Dieser Artikel ist Teil einer fortlaufenden Besprechung des Buchs “Die perfekte Theorie: Das Jahrhundert der Genies und der Kampf um die Relativitätstheorie”* (im Original “The Perfect Theory: A Century of Geniuses and the Battle over General Relativity”* von Pedro Ferreira. Jeder Artikel dieser Serie beschäftigt sich mit einem anderen Kapitel des Buchs. Eine Übersicht über alle bisher erschienenen Artikel findet man hier
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Im ersten Kapitel des Buchs haben wir erfahren, was eigentlich das allgemeine an der Allgemeinen Relativitätstheorie ist und wie Albert Einstein überhaupt auf die Idee kam, sie zu entwickeln. Im zweiten Kapitel hat Einstein dann mühsamer Rechnerei endlich herausgefunden, wie er diese Theorie formulieren kann. Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass wir aus der allgemeinen Relativitätstheorie überraschend viel über die Entstehung des Universums lernen können. Kapitel 4 hat erklärt, dass man aus ihr auch faszinierende Erkenntnisse über sterbende Sterne erhalten kann. In Kapitel 5 ging es um Einsteins Gegner und die zweifelten in Kapitel 6 sogar den Urknall an; den größten Erfolg der Relativitätstheorie. In Kapitel 7 erzählt Ferreira wie die Relativitätstheorie langsam wieder an Fahrt aufnahm und sich nun auch die Astrophysiker mit ihr beschäftigten mussten und Kapitel 8 zeigte, dass das eine gute Idee war, denn die komischen Phänomene die Einsteins Theorie vorhersagte, schienen im Kosmos tatsächlich zu existieren. In Kapitel 9 haben sich die Forscher wieder dem Versuch gewidmet, die “Theorie von allem” zu finden, die schon Einstein selbst finden wollte. In Kapitel 10 hat man mit den Gravitationswellen endlich ein Anwendungsgebiet der Allgemeinen Relativitätstheorie gefunden, mit dem sich ordentlich experimentieren lässt. In Kapitel 11 kehrte die ungeliebte kosmologische Konstante auf einmal wieder zurück in die Physik und das neue dunkle Universum und in Kapitel 12 machte man sich daran, die Raumzeit komplett abzuschaffen…
Das Buch, dass ich jetzt seit 13 Tagen bespreche, heißt “Die perfekte Theorie”. Aber keine Theorie ist perfekt, auch wenn man das von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie fast glauben könnte. In ihrer bisherigen Geschichte wurde sie durch Experimente immer wieder exakt und eindrucksvoll bestätigt und keine Beobachtung und kein Experiment hat ihr bis jetzt widersprochen. Oder vielleicht doch? In Kapitel 9 haben wir die dunkle Materie und die dunkle Energie kennengelernt. Manche Wissenschaftler denken, dass sie tatsächlich einen Widerspruch zur Relativitätstheorie darstellen und man sie modifizieren muss.
Wenn sich die Sterne und Galaxien nicht so bewegen, wie sie es eigentlich so tun sollten, dann kann das einerseits daran liegen, dass da eben noch zusätzliche Materie befindet, die wir nicht sehen können und nicht in den Berechnungen berücksichtigt haben. Oder aber daran, dass die Formeln mit denen wir die Berechnungen durchführen, nicht stimmen. Vielleicht gibt es keine dunkle Materie – vielleicht brauchen wir einfach nur ein neues Gravitationsgesetz.
Ferreira beschreibt in Kapitel 13 seine Erfahrungen mit der Suche nach der modifizierten Gravitation. Anfangs scheint er nicht sonderlich begeistert von der kleinen Gruppen der Wissenschaftler, die sich diesem Thema widmen. Er fühlte sich an die “trotzkistische Organisation” erinnert, der er in seiner Jugend angehört hat und vergleicht es mit einem “esoterischen Kult”. Aber Ferreira stellt dann auch schnell fest, dass dieser erste Eindruck unfair war und vermutlich der Tatsache geschuldet, dass sich hier Leute treffen, die ansonsten mit ihren Theorien in der Wissenschaftsszene auf wenig Gegenliebe stoßen und sich daher vielleicht ein bisschen mehr gegenseitig applaudieren als es angebracht wäre. Aber Gedanken zur Modifikation der Gravitation sind nicht neu.
Einsteins Theorie selbst war ja nichts anderes, als eine Modifikation von Newtons Gravitationsgesetz. Und auch damals stand man vor den gleichen Problemen wie heute. Als man die Bewegung des Planeten Uranus beschreiben wollte, schien Newtons Gesetz nicht zu funktionieren. Bzw. nur dann, wenn man von der Existenz einer unsichtbaren Masse; einem bisher unbekannten Planeten ausgeht (ich habe die Geschichte hier beschrieben). Diesen unbekannten Planeten gab es wirklich: Es war der Neptun! Aber auch der Merkur bewegte sich nicht so, wie er es sollte und auch hier gab es zwei Möglichkeiten: Entweder da ist eine noch unentdeckte Masse oder man braucht ein neues Gesetz zur Beschreibung der Gravitation. Ein Teil der damaligen Wissenschaftler war durch die Entdeckung Neptuns so sehr von Newtons Gesetz überzeugt, dass sie auch hier einen unbekannten Planeten vermuteten (diese Geschichte von “Vulkan” habe ich hier erzählt). Aber der ließ sich nicht finden und es brauchte eben Einsteins Modifikation, um die Bewegung von Merkur korrekt zu beschreiben.
Und warum sollte Einsteins Beschreibung der Weisheit letzter Schluss sein? Wir haben ja gerade erst im letzten Kapitel gehört, dass Wissenschaftler überall auf der Welt seit Jahren nach einer neuen Theorie suchen, die Einsteins Theorie ersetzt. Aber eine Minderheit geht davon aus, dass man das unter falschen Voraussetzungen tut: Vielleicht lassen sich Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik deswegen nicht vereinen, weil beide Theorien zuerst modifiziert werden müssen? Einstein hatte gezeigt, dass bei sehr starken Gravitationskräften Newtons Ansatz nicht funktioniert sondern nur seine Feldgleichungen korrekte Ergebnisse lieferten. Und die ganzen Abweichungen die man bei der Bewegung der Sterne und Galaxien gemessen hatte, fanden bei sehr kleinen Gravitationskräften statt. Kann es nicht sein, dass man hier die Theorie einfach nochmal modifizieren muss?
Das war der Vorschlag, den Mordehai Milgrom in den 1980er Jahren präsentierte und der MOND (“MOdifizierte Newtonsche Dynamik”) genannt wurde. Jakob Bekenstein (den wir aus früheren Kapiteln schon von seiner Arbeit mit schwarzen Löchern kennen) veränderte den Ansatz im Jahr 2004 so, dass er direkt mit Einsteins Feldgleichungen konkurrieren konnte und schuf TeVeS, die Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie. Die war zwar in der Lage, die Beobachtungen ohne dunkle Materie zu beschreiben, aber auch äußerst unelegant.
Ich hätte mir von diesem Kapitel ein wenig mehr erwartet. Ferreira beschreibt am Anfang des Kapitels, wie er selbst einen Vortrag über die vielen verschiedenen Varianten der modifizierten Gravitation gehalten hatte und die Resonanz der Kollegen zwar nicht euphorisch, aber auch nicht unbedingt extrem ablehnend war. Als Experte für die allgemeine Relativitätstheorie; als jemand der sich gut mit ihrer Geschichte und Wirkung auskennt und als jemand, der offensichtlich auch Ahnung von den diversen Alternativtheorien und Modifikationen hat, hätte ich mir eine ausführlichere Erklärung des Themas gewünscht. Vor allem auch deswegen, weil es ja wirklich schwierig ist, einen objektive Überblick dazu zu bekommen. Die Anhänger von MOND sind von MOND überzeugt; die Anhänger der dunklen Materie von der dunklen Materie. Ich selbst halte die dunkle Materie auch für die weitaus wahrscheinlichere Erklärung der Beobachtungen. In den letzten Jahrzehnten ist man immer wieder und bei völlig unterschiedlichen Beobachtungen und Disziplinen auf sie gestoßen; bei der Beobachtung von Galaxien, in der Teilchenphysik, in der Kosmologie – usw. Da erscheint es unwahrscheinlich, dass das alles nur der Effekt einer fehlenden Modifikation von Einsteins Feldgleichungen sein soll und es ist darum kein Wunder, dass die Mehrheit der Forscher MOND ablehnt. Aber ein objektiver und ausführlicher Überblick zu diesem Thema wäre trotzdem eine lesenswerte Sache. Aber so etwas müsste dann wohl nicht von einem zwangsläufig parteiischen Wissenschaftler kommen sondern vielleicht einem Wissenschaftsjournalist oder einem Autor.
Das Buch jedenfalls ist langsam zu Ende. Ein Kapitel kommt noch – und da geht es, wenig überraschend, um die Zukunft.
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