Dieser Artikel ist Teil einer fortlaufenden Besprechung des Buchs “Stuff Matters: Exploring the Marvelous Materials That Shape Our Man-Made World”* von Mark Miodownik. Jeder Artikel dieser Serie beschäftigt sich mit einem anderen Kapitel des Buchs. Eine Übersicht über alle bisher erschienenen Artikel findet man hier.
Das Buch beginnt mit einem zufälligen Treffen, das Miodownik vor langer Zeit in einem Pub hatte. Ein Erfinder war der Meinung, eine Methode gefunden zu haben, bei der Elektrizität dafür verwendet wird, stumpfe Rasierklingen wieder scharf zu machen. So etwas wäre natürlich enorm praktisch – aber Miodownik war skeptisch. Denn er weiß, wie Rasierklingen hergestellt wird, was sie scharf macht und wieso sie stumpf werden. Sie bestehen aus rostfreiem Stahl und dieses Material ist das Thema des ersten Kapitels.
Gleich zu Beginn erwähnt Miodownik etwas, das ich sehr interessant finde. Stahl wird zwar schon seit Jahrtausenden von Menschen hergestellt, aber wir haben erst im 20. Jahrhundert verstanden wie Stahl funktioniert, was ihn so besonders macht und wie er seine Eigenschaften erlangt. Bis dahin war die Produktion von Stahl genau so sehr Kunst, wie sie Versuch und Irrtum beziehungsweise Handwerk war. Wir mussten erst herausfinden, wie die Materie auf fundamentaler Ebene aufgebaut ist, bevor der Stahl sein Geheimnis preisgegeben hat.
Wir wissen nun, dass Metalle aus Kristallen aufgebaut und in jedem dieser Kristalle sind die Atome exakt in einem bestimmten dreidimensionalen Muster ausgerichtet. Die Bindungen zwischen den Atomen halten den Kristall zusammen und geben dem Material seine Stärke. Man kann die Struktur der Atome aber auch verändern; zum Beispiel mechanisch. Das ist es auch, was eine Rasierklinge stumpf werden lässt: Der ständige Kontakt mit Haut und Haaren verschiebt einige Atome im Kristall; bricht einige der Kontakte auf und die scharfe Klinge wird stumpf. Die Erfindung von Miodowniks Bekanntschaft im Pub sollte nun auf – nicht näher spezifizierte Weise – durch Anwendung von Elektrizität die Atome wieder zurück in ihre ursprüngliche Position schieben. Und das war auch der Grund für Miodowniks Skepsis: Elektrizität die durch Metall geleitet wird, erzeugt Wärme und Wärme hat normalerweise genau den gegenteiligen Effekt und macht Metalle verformbar anstatt schärfer…
Dass Metalle überhaupt verformt werden können, liegt daran, dass die Kristalle nicht ganz perfekt sind. In ihnen existieren sogenannte Versetzungen, also Fehlstellen im Gitter. Unter einwirkenden Spannungen können sich diese Fehlstellen “bewegen”. Das heißt, dass sich Atome in der Nähe der Fehlstelle an ihre Nachbarn binden und anderswo dafür Bindungen aufbrechen. Die Versetzungslinie kann so durch den Kristall wandern und das Material lässt sich verformen. Biegt man eine Büroklammer, erklärt Miodownik, dann verursacht man dabei die Bewegung von etwa 100 Billionen Versetzungslinien die sich mit Geschwindigkeiten von hunderten bis tausenden Metern pro Sekunde bewegen.
Verformbare Metalle sind zwar recht praktisch – aber nicht immer. Wenn man daraus zum Beispiel Waffen machte möchte, dann sollten die eher hart sein. Das – und das wussten auch schon die Menschen früher – kann man durch Legierungen erreichen. Reines Gold zum Beispiel ist ein recht weiches Metall. Mischt man dem Gold aber ein wenig Kupfer bei, dann wird es härter. Denn die Kupferatome sitzen jetzt im Kristallgitter des Goldes und machen es den Versetzungen schwierig, sich auszubreiten.
Auch das weiche Kupfer kann mit zusammen mit Zinn zu einer stabilen Legierung machen, die unter dem Namen “Bronze” die Geschichte der Menschheit verändert hat. Noch größeren Einfluss hatte aber der Stahl und seine Herstellung war immer besonders geheimnisvoll und mysteriös. Stahl ist eine Legierung aus Eisen und Kohlenstoff und wurde deswegen lange nicht als Legierung erkannt. Kohlenstoff findet sich zum Beispiel in der Kohle, die bei der Eisenverarbeitung verwendet wird. Lag das heiße Eisen in der Kohle, konnten so Kohlenstoffatome in die Eisenkristalle eindringen. Die Details hingen von der Temperatur ab, aber auch von vielen anderen Dingen. Und man musste es richtig hinbekommen, damit der Stahl die gewünschten Eigenschaften bekam. Zu viel Kohlenstoff (zum Beispiel weil das Eisen zu lange im Feuer lag), und der Stahl wurde zwar extrem hart, aber auch extrem brüchig und als Waffe nicht zu gebrauchen…
Stahl war so wertvoll und das Geheimnis seiner Herstellung so wichtig, dass beispielsweise die Römer bei ihrem Rückzug aus Britannien im Jahr 89 hunderttausende Nägel vergruben, die beim Abriss ihrer Befestigungen übrig blieben. Stahl und Eisen waren zu wichtig, um sie den “Wilden” zu überlassen…
Die “wilden” Briten lernten aber dann trotzdem irgendwann, Stahl zu produzieren und die Geschichte, wie Henry Bessemer im 19. Jahrhundert das Problem der Massenproduktion von Stahl gelöst hat ist höchst faszinierend. Genauso wie die Geschichte von King Camp Gillette, der als erster die Idee hatte, Einwegrasierklingen herzustellen. Die müsst ihr aber selbst lesen; alles möchte ich ja auch nicht verraten 😉
Aber ich kann noch kurz von Harry Brearley erzählen: Schon als Kind arbeitete er in einem Stahlwerk und wurde später dort Assistent in der chemischen Abteilung. 1913 hatte er den Auftrag, verschiedene Legierungen zu untersuchen, um bessere Läufe für Schusswaffen zu erzeugen. Brearley probierte alles mögliche aus, fand aber nie etwas brauchbares. Seine Arbeitsproben warf er in eine Ecke seines Labors wo sie langsam vor sich hinrosteten. Aber nicht alle: Brearley fiel auf, dass eine Probe weiterhin metallisch glänzte und keinen Rost ansetze. Es handelte sich um eine Mischung aus Eisen, Kohlenstoff und Chrom und war das, was wir heute “rostfreien Stahl” nennen.
Normalerweise reagiert das Eisen im Stahl mit dem Sauerstoff der Luft und bildet Eisenoxid; also Rost. Ist aber auch Chrom mit dabei, entsteht außen um den Stahl herum eine Schicht aus Chromoxid. Das ist transparent, hart und damit eine ideale Schutzschicht um den Stahl am rosten zu hindern. Und wird die Schutzschicht mal verletzt, dann bildet sich sofort neues Chromoxid.
Diese Schicht ist es auch, die den Stahl geschmacklos macht und – wieder eine interessante Anmerkung von Miodownik – uns zu einer der ersten Generationen der Menschheit, die ihr Essbesteck beim Essen nicht schmecken müssen…
Ohne Stahl wäre unsere moderne Welt nicht denkbar. Die Rasierklingen werden aber auch weiterhin stumpf im Abfall landen. Der Erfinder aus dem Pub hat sich jedenfalls nie wieder bei Miodownik blicken lassen…
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