Vor mehr als 10.000 Jahren gab es ein Land, in dem Menschen wohnten. Ein Land mit Flüssen, Seen und Wäldern. Ein großes Land, so groß wie Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern. Und ein Land, das heute verschwunden und unter den Wellen des Ozeans liegt. Das Land heißt Doggerland und ist keine Fantasie sondern geologische und archäologische Realität. Die Geschichte des Untergangs von Doggerland zeigt eindrucksvoll, welche komplexen Zusammenhängen das Erscheinungsbild eines Planeten bestimmen und ist deswegen auch das Thema der heutigen Folge der Sternengeschichten.
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Transkription
Sternengeschichten Folge 137: Der Untergang von Doggerland
In den Sternengeschichten geht es meistens um das, was draußen im Weltall passiert. Aber nicht immer. Denn auch unsere Erde ist Teil des großen Universums. Sie ist einer von unzähligen Planeten und vor allem der einzige, den wir seit Jahrtausenden ganz im Detail und direkt vor Ort erforschen können. Natürlich sind nicht alle Planeten so wie unsere Erde. Aber je besser wir unser eigenes Zuhause verstehen, desto besser können wir auch ganz allgemein verstehen, wie ein Planet funktioniert. Darum lohnt es sich auch in der Astronomie, den Blick ab und zu vom Himmel ab und dem Boden unter unseren Füßen zuzuwenden.
Ein Planet ist nicht einfach nur eine große Kugel im All, sondern ein komplexes System bei dem scheinbar unzusammenhängende Ereignisse miteinander in Verbindung stehen und verschiedene Phänomene zusammen wirken um am Ende buchstäblich globale Auswirkungen. Oder auch sehr lokale. Und über eines dieser lokalen Ereignisse möchte ich heute ein wenig mehr erzählen: Es geht um den Untergang von Doggerland.
Dazu müssen wir ein wenig in der Zeit zurück reisen. Ungefähr 12000 Jahre in die Vergangenheit und zu einem Ort, über dem heute das Wasser der Nordsee seine Wellen schlägt. Damals sah die Welt im Prinzip so aus wie in der Gegenwart. Die Kontinente befanden sich alle dort, wo man sie auch heute auf einem Globus finden kann. Aber bestimmte Regionen unterschieden sich trotzdem deutlich von der aktuellen Geografie.
Vor 12.000 Jahren befand sich die Welt noch in der Weichsel-Eiszeit, die letzte, die unser Planet erlebt habt. Nordeuropa war komplett vergletschert. Ein Gletscher aber besteht aus Wasser und das muss irgendwo her kommen. Je mehr Wasser in Gletscher gebunden ist, desto weniger befindet sich in den Ozeanen. Der Meerespiegel lag damals also auch deutlich niedriger. Der Unterschied zu heute betrug ungefähr 120 Meter und das hat natürlich auch Auswirkungen auf den Verlauf der Küstenlinien. Viele Gebiete im nördlichen Europa, die heute unter dem Wasser des Ozeans liegen waren damals trockenes Land. Das galt ganz besonders für Nordfrankreich, Großbritannien, das nördliche Deutschland und Dänemark. Die Nordsee und der Ärmelkanal existierte damals nicht. Die britischen Inseln waren keine Inseln, sondern Teil des europäischen Festlands. Und dort, wo sich heute zwischen Großbritannien und Dänemark nur Wasser erstreckt, befand sich damals Land.
Doggerland. Das ist zumindest der Name, den wir dieser Region heute geben. Er stammt von der Doggerbank, einer unter dem Meeresspiegel liegenden Sandbank in der Nordsee die den letzten Rest des untergegangenen Lands darstellt. Das war mit einer Fläche von 23.000 Quadratkilometern immerhin ungefähr so groß wie Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern. Und hatte damals mit Sicherheit einen anderen Namen als “Doggerland”. Denn Doggerland war von Menschen besiedelt, die ihrer Heimat sicherlich einen eigenen Namen gegeben haben.
Die Bewohner von Doggerland waren auch nicht einfach nur kurz zu Besuch sondern siedelten dort für einige Jahrtausende. In der Mittelsteinzeit hat es sich dort vermutlich sogar sehr gut gelebt. Nachdem dort während der Eiszeit vor allem Permafrost und Tundravegetation zu finden war, gab es dort danach jede Menge Wälder mit Birken und Kiefern. Doggerland war von jeder Menge Flüsse durchzogen. Es gab viele kleine Seen und einen großen zentralen See der sich ungefähr vor der heutigen Küste der Niederlande befunden hat. Flüsse und Seen ermöglichten den Fischfang, genauso wie der leichte Zugang zum Meer. Jäger konnten in den Wäldern von Doggerland auf Beute lauern oder zu Fuß auf die dicht bewaldeten späteren britischen Inseln wandern.
Dass Doggerland bewohnt war beziehungsweise überhaupt existiert hat, weiß man übrigens noch gar nicht so lange. Man hat zwar schon früher vor der Küste Englands immer wieder mal alte Baumstümpfe im Meeresboden entdeckt, die immer dann sichtbar wurden, wenn das Wasser bei Ebbe besonders niedrig stand. Die wurden “Noahs Wälder” genannt, aber ihre Bedeutung hat man damals nicht wirklich verstanden. Mehr Informationen gab es erst, als man anfing die Nordsee intensiv mit Schleppnetzen für den Fischfang zu durchforsten. Die Fischer fingen dabei nicht nur Fische, sondern brachten auch immer wieder Knochen an die Oberfläche, die eindeutig von Landtieren stammten. Eine erste systematische Untersuchung dieser Funde hat der britische Botaniker und Geologe Clement Reid im 19. Jahrhundert erstellt. Er war auch der erste, der vermutete, dass dort wo heute nur Meer ist, früher mal Land war und probierte anhand der Funde den Verlauf der damaligen Küsten zu rekonstruieren.
Interessant wurde die Sache dann 1931. Da haben Fischer ein Stück Torf vom Meeresboden nach oben geholt in dem sich eine Harpune befand. Kunstvoll verziert und eindeutig von Menschen gemacht. Und laut radiometrischer C-14-Datierung mehr als 12.000 Jahre alt! So richtig intensiv erforscht wird Doggerland aber eigentlich erst seit den 1990er Jahren, als die britische Archäoloigin Bryony Coles das Doggerland Project ins Leben gerufen hat. Sie war es auch, die der Region den Namen “Doggerland” gegeben hat. Seitdem bemüht man sich, durch Computermodelle und genaue Vermessungen die Geografie von Doggerland nachzuvollziehen; den Verlauf von alten Flüssen zu rekonstruieren und auch nach weiteren Fundstücken zu suchen.
Allzu viel Zeit kann man sich mit der Forschungsarbeit leider nicht lassen, denn die Nordsee ist nicht einfach nur Meer, sondern mittlerweile ein wichtiges Industriegebiet. An den Küsten werden Häfen und andere Objekte gebaut, im Meer entstehen Ölbohrplattformen und wenn die Daten der Ölfirmen – die natürlich auch sehr genau den Meeresboden untersuchen – zwar eine wichtige Informationsquelle für die Forscher waren, stellt die industrielle Aktivität in der Nordsee eine Gefahr für die vorhandenen archäologischen Fundplätze dar. In Zukunft könnten also auch noch die letzten Spuren von Doggerland verschwinden, nachdem zuvor schon das ganze Land untergegangen ist.
Aber warum eigentlich? Einmal lag das natürlich am Ende der Eiszeit. Es wurde wärmer, die Gletscher schmolzen und der Meeresspiegel stieg an. Durchaus schnell: Vor 10.000 Jahren lag er noch 60 Meter unter dem heutigen Meeresspiegel; 2000 Jahre später waren es nur noch 25 Meter unter Normalnull. Man geht heute davon aus, dass es deswegen so schnell ging, weil auf der anderen Seite der Erde der sogenannte Laurentidische Eisschild zusammengebrochen ist. So nannte man die Eisdecke, die während der letzten Eiszeit große Teile von Kanada und den USA bedeckt hat. Als er schmolz, flossen gewaltige Mengen an Süßwasser in die Ozeane und brachten durch die Veränderung des Salzgehalts auch die Meeresströmungen durcheinander. Was wiederum Auswirkungen auf das globale Klima hatte, da die Meeresströmungen warmes bzw. kaltes Wasser um die Welt transportieren und dadurch die Temperaturen beeinflussen.
Durch den steigenden Meeresspiegel bildete sich der Ärmelkanal aus und die britischen Inseln entstanden. Auch Doggerland verlor die Verbindung zum Festland und wurde zu einer Insel. Der letzte Rest wurde dann vermutlich vor knapp 8200 Jahren zerstört, als das sogenannte Storrega-Ereignis stattfand. Davon habe ich schon in Folge 82 der Sternengeschichten berichte: Vor der Küste Norwegens wurde durch die steigenden Temperaturen eine große Menge von Methanhydrat instabil. Das ist, vereinfacht gesagt, Methan, das in gefrorenem Eis eingebettet ist und als es schmolz, begann ein kompletter unterseeischer Hang abzuruschen. Das war nicht einfach nur ein bisschen Gestein, das waren 5600 Kubikilometer auf einer Länge von 800 Kilometern! Wenn sich so enorme Mengen an Material im Wasser bewegen, entstehen Flutwellen und in diesem Fall ein Tsunami dessen Wellen an den europäischen Küsten bis zu 20 Meter hoch wurden!
In Doggerland trafen mindestens vier Tsunanamiwellen ein die die gesamte Insel überfluteten und vermutlich alle Menschen umbrachten, die vor dem heranweichenden Meer in den letzten Jahrhunderten noch nicht weiter nach Süden abgewandert waren. Wahrscheinlich waren die Lebensbedingungen aber sowieso schon längst nicht mehr so gut. Die Wiesen und Wälder wurden durch den steigenden Meeresspiegel versalzen und das Grundwasser war nicht mehr geeignet, die Pflanzen zu erhalten. Alles wurde immer feuchter, sumpfiger und der Lebensraum schwand.
Das Storrega-Ereignis war nur der dramatische Schlusspunkt unter einem langen Prozess, der die menschliche Anwesenheit auf Doggerland und die Existenz dieser Region beendete.
Doggerland war Jahrtausende lang die Heimat von Menschen und seit Jahrtausenden existiert es nicht mehr. Vermutlich haben ähnliche Geschichten überall auf der Erde und zu vielen verschiedenen Zeitpunkten stattgefunden. Weil unser Planet eben ein aktiver Planet ist, bei dem komplexe Vorgänge unvorhergesehene Auswirkungen haben. Die Bahn der Erde um die Sonne ändert sich im Laufe der Zeit durch die gravitativen Störungen der anderen Planeten in unserem Sonnensystem. Dadurch ändert sich auch das Klima und Eiszeiten wechseln sich mit Warmzeiten ab. Riesige Eisschilde entstehen und vergehen wieder. Der Meerespiegel steigt und fällt und auch das Land hebt und senkt sich, je nachdem ob es von großen Eismassen niedergedrückt wird, oder nicht. Auf der einen Seite der Erde schmilzt Eis und auf der anderen Seite verändert sich der Salzgehalt des Ozeans. Hier verschwindet die Küste, dort steigt die Temperatur. Und irgendwo in diesem komplexen geologischen Netz versinkt das Doggerland…
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