Als am 9. November 1989 die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland eingerissen wurde, war ich 12 Jahre alt. Ich habe das ganze also durchaus bewusst miterlebt; allerdings aus der Ferne. Mir war klar, dass hier bedeutende und historische Dinge passieren, aber als Österreicher war ich von den Ereignissen nicht so unmittelbar betroffen wie die Menschen in der BRD und natürlich die nun freien Bewohner der DDR. Nun lebe ich aber schon seit fast 10 Jahren im “Osten” und möchte den Tag nutzen, um ein paar ganz persönliche Eindrücke aufzuschreiben (und es sollen wirklich nur persönliche Eindrücke sein und keine historische und gesellschaftpolitische Abhandlung – und auch auf den Unsinn der bescheuerten Diskussion um das Wort “Unrechtsstaat” möchte ich nicht eingehen).
Da die Hälfte meiner Familie aus Deutschland kommt, war ich von klein auf immer wieder in der BRD und kannte das Leben dort genau so gut wie das Leben zuhause in Österreich. Die Existenz eines zweiten Deutschlands war mir auch immer irgendwie bewusst; genau so wie die Tatsache, dass die Menschen dort ihr Land nicht verlassen dürfen. Aber als Kind nimmt man solche geopolitischen Fakten mehr oder wenig einfach hin; ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, mir früher großartige Gedanken darüber gemacht zu haben. Auch nach dem Mauerfall hat mich die Situation nicht sonderlich beschäftigt. Ich habe die Lage zwar von Österreich aus verfolgt, aber auf der Welt passieren jede Menge Dinge und als Teenager interessiert man sich nicht für alle davon.
Das erste Mal besucht habe ich die ehemalige DDR im Jahr 1999. Mit einer Freundin bin ich nach Berlin gefahren und ich war beeindruckt von der gigantischen Baustelle in der Mitte der Stadt. Aber die brandenburgischen Dörfer, die wir danach besucht haben, haben zumindest in meiner Erinnerung keinen irgendwie speziellen Eindruck hinterlassen. Es waren eben Dörfer, die genau so gut irgendwo in der österreichischen Provinz stehen hätten können. Aber gut, ich war ja auch nur ein paar Tage dort und das war vermutlich zu wenig für irgendwelche intensiveren Eindrücke.
Im März 2005 bin ich dann aber nicht nur auf Besuch in den Osten gekommen, sondern mit Sack und Pack dorthin übersiedelt. Ich habe eine Stelle an der Universität Jena angetreten und seit damals lebe ich in Thüringen. Die großen Renovierungs- und Bauarbeiten waren 2005 in Jena schon weitestgehend abgeschlossen und die Stadt hat sich kaum von all den anderen österreichischen und deutschen Städten unterschieden, die ich bisher besucht hatte. Es gab dort die gleichen Läden wie überall sonst; es gab eine Universität voller Studenten; jede Menge Touristen und nichts, was auf den ersten Blick nach “DDR” ausgesehen hätte.
Aber nachdem ich ein paar Jahre lang in Thüringen gelebt hatte, hat sich schon ein Unterschied bemerkbar gemacht. Es fällt mir aber schwer, ihn zu beschreiben. Die Sache hat zumindest meiner Auffassung nach auch wenig mit der DDR oder dem Kommunismus an sich zu tun, sondern einfach mit der Tatsache, dass in Thüringen erstens jahrzehntelang gezwungenermaßen eine ganz andere Kultur herrschte als anderswo und zweitens Thüringen halt auch von sich aus eine ganz andere Region ist als man sie anderswo in Deutschland finden kann. Das Leben an der norddeutschen Küste ist ja auch anders als in den bayrischen Bergen und für diese Unterschiede kann der Kommunismus nichts (höchstens die CSU).
Auf den ersten, flüchtigen Blick merkt man im Osten wenig von der DDR-Vergangenheit, aber sie steckt natürlich noch überall in den Erinnerungen der meisten Menschen die dort leben. Und das merkt man durchaus, wenn man sich lange genug dort aufhält. Ich kann die Sache vielleicht anhand meines Umzugs von Österreich nach Deutschland illustrieren: Die ersten 27 Jahre meines Lebens habe ich als Österreicher in Österreich verbracht. Österreich war meine “Heimat” aber ich habe nie sonderlich stark unter übertriebenen Patriotismus gelitten. Irgendwo muss man ja leben und ich habe eben in Österreich gelebt. Eine spezielle “Beziehung” zu Österreich habe ich erst entwickelt, als ich ausgewandert bin. Seitdem reise ich viel bewusster nach Österreich; bin mir bei meinen Besuchen in meinem alten Zuhause all des “österreichischen” um mich herum viel bewusster als früher; achte viel mehr auf Nachrichten über Österreich, wenn ich woanders bin – und so weiter. Man kann vielleicht sagen, dass Österreich als Land erst dann ein echter Teil meines Lebens geworden ist, nachdem es (für mich) nicht mehr ständig vorhanden war.
Die Menschen aus der ehemaligen DDR sind zwar nicht kollektiv ausgewandert – aber ihr Heimatland existiert trotzdem nicht mehr und sie können nicht mal einen kurzen Besuch dort machen. Natürlich werden sich die meisten sowieso die alten Zeiten nicht zurück wünschen. Aber es war eben trotz allem das Land, in dem sie probiert haben, ihr Leben zu leben und es kann nicht einfach sein, wenn das alles auf einen Schlag verschwindet; selbst wenn man sich dieses Verschwinden gewünscht hat. Es wundert mich also nicht, dass die DDR im Leben der Menschen im Osten immer noch sehr stark präsent ist und es für sie immer noch einen Unterschied macht, ob sie im “Osten” oder im “Westen” sind.
Die Wiedervereinigung war ein historisches Ereignis, ein erfreuliches Ereignis, aber eben auch ein Ereignis, durch das sich das Leben sehr vieler Menschen sehr massiv verändert hat. Allerdings hauptsächlich für die Menschen der ehemaligen DDR. Und das ist zumindest meiner Meinung nach einer der Gründe, warum Deutschland auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht wieder komplett zusammengewachsen ist. Denn die Zusammenführung von BRD und DDR war ja genau genommen keine “Vereinigung” sondern eher ein “Anschluss”. Im Leben der Menschen der ehemaligen DDR hat sich mehr oder weniger alles geändert; im Alltagsleben der Westdeutschen mehr oder wenig nichts. Natürlich lag das in der Natur der Sache. Man wollte eben kein neues Gesellschafts- und Wirtschaftssystem schaffen, sondern in der DDR das System einführen, das in der BRD schon existiert hat. Da ist es nur logisch, dass sich auf der einen Seite sehr viel und auf der anderen sehr wenig ändert. Aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass der Beitrag der DDR zum neuen Gesamtdeutschland aus mehr bestehen hätte können, als dem grünen Abbiegepfeil, dem Ampelmännchen und dem Sandmann. Es wäre ja nicht darum gegangen, den Kommunismus auch im Westen einzuführen. Aber wenn man sich die Sache gut und objektiv genug überlegt hätte, hätten sich vielleicht noch ein paar andere Aspekte des ostdeutschen Lebens gefunden, von denen auch Westdeutschland profitieren hätte können.
So war die Wiedervereinigung im wesentlichen eine Sache der Ostdeutschen. Das merke ich immer dann besonders stark, wenn ich mit Leuten aus Westdeutschland darüber rede, dass ich in Jena wohne. Die Stadt kennen die meisten zwar schon, aber so gut wie niemand war dort. So wie – wieder nur meiner ganz persönlichen Erfahrung nach – die meisten Ostdeutschen mittlerweile durchaus viele Besuche im Westen gemacht haben; meine westdeutschen Gesprächspartner aber höchstens Berlin, Leipzig oder Dresden aus eigener Anschauung kennen. “Der Osten” ist im Westen immer noch irgendwie grau, langweilig, unattraktiv, nicht lebenswert und kein Ort, wo man unbedingt hinfahren muss. Erfahren die Menschen, dass ich in Jena lebe, dann führt das oft zu entsprechenden Reaktionen. Darunter Sätze wie: “Wirklich? Ist es da nicht langweilig?”. Oder “In Jena? Das könnte ich ja nicht…” Und mein absoluter Favorit (geäußert von einer Buchhändlerin aus Nordrhein-Westfalen): “Jena? Kann man denn da wirklich wohnen?”
Ja, in Jena kann man tatsächlich wohnen. Wir haben hier Häuser, Straßen und sogar das eine oder andere Geschäft. Wir hocken nicht in dunklen Erdlöchern – oder was immer man sich im Westen da anscheinend noch oft vorzustellen scheint 😉 Wie gut man in Jena wohnen kann, zeigen auch die absurd hohen Mieten in der Stadt und die Tatsache, dass die Verwaltung gar nicht mehr mit dem Neubau von Wohnungen hinter her kommt. Um mal ein bisschen Werbung zu machen: In Jena kann man sogar hervorragend gut wohnen. Mit knapp über 100.000 Einwohnern ist es zwar offiziell eine “Großstadt” aber klein genug, um zum Beispiel nicht so versifft zu sein wie Berlin. In Jena gibt es mehr oder weniger alles, was man so erwarten kann (aber halt nur eben nur drei Hipster-Imbissbuden und keine 100 wie anderswo; nur zwei Kinos und keine zwei Dutzend, etc). Dadurch, dass ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner von Jena Studenten sind oder sonst irgendwie mit der Uni zu tun haben, ist kulturell jede Menge los; viel mehr als man von einer Stadt dieser Größe eigentlich erwarten würde. Die Universität und die Wissenschaft haben die Stadt geprägt und tun das heute immer noch. Und durch die spezielle Geografie im Saaletal ist die Stadt zwar sehr lang, aber auch sehr schmal. Egal wo man sich befindet: Nach knapp 15 Minuten spazierengehen in die richtige Richtung steht man mitten in der freien Natur. Und Jena ist trotz der Zerstörungen während Krieg und Sozialismus immer noch eine sehr schöne Stadt, mit einem Stadtkern voller alter Gebäude; großen Wohnvierteln mit historischen Häusern und diverser moderner Architektur. Das sieht man aber nur, wenn man Jena auch tatsächlich einen Besuch abstattet – die meisten kennen von Jena nur das, was man bei der Vorbeifahrt auf der Autobahn sehen kann. Und das ist halt nur das Wohnviertel am südöstlichen Ende der Stadt, dessen großen Plattenbauten genau so wenig attraktiv aussehen wie die Massensiedlungen in allen anderen Städten.
Ok – genug Werbung für Jena! Ich lebe seit fast 10 Jahren hier und das mit großer Begeisterung. Traut euch ruhig, der Stadt mal einen Besuch abzustatten. Es lohnt sich! Und wenn genügend Leute zu Besuch kommen, dann müssen sich die Menschen im Westen der Republik auch irgendwann nicht mehr so sehr gruseln, wenn ich ihnen erzähle, dass ich in Thüringen wohne. Dann merken irgendwann hoffentlich alle, dass die Dinge in Ostdeutschland auch nicht mehr so sehr anders sind als anerswo. Aber die Unterschiede zwischen Ost und West werden natürlich weiterhin bleiben. Wie sollte es auch anders sein? Das Leben in Hamburg wird immer anders sein als das Leben in München, egal wie lange beide Städte schon Teil des gleichen Deutschlands sind. Genau so wie das Leben in Dresden immer anders sein wird als das in Köln. Und Thüringen wird Thüringen bleiben und nicht zu einem zweiten Saarland werden. Und das ist auch gut so – es wäre langweilig, wenn die lokalen Unterschiede alle verschwinden würden. Was sich aber durchaus möglichst bald verflüchtigen dürfte, sind die ganzen bescheuerten “Ossi”/”Wessi”-Vorurteile. Für die ist 25 Jahre nach dem Mauerfall wirklich kein Platz mehr!
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