Wenn aber die Gräfin Bettina Bernadotte, Präsidentin des Kuratoriums für die Tagungen der Nobelpreisträger in Lindau, mit ihrer traditionellen Rede auf der Insel Mainau das 65. Lindau Nobel Laureate Meeting offiziell beendet, lässt sich aber trotzdem eine direkte Linie zu einem der berühmtesten Preise für Mathematik ziehen. Ihr Vater Lennart Bernadotte rief gemeinsam mit den Lindauer Ärzten Gustav Parade und Franz Karl Hein das Lindauer Nobelpreistreffen überhaupt erst ins Leben. Und der Ururgroßvater von Bettina Bernadotte war kein anderer als Oskar II, König von Schweden. Er schrieb anlässlich seines 60. Geburtstag einen finanziell sehr attraktiven Preis aus, der für die Lösung einer von vier mathematischen Aufgaben verliehen werden sollte. Eines dieser Probleme beschäftigte sich mit dem, was unter dem Namen “N-Körper-Problem” bekannt geworden ist: Anschaulich formuliert sollte die Frage beantwortet werden, ob das Sonnensystem für alle Zeiten stabil ist oder ob zumindest die Möglichkeit bestünde, dass die Planeten irgendwann miteinander kollidieren können.
Die mathematischen Gleichungen mit denen sich die Bewegung der Himmelskörper beschreiben lassen, waren seit der grundlegenden Arbeit von Isaac Newton im 17. Jahrhundert bekannt. Aber bis dahin war niemand in der Lage gewesen, diese Gleichungen auch streng mathematisch zu lösen und daher war unbekannt, wie die Bewegung der Planeten des Sonnensystems in der Zukunft aussehen würde. Das Problem war nicht nur eine schwere mathematische Aufgabe, sondern auch von fundamentaler philosophischer Bedeutung: Ist es möglich, das Schicksal der Welt in der wir leben, für alle Zeiten vorher zu berechnen oder müssen wir uns mit einer grundsätzlichen Ahnungslosigkeit abfinden? Die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zeigen, wie sehr man damals davon überzeugt war, dass eine Lösung für das “N-Körper-Problem” existieren muss: Den Teilnehmern wurde kaum ein Jahr lang Zeit gegeben, ihre Arbeiten einzusenden und schon im Sommer 1888 sollte ein Komitee über die Vergabe entscheiden.
Es wurden nur fünf Lösungsversuche eingereicht und einer davon stammte von dem damals schon berühmten französischen Mathematiker Henri Poincaré. Er stellte – nach einigen Korrekturen des ursprünglichen Textes – fest, dass keine Lösung für dieses Problem existiert. Poincarés Arbeit wurde trotzdem mit dem Preis ausgezeichnet und seine Publikation gilt als die Geburtsstunde der Chaostheorie. Lange bevor Physiker im 20. Jahrhundert die Seltsamkeiten der Quantenmechanik entdeckten und herausfanden, dass viele Phänomene der subatomaren Welt prinzipiell unbestimmt sind, zeigte Poincaré, dass uns das Universum auch in größeren Maßstäben eine Schranke der Erkenntnis setzt. Die Leistung von Poincaré steht den modernen Arbeiten über fundamentale kosmologische Erkenntnisse an Bedeutung nicht nach und hätte einen Nobelpreis ohne weiteres verdient gehabt. Und tatsächlich wurde er zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder von Kollegen für einen Preis nominiert. Bekommen hat er ihn am Ende aber aus diversen praktischen und politischen Gründe nie.
Seinen Ruhm und die Bedeutung seiner Arbeit hat das nicht geschmälert. Genau so wenig wie die vielen Leistungen der vielen anderen Forscher nicht geschmälert werden sollten, nur weil sie nicht mit einem Nobelpreis ausgezeichnet worden sind. Poincaré war zwar einer der ersten, der den Wissenschaftlern aufgezeigt hat, dass es nicht auf jede Frage eine Antwort gibt. Aber Antworten gibt es da draußen noch genug und allein sie zu finden, ist für die meisten schon Belohnung genug. Maria Goeppert-Mayer, die zweite (und bisher leider letzte) Frau die einen Nobelpreis für Physik gewann, erklärte während ihrer Preisverleihung in Stockholm:
“Zu meiner Überraschung war den Preis zu gewinnen nicht halb so aufregend wie es war, die wissenschaftliche Arbeit zu machen.”
Wenn die jungen Forscherinnen und Forscher nach ihrem Besuch auf der Insel Mainau wieder zurück in ihre Forschungseinrichtungen gehen, dann können sie dort genau diese Aufregung finden, die die wissenschaftliche Suche nach Antworten geben kann. Einige von ihnen werden in Zukunft vielleicht tatsächlich mit einem Nobelpreis ausgezeichnet. Aber alle werden hoffentlich mit dem Spaß und der Freude belohnt, die der Forschung innewohnt!
Kommentare (1)