Es ist klar, dass das Standardmodell der Teilchenphysik irgendwie erweitert werden muss. Immerhin fehlt in diesem Modell ja auch noch die Gravitation. Aber noch hat man diese Erweiterung noch nicht hin bekommen. Womit wir wieder beim neutrinolosen doppelten Betazerfall wären. Wenn Neutrinos tatsächlich ihre eigenen Antiteilchen sind, dann kann es bei einem doppelten Betazerfall vorkommen, dass sich die beiden dabei entstehenden Neutrinos gegenseitig auslöschen. Zwei Kernbausteine eines Atoms würden sich dann also umwandeln, ohne das dabei irgendwelche Neutrinos frei werden.
Mit der Energieerhaltung hätte man dabei keine Probleme. Aber dafür mit einem anderen wichtigen Erhaltungsgröße der Physik, der sogenannten Leptonenzahl. Als Leptonen bezeichnet man eine Gruppe der Teilchen, aus denen Materie bestehen kann. Elektronen und Neutrinos sind Leptonen und auch noch die Myonen und Tauonen. Das sind quasi schwerere Versionen des Elektrons, die in normaler Materie zwar nicht vorkommen, aber bei diversen Zerfallsprozessen auftreten. Außerdem gibt es noch Myon- und Tauon-Neutrinos; Variationen des normalen Elektron-Neutrinos, das beim Betazerfall auftritt. Zusammen mit ihren jeweiligen Antiteilchen bilden diese sechs Teilchen die Leptonen. Ein einzelnes Lepton hat eine Leptonenzahl von 1 und Antileptonen von -1. Das Standardmodell der Teilchenphysik fordert, dass die Zahl der Leptonen bei allen Vorgängen immer konstant sein muss. Beim normalen doppelten Betazerfall passt das auch. Aber beim neutrinolosen doppelten Betazerfall gibt es ein Problem. Da sind am Ende zwei Neutrinos verschwunden und die Leptonenzahl hat sich im Vergleich zum Ausgangszustand geändert.
Wenn der neutrinolose doppelte Betazerfall tatsächlich stattfindet, dann wäre das ein deutliches Zeichen für einen physikalischen Vorgang, der über das normale Standardmodell hinaus geht. Es wäre auch ein Zeichen dafür, dass bestimmte Erhaltungssätze nicht immer erfüllt sein müssen. Und irgendeine Verletzung eines Erhaltungssatzes muss auch für den Überschuss an Materie kurz nach dem Urknall verantwortlich sein. Könnte man den neutrinolosen doppelten Betazerfall erforschen, dann würde man vielleicht auch Hinweise darauf finden, was damals abgelaufen ist.
Ach ja – und man könnte aus den Beobachtungsdaten so eines Zerfalls auch die Masse der Neutrinos berechne. Es ist also kein Wunder, dass sich die Physiker schon seit längerem bemühen, dieses Phänomen zu beobachten. Bis jetzt ist es allerdings noch nicht gelungen. Die Ergebnisse sind allerdings nicht wirklich zufriedenstellend. 2006 hat eine Arbeitsgruppe des sogenannten Heidelberg-Moskau-Experiments behauptet, den neutrinolosen doppelten Betazerfall beobachtet zu haben; diese Beobachtung ist allerdings heute immer noch kontrovers und nicht allgemein anerkannt. Andere Experimente haben bis heute keinen Befund geliefert. Aber man sucht weiter! Etwa ein halbes Dutzend Teilchendetektoren überall auf der Welt sind gerade dabei, Daten zu sammeln und ebenso viele neue Detektoren sind für die Zukunft geplant. Vielleicht wissen wir bald, was nach dem Urknall für seltsame Dinge passiert sind…
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