirinus” auf, der in der ganzen Baustellenkiste auch mit drin hängt, aber anscheinend höchst korrupt ist; die Nachbarn von Leitmayrs Kurzzeitwohnung entpuppen sich als Anführer der Bürgerinitiative die gegen die Baustellen kämpft und irgendwelche Geschichten über Stadträte erzählen, die Auftragskiller engagieren und dann gibts in der Luxusvilla der Holzers ne Schießerei bei der die alte Mutter auf ihren überlebenden Sohn ballert und dafür die Böschung hinter ihrem Haus runterfällt.
Nun ja. Am besten wir verlassen den Tatort kurz wieder und besuchen die verständlichere Welt des Noether-Theorems. Da gibt es nämlich noch mehr schöne Symmetrien. Da ist zum Beispiel die Homogenität des Raums. Das bedeutet, dass der Standort keine Rolle spielt. Es spielt keine Rolle ob ich ein Experiment in Deutschland durchführe, in Argentinien oder auf dem fünften Mond des Uranus: Die Physik ist immer gleich. Aus dieser kontinuierlichen Symmetrie folgt laut Noether-Theorem eine weitere Erhaltungsgröße und das ist der Impuls. Diese physikalische Größe ist das Produkt aus der Masse eines Objekts und der Geschwindigkeit mit der es sich bewegt. Und in einem abgeschlossen physikalischen System muss der Impuls immer erhalten bleiben. Wenn zum Beispiel eine sich bewegende Billiardkugel auf eine ruhende trifft und dabei stehen bleibt, dann muss sich nun die vorher ruhende Kugel bewegen da der Gesamtimpuls nicht verschwinden kann. Der Impuls spielt immer eine Rolle, wenn sich massereiche Objekte bewegen. Zum Beispiel die Hand eines Menschen, die sich mit einer gewissen Geschwindigkeit auf den Kehlkopf eines anderes Menschen zu bewegt. Der Impuls der sich bewegenden Hand geht auf den Kehlkopf über. Der kann sich aber nicht einfach wie eine Billiardkugel weg bewegen sondern muss den Impuls anderweitig an die Umgebung abgeben was unangenehme Folgen für den Besitzer des Kehlkopfes hat.
Beim Tatort war dieser Besitzer Florian Holzer und der professionelle Schlag auf den Kehlkopf die Todesursache. Ansonsten geht es aber ähnlich verwirrend chaotisch weiter wie bisher. Im Haus von Magda Holzer hängt eine Fahne der kroatischen faschistischen Ustascha. Die Frau des Eventmanagers hat seherische Fähigkeiten und sieht einen “Schatten” in der Zukunft von Kommissar Batic. Und ihr Mann rast mit seinem Geländewagen in den Laden eines Frisörs der als Stylist für die Eventmanagementfirma gearbeitet hat. Außerdem schießt er auf den Typ von der Bürgerinitiative der auch zufällig gerade in der Gegend ist. Der Frisör ist tot; allerdings nicht durch den Landrovervorfall sondern wurde vergiftet. Der Eventmanager fährt nach Hause, ballert in der Gegend rum, hat seltsamen Sex mit seiner Perückenfrau und schießt sich dann selbst in den Kopf. Der Frisör wollte offensichtlich Geld von den Holzers, die Perückentussi macht Yoga beim Verhör mit der Polizei, die Audioaufnahme vom Anfang enthält ein Streitgespräch zwischen Florian Holzer und seinem Bruder und der kroatische Hausdiener der Holzers singt in einem Casino kroatische Lieder vor Kommissar Batic…
Ich hab zwischendurch ein paar Mal gezwinkert und deswegen vermutlich noch ein paar weitere Handlungsstränge verpasst. Aber am Ende tauchte dann noch ein gewisser Kovac auf, ein Kunde des Frisörs der ebenfalls Kroate und früher bei der Ustascha war. Er kam nach dem 2. Weltkrieg mit einem SS-Offizier nach München. Dieser SS-Typ wurde dann von der Mutter von Magda Holzer umgebracht damit ihre Familie dessen große Villa erben können. Das wusste Florian Holzer, der deswegen abhauen und die Familie verlassen wollte und darum von seinem Bruder irgendwie aus versehen umgebracht worden ist (irgendwas mit einem “missglückten Denkzettel”; hab ich nicht ganz kapiert). Das wusste auch Kovac (warum der weiter bei der Mörderfamilie geblieben ist hab ich auch irgendwie verpasst) und der hat es seinem Frisör erzählt und dem kroatischen Hausdiener. Der Frisör wollte die Holzers erpressen und starb deswegen und der Diener wollte alles aufliegen lassen und wird deswegen von der Perückenfrau – die übrigens ein Verhältnis mit ihm hatte – erstochen. Batic und Leitmayr probieren alle zu retten; am Ende ist es aber ein Erdbeben (?!) dass das Haus halb einstürzen lässt und den Tatort beendet.
Uffz. Ich hab mich ja schon letzte Woche beschwert dass der Tatort zu viel Handlung in 90 Minuten packt. Aber im Vergleich zu dieser Folge war das damals ja noch harmlos. Wahrscheinlich hat das irgendwelche zutiefst künstlerischen oder gesellschaftskritischen Gründe warum man das so machen muss und nicht einfach nur einen simplen, spannenden Fall erzählen kann – aber ich bin zu faul jetzt das Feuilleton zu durchblättern und nachzulesen warum das ein grandioser Tatort war. Ich finde es einfach nur doof, wenn die Lösung die in den letzten 10 Minuten eines Krimis präsentiert wird keinerlei Verbindung zu der gesamten Handlung davor hat. Also gehe ich am besten wieder zurück zum Noether-Theorem. Denn uns fehlt noch eine wichtige Symmetrie.
Nicht nur der Raum ist homogen, sondern auch die Zeit. Es spielt keine Rolle ob ich ein wissenschaftliches Experiment jetzt mache oder morgen oder nächsten April. Die Physik ist immer gleich. Und aus dieser kontinuierlichen Symmetrie folgt laut Noether-Theorem die Energieerhaltung. So wie Drehimpuls und Impuls kann auch die Energie in einem abgeschlossenen System nicht verschwinden sondern muss erhalten bleiben. Man kann nur eine Form von Energie in eine andere Form umwandeln. Die nukleare Energie aus dem Inneren der Atome wird im Inneren der Sonne zu Licht transformiert und auf der Erde in chemische Energie im Inneren von Pflanzen und Tieren. Diese chemische Energie stecken wir in Form von Erdöl in unsere Autos oder in Form von Nahrung in unsere Körper und wandeln sie in Bewegungsenergie um. Und so weiter. Die Energie die in den radioaktiven Elementen im Inneren der Erde steckt wird in Wärme umgewandelt die wiederum die Bewegung der Magmaströme antreibt deren Energie die Erde beben lässt und am Ende dann ausreichend Energie in die Bausubstanz von Münchner Villen pumpt damit die zusammenstürzen und einen Tatort beenden können.
“Aus der Tiefe der Zeit” kann ich nicht empfehlen; ich fand diesen Tatort extrem bescheuert. Ich empfehle euch stattdessen das Noether-Theorem. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich im dritten Semester während einer Vorlesung zur theoretischen Physik das erste Mal davon gehört habe und zutiefst davon beeindruckt war. Es ist ein Paradebeispiel für beeindruckende Physik bei der aus simplen Voraussetzungen fundamentale Eigenschaften abgeleitet werden. Und es ist ein noch viel besseres Beispiel für wunderbar elegante Mathematik. Man muss zwar ein bisschen Ahnung von Differentialgleichungen, Integralrechnung und dem Lagrangeformalismus haben. Aber wenn ihr keine Angst vor ein bisschen Mathematik habt, dann probiert unbedingt auch die mathematische Formulierung des Noether-Theorems zu verstehen (findet man überall im Internet und in jedem gängigen Lehrbuch). Es lohnt sich!
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