Ich lese gerne Bücher über die Geschichte der Astronomie. Und da stößt man natürlich sehr oft auf diverse Astronomen, über die man mehr erfahren will. Meistens findet sich dann auch irgendwo eine Biografie mit weiterführenden Informationen. Es sei denn, der Astronom ist eine Astronomin. Denn auch die findet man in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder und sie sind leider lange nicht so prominent wie ihre männlichen Kollegen. Ich hatte eigentlich vor, das Jahr 2015 für eine monatliche Serie über Astronominnen zu nutzen und wollte eigentlich für jeden Monat eine entsprechende Biografie auswählen und vorstellen. Aber leider habe ich feststellen müssen, dass es auf dem Buchmarkt sehr wenige biografische Bücher über Astronominnen gibt. Ich wollte mich ursprünglich auf deutschsprachige Ausgaben, die im normalen Handel erhältlich sind beschränken – aber nach ein wenig Recherche war ich froh, wenn ich überhaupt Bücher gefunden habe! Ich hoffe, es reicht am Ende für eine monatliche Serie; ein paar Bücher konnte ich dann doch noch auftreiben. Aber wenn ihr noch entsprechende Vorschläge habt, dann sagt bitte Bescheid!
Im Januar habe ich über das Leben der Astronomin Caroline Herschel geschrieben. Heute möchte ich euch Annie Jump Cannon vorstellen. Die Biografien dieser beiden wichtigen Wissenschaftlerinnen könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Herschel war die jüngste Tochter einer Familie, die mit Naturwissenschaft wenig zu tun hatte und noch weniger Interesse, Caroline auch nur irgendeine Ausbildung zukommen zu lassen. Sie war in ihrer Jugend im wesentlichen ein unbezahltes Dienstmädchen der Herschel-Familie und sie müsste große Mühen auf sich nehmen, um zu der bedeutenden Astronomin zu werden, die sie später geworden ist.
Annie Jump Cannon dagegen wurde am 11. Dezember 1863 in Dover, Delaware als älteste Tochter von wohlhabenden Eltern geboren. Ihr Vater war ein Senator und reicher Schiffsbauer und sie lebten in einem großen Anwesen. Schon als Kind wurde ihr Wissensdurst gefördert, ihre Mutter beobachtete mit gemeinsam mit Annie die Sterne und sie konnte eine gute Schule besuchen, die sie als Klassenbeste abschloss. Annies Mutter unterstützte ihre Tochter weiterhin bei ihrem Interesse an der Naturwissenschaft und sie wurde am Wellesley College aufgenommen, eine der besten Universitäten für Frauen die damals existierten. Eine ihrer Lehrerinnen dort war Sarah Francis Whiting, eine der wenigen Physikerinnen der damaligen Zeit. Auch Annie erhielt einen Abschluss in Physik; wieder als Beste ihres Jahrgangs.
Dank der wohlhabenden Eltern musste Annie aber vorerst nicht selbst arbeiten, kehrte nach Hause zurück und begann, sich mit Fotografie zu beschäftigen. Auch hier war sie erfolgreich und ihre Aufnahmen wurden sogar gedruckt und verkauft. Als Annies Mutter im Jahr 1893 starb, kehrte Annie zurück aufs Wellesley College um dort auch noch Astronomie zu studieren. Annie war aber mit den dortigen Teleskopen nicht zufrieden und besuchte auch extra Kurse im Radcliffe College, ganz in der Nähe der berühmten Harvard Universität. Die Professoren von dort hielten auch Vorlesungen in Radcliffe und so lernte Annie den Direkter der Sternwarte von Harvard kennen: Edward Pickering.
Pickering war gerade mit einem großen Katalogisierungsprojekt beschäftigt: Die Sterne des Himmels sollten fotografiert und klassifiziert werden. Das Geld dafür wurde von der Witwe des Amateurastronoms Henry Draper gestiftet und der fertige Katalog sollte Henry-Draper-Katalog heißen (und wer sich immer schon gefragt hat, warum die Namen so vieler Sterne aus den Buchstaben “HD” und einer langen Nummer bestehen: das liegt an genau diesem Katalog, der heute immer noch verwendet wird…). Annie wollte eigentlich am liebsten selbst die Sterne mit den großen Teleskopen von Harvard beobachten und fotografieren, aber das wurde den Frauen damals nicht erlaubt. Stattdessen wurde sie mit einigen anderen Frauen (von denen ich in zukünftigen Artikeln dieser Serie noch mehr erzählen werde) als “Computer” angestellt. Der Begriff wurde damals für Menschen verwendet, die langwierige Rechen- und Klassifizierungsaufgaben durchführen und genau das war Annie Jump Cannons Job. Sie sollten die spektroskopischen Aufnahmen der vielen Sterne sichten, auswerten und aus den Bildern bestimmen um welche Art von Stern es sich handelt.
Annie Jump Cannon und ihre Kolleginnen waren fähige Astronominnen, die diese Arbeit gut erledigten. Das war aber mit Sicherheit nicht der einzige Grund, warum Pickering für diesen Job nur Frauen engagierte: Damals wie (leider) heute immer noch konnte man Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld bezahlen als Männer und Pickering konnte mit dem gleiche Budget mehr Arbeit erledigen lassen als es bei männlichen Astronomen möglich gewesen wäre. So oder so – Cannon und ihre Kolleginnen haben die Klassifikation auf jeden Fall sorgfältig durchgeführt; obwohl es anfangs noch Diskussionen darüber gab, wie und nach welchen Kriterien man die Sterne ordnen sollte. Je nach Helligkeit und/oder Temperatur wurden die Sterne in bestimmte Gruppen gesteckt, die zuerst einfach mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnet wurden. Annie Jump Cannon erkannte aber bei genauer Betrachtung der Sternspektren, dass die hellsten Sterne auch die heißesten waren und sortierte die Sterne nun nach der Temperatur. Die neue Klassifikation begann nun mit den heißen “O-Sternen”, dann folgten die vom Typ B, danach Typ A, dann F, dann G (zu der Gruppe gehört auch unsere Sonne), dann K und dann M. Der berühmte Merksatz für diese Abfolge – “Oh Be A Fine Girl, Kiss Me” – stammt ebenfalls von Cannon.
All diese Arbeit hat Cannon übrigens gemacht, während sie so gut wie taub war. Noch vor ihrem Astronomie-Studium in Wellesley verlor sie bei einer Scharlacherkrankung fast ihr komplettes Hörvermögen. Aber das hat sie dazu gebracht, sich noch mehr der Arbeit zu widmen und vielleicht konnte sie sich gerade wegen ihre Taubheit so sehr auf die Auswertung der Fotografien konzentrieren, dass sie zum schnellsten “Computer” von Harvard wurde. Sie schaffte bis zu drei Sterne pro Minute und hat zwischen 1911 und 1915 eine Viertelmillion Sterne katalogisiert.
Im Jahr 1922 wurde sie dann schließlich zu Harvards Sternwarte in Peru geschickt. Jetzt konnte sie endlich selbst beobachten, Aufnahmen machen und die Sterne des Südhimmels so katalogisieren wie sie es auch schon am Nordhimmel getan hat. Am Ende hatte sie fast eine halbe Million Sterne klassifiziert, und – neben vielen anderen Entdeckungen – damit die Grundlage für die moderne Astronomie der folgenden Jahrzehnte gelegt.
Heute mag es uns ein wenig “langweilig” vorkommen, wenn wir von Sternkatalogen und Klassifizierungen hören. Heute liest man in den Medien lieber über schwarze Löcher, ferne Galaxien, dunkle Materie, explodierende Sterne, fremde Planeten und ähnliches. Aber all diese Entdeckungen und Erkenntnisse der heutigen Zeit wären nicht möglich gewesen, wenn nicht zuvor irgendwer eine detaillierte und exakte Bestandsaufnahme des Himmels durchführt (über die fundamentale Bedeutung der “langweiligen” Sternkataloge habe ich hier viel mehr geschrieben). Wenn man nicht weiß, wo die Dinge sind, die man schon kennt und welche Eigenschaften sie haben, dann kann auch nichts Neues entdecken! Annie Jump Cannon hat diese Grundlage für die ihr nachfolgenden Astronomen und Astronominnen gelegt und hat die vielen Ehrungen und Preise, die ihr später im Leben verliehen wurden, mehr als verdient! Und heute wird immer noch jedes Jahr der Annie-Jump-Cannon-Preis an herausragende Astronominnen verliehen – in diesem Jahr übrigens an die Himmelsmechanikerin Smadar Naoz über deren faszinierende Arbeit über die Dynamik extrasolarer Planeten ich sicher noch einmal extra berichten werden.
Annie Jump Cannon starb am 13. April 1941. Und so wie bei Caroline Herschel war es auch bei ihr schwer, Literatur zu finden, die über Aufsätze in Zeitschriften, Lexikoneinträge und Erwähnungen in Büchern mit anderen Themen hinausgeht. Bei Herschel hatte ich zumindest noch eine – wenn auch nicht wirklich gute – spezifische Biografie gefunden. Annie Jump Cannos Leben und wichtige wissenschaftliche Arbeit scheint dagegen kein einziges eigenes und ausführliches Buch hervorgebracht zu haben. Aber zumindest gibt es einen Bildband für Kinder, der die wesentlichen Informationen enthält: “Annie Jump Cannon, Astronomer”* von Carole Gerber und Christina Wald. Wie gesagt, es ist ein Buch für Kinder und nur auf englisch erhältlich. Für englischsprachige Kinder (bzw. zum Vorlesen oder zum Bilder ansehen und gemeinsam darüber reden für deutschsprachige Kinder) ist es aber kein schlechtes Buch. Die Illustrationen sind nicht außergewöhnlich, aber gut und zeigen genug interessante wissenschaftliche Details, um darüber nachdenken bzw. diskutieren zu können. Die schwierige Situation von Frauen in der Wissenschaft der damaligen Zeit wird verständlich erläutert und wenn ich mir auch ein paar mehr Details über die eigentliche astronomische Arbeit von Cannon und ihre Bedeutung für die moderne Astronomie gewünscht hätte, kann ich es doch empfehlen. Wer allerdings eine echte Biografie von Cannon lesen will, muss entweder selbst eine verfassen oder sich die Informationen aus den verschiedenen vorhanden Quellen zusammensuchen…
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