Aber natürlich sollte man die Möglichkeit auch nicht völlig ausschließen, solange sie nicht einwandfrei widerlegt ist. Eine imaginäre Masse ist in anderen Bereichen der Teilchenphysik zumindest nicht völlig unbekannt. Bei Quantenfeldern kann es sogenannte “Tachyonenfelder” geben, die imaginäre Massen haben. Das heißt in diesem Fall aber (sehr vereinfacht gesagt) nichts anderes als dass diese Felder nicht stabil sind, sondern spontan zu einem niedrigeren Energiezustand wechseln können und das bei diesem Vorgang Teilchen entstehen, die dann aber eine normale Masse haben (das Higgs-Feld ist zum Beispiel so ein Tachyon-Feld).
Hätten Neutrinos wirklich eine imaginäre Masse, dann wäre das natürlich eine ziemlich große Sensation. Ihre Masse wäre dann nicht negativ und nicht positiv und auch nicht gleich null. Sie wäre irgendetwas anderes und man müsste sich ein völlig neues Konzept dessen ausdenken, was “Masse” bedeutet. Solche Paradigmenwechsel gibt es immer wieder in der Physik. Die allgemeine Relativitätstheorie hat ein völlig neues Konzept der Gravitation entwickelt; die Quantenmechanik hat unser Verständnis dessen, was ein “Teilchen” ist komplett revolutioniert. Wenn ein “Teilchen” weder ein Teilchen, noch eine Welle ist sondern “etwas”, das eben mal so erscheint wie eine Welle und mal so erscheint wie ein Teilchen; warum soll es dann nicht auch möglich sein, eine imaginäre Masse in unser Modell der Natur einzubauen?
Aber bevor man sich diese Mühe macht, braucht es natürlich zuerst noch mehr und bessere Daten. Die könnten in den nächsten Jahren in Karlsruhe gesammelt werden. Dort wird demnächst das KATRIN-Experiment (Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment) gestartet. Dabei wird das sogenannte Betaspektrum des Tritiumzerfalls gemessen. Tritium (ein Wasserstoff-Isotop mit einem Atomkern, der aus einem Proton und zwei Neutronen besteht) ist nicht stabil sondern zerfällt mit einer Halbwertszeit von etwa 12 Jahren. Die Energie der zerfallenden Teilchen wird dabei auf die entstehenden Teilchen aufgeteilt und dazu gehört auch ein Neutrino. Wie genau die Energie aufgeteilt wird, hängt unter anderem davon ab, ob und was für eine Masse das Neutrino besitzt. Misst man also die Energie der beim Tritium-Zerfall entstehenden Teilchen enorm genau, dann kann man daraus die Masse der Neutrinos ableiten. Bis jetzt war so eine Messgenauigkeit nicht möglich, aber der KATRIN-Detektor wird dazu in der Lage sein.
Wenn KATRIN in den nächsten Jahren Ergebnisse liefert, werden wir also besser wissen, ob wir uns tatsächlich Gedanken darüber machen müssen, wie man sich eine “imaginäre Masse” vorzustellen hat… So oder so – am Ende werden wir auf jeden Fall besser über die Welt Bescheid wissen als vorher und darauf kommt es ja an!
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