In der Serie “Fragen zur Astronomie” wird es heute mal ein klein wenig wissenschaftstheoretisch. Es geht um die Frage, wie wissenschaftlicher Fortschritt funktioniert. Im Speziellen um eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Hat Albert Einsteins Relativitätstheorie die Gravitationstheorie von Isaac Newton widerlegt?
Eigentlich scheint die Sache recht klar zu sein: Isaac Newton hat im 17. Jahrhundert erklärt, wie Gravitation funktioniert. Albert Einstein hat im 20. Jahrhundert eine bessere Erklärung gefunden. Also hat Einstein recht und Newton lag falsch. Oder?
Leider ist es nicht ganz so einfach. Auch nicht mit “recht haben” und “falsch liegen”. In der Physik geht es vor allererst einmal darum, die Natur zu beschreiben. Ein Beispiel: Nehme ich einen Stein in die Hand und lasse ihn (hier auf der Erde) fallen, dann fällt er zu Boden und tut das mit einer Beschleunigung von 9,81 m/s². Das wird immer so sein und es ist völlig egal, was Newton, Einstein oder irgendwer anderer dazu sagt. Der fallende Stein ist die Realität und selbst wenn morgen jemand ankommt und eine weitere, komplett neue Theorie der Gravitation veröffentlicht, werden Steine deswegen nicht plötzlich in den Himmel hinauf fliegen.
Isaac Newton hatte im 17. Jahrhundert als erster eine umfassende mathematische Formulierung der Gravitation gefunden. Seine große Leistung war es, dieses Phänomen als ein universales Prinzip zu erkennen. Er stellte fest, dass die Gravitation, die im Universum dafür sorgt, dass Planeten sich durchs Weltall bewegen die gleiche Gravitation ist, die auf der Erde für fallende Steine (oder Äpfel) zuständig ist und eine einzige mathematische Formulierung ausreicht, all diese unterschiedlichen Phänomene zu beschreiben.
Das ist ein wichtiger Punkt: Newtons Theorie ermöglichte es, die Realität zu beschreiben. Sie war im 17. Jahrhundert dazu in der Lage und ist das auch noch im 21. Jahrhundert. Aber keine physikalische Theorie ist absolut perfekt. Es gibt immer Unterschiede zwischen theoretischer Vorhersage und konkreter Beobachtung. Das kann daran liegen, dass die Beobachtungen und Messungen zwangsweise immer mit kleinen Fehlern behaftet sind (kein Messgerät arbeitet absolut genau). Es kann aber auch daran liegen, dass die theoretische Beschreibung nicht absolut perfekt ist. Die Natur ist ein höchst komplexes Phänomen und es ist so gut wie immer unmöglich, diese Komplexität exakt im theoretischen Modell abzubilden. Noch ein Beispiel: Die Erde ist eine Kugel. Beziehungsweise: Eigentlich ist die Erde keine Kugel. Die sphärische Erde ist ein Modell; in der Realität ist unser Planet ein unregelmäßig geformter Körper mit jeder Menge Dellen und Ausbuchtungen. Wenn wir also bei der Beschreibung irgendeines natürliches Phänomen davon ausgehen, dass die Erde eine Kugel ist, machen wir einen Fehler der zu Unterschieden zwischen Theorie und Beobachtung führt.
Im Fall der Erde ist dieser Fehler in den meisten Fällen enorm klein. Denn die Erde ist fast eine Kugel; der Unterschied zwischen einer Kugel und ihrer realen Form ist nicht groß und darum ist auch eine Theorie, die diese Unterschiede ignoriert einigermaßen genau. Es kommt aber auch immer darauf an, wozu man die Theorie benutzen will. Geht es zum Beispiel darum, einfach nur eine simple Beschreibung der Bewegung der Sterne am Himmel zu finden, damit man weiß, wohin man sein Teleskop richten muss, dann kann man das durchaus tun, wenn man dabei davon ausgeht, das die Erde eine Scheibe ist. Ich habe das hier am Beispiel des “Horizontsystems” genauer erklärt. Für andere Erklärungen muss aber davon ausgehen, dass sie kugelförmig ist, weil sonst der Fehler viel zu groß wäre.
Es kommt also bei einer wissenschaftlichen Beschreibung nicht so sehr darauf an, ob sie der “Realität” entspricht. Es kommt darauf an, wie gut sie in der Lage ist, die Realität zu beschreiben. Newtons Theorie der Gravitation ist darin enorm gut. Mit dieser Theorie können wir Raketen ins Weltall schicken und Raumsonden zu anderen Planeten schicken. So gut wie jedes Phänomen hier auf der Erde, das mit Gravitation zu tun hat, lässt sich damit wunderbar beschreiben und die Abweichungen zwischen Theorie und Beobachtung sind so gering, dass man sie ignorieren kann. Aber in manchen Fällen sind die Abweichungen zu groß. In diesen Fällen scheint Newtons Modell keine ausreichend gute Annäherung an die Realität zu sein.
Das sind Fälle, in denen sich Objekte sehr, sehr schnell (fast so schnell wie das Licht selbst) bewegen oder sehr, sehr schwer sind (so schwer wie ein ganzer Stern oder noch schwerer). Genau hier kommt jetzt Albert Einstein ins Spiel. Einstein fand 1915 eine ganz neue Theorie der Gravitation die ein völlig anderes Modell verwendet. Trotzdem liefert sie in den allermeisten Fällen exakt die gleichen Ergebnisse wie Newtons Theorie! Aber dort, wo Newtons Modell nicht mehr ausreichend gut mit den Beobachtungen übereinstimmt, passt Einsteins Theorie immer noch. Einsteins Theorie ist also umfassender als die Newton. Aber deswegen nicht auch unbedingt “besser” und schon gar nicht hat Einstein die Arbeit von Newton “widerlegt”!
Einsteins Theorie ist eine Erweiterung der Beschreibung von Newton. Aber innerhalb der Grenzen ihrer Gültigkeit ist Newtons Theorie der Gravitation genau so gut wie sie es immer schon war. Wäre sie eine “widerlegte” Theorie bzw. wäre sie “falsch”, dann würde sie heute keiner mehr benutzen (so wie zum Beispiel bei der Phlogiston-Theorie oder der Steady-State-Theorie). Die klassische Mechanik und die Gravitationstheorie von Newton werden heute aber immer noch überall in der Naturwissenschaft verwendet. Weil sie in den allermeisten Fällen eben ein wunderbar genaues Modell der Realität ist, mit der sich wunderbar genau Beschreibungen und Vorhersagen treffen lassen.
Für die speziellen Fällen, wo Newton nicht mehr ausreicht, benutzt man dann eben Einstein. Einstein hat Newton also nicht widerlegt. Beides sind wissenschaftliche Modelle mit denen die Natur innerhalb gewisser Grenzen ausreichend gut beschrieben werden kann. Grenzen, die auch für Einstein gelten! Auch hier gibt es Fälle, in denen die Theorie nicht funktioniert – zum Beispiel dann, wenn es um sehr, sehr schwere und sehr, sehr kleine Dinge geht (schwarze Löcher etc). Welches Modell hier besser funktionieren würde, weiß man allerdings noch nicht. Eine Gravitationstheorie die auch diese Fälle erfolgreich erklären kann, hat noch niemand gefunden. Aber wenn man irgendwann mal so weit ist, dann werden die Menschen, dort wo es angebracht ist, immer noch Newton (oder Einstein) verwenden!
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