Es ist nicht belegt, ob Hypatia “offiziell” an der Bibliothek von Alexandria beschäftigt war oder quasi als freie Dozentin in der Öffentlichkeit ihre Philosophie und Wissenschaft vermittelte. Es ist auch nicht überliefert, worin genau ihre wissenschaftliche Tätigkeit bestanden hat. Sie soll die Arithmetik des berühmten Diophantos kommentiert haben und auch die Arbeit über Kegelschnitte von Apollonios von Perge, einem der Begründer der Epizykeltheorie der Planetenbewegung. Sie hat vermutlich auch das fundamentale astronomische Werk des Ptolemäus bearbeitet oder kommentiert und eventuell selbst einen Katalog mit astronomischen Daten veröffentlicht. Aber was sie sonst noch gemacht hat und ob sie die vorhin genannten Arbeiten wirklich durchgeführt oder etwas ganz anderes getan hat, ist unklar. Es wird manchmal behauptet sie hätte das Astrolabium erfunden, aber auch das ist nicht der Fall (obwohl ihr Vater Theon eine Arbeit über dieses astronomische Gerät geschrieben hat).
Wir wissen also eigentlich nur, dass Hypatia in Alexandria gelebt hat, dort Philosophie, Mathematik und Astronomie betrieben hat und damit scheinbar sehr erfolgreich war. Wir wissen, dass sie nie geheiratet hat, ein Leben führte das für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnlich war und das sie keine Hemmungen hatte, ihr Umfeld zu provozieren. Wir wissen, das sie gestorben ist und wir wissen vor allem, wie sie gestorben ist: Durch einen gewaltsamen Tod.
Die genauen Umstände sind ziemlich verwirrend und kompliziert und haben auf den ersten Blick auch wenig mit Hypatia selbst zu tun. In Alexandria gab es damals generell jede Menge Streit zwischen den Religionen. Neben den Christen lebten dort auch Juden und viele Anhänger diverser griechischer und ägyptischer Kulte. Und damit hatte vor allem der Patriarch von Alexandria, Theophilos, ein Problem. Nicht so sehr mit der Lehre der anderen Religionen sondern mit den kultischen Handlungen. Er lies deswegen zum Beispiel auch das Serapeum zerstören, einen Tempel des Gottes Serapis. Die Christen duldeten zwar den Unterricht der (neu)platonischen und nicht-christlichen Lehren, stellten sich aber gegen die kultischen Praktiken und Rituale der nicht-christlichen Religionen. Dann starb Theophilos und sein Neffe Kyrill wurde sein Nachfolger. Der legte sich zuerst mit den Juden an und beide Parteien begannen, sich immer aggressiver zu bekämpfen. Orestes, der Präfekt der Stadt war zwar Christ, stand aber zwischen den Gruppen, probierte, den Frieden aufrecht zu erhalten und wurde so ebenso zum Angriffsziel für die radikalen Christen unter Kyrill. Und hier kommt jetzt Hypatia ins Spiel: Sie gehörte zum Umfeld von Orestes, war eine prominente und bekannte Nicht-Christin und wurde von Kyrill deswegen angegriffen, um so indirekt Orestes zu treffen. Gerüchte wurden verbreitet, nach denen Hypatia Orestes daran hindern würde, einem Frieden zwischen weltlicher und kirchlicher Macht in der Stadt zuzustimmen. Die Stimmung heizte sich immer mehr auf und irgendwann zog ein Mob radikaler Christen durch die Stadt, der Hypatia verschleppte, folterte und schließlich tötete.
Dieser “Märtyrer”-Tod der Hypatia hat ihre Rezeption in den kommenden Jahrhunderten viel mehr bestimmt als es ihr Leben je tun hätte können. Ohne diesen gewaltsamen Tod mit all seinen religiösen Implikationen würde man die antike Astronomin heute wahrscheinlich kaum mehr kennen. Aber so wurde sie zur Identifikationsfigur für Atheisten, Kirchenkritiker, Feministen und andere Freigeister. Und einerseits ist es zwar gut, dass Hypatia auf diese Weise dem Vergessen entrissen wurde und nicht das Schicksal ihrer Kolleginnen teilen muss, die heute ungerechterweise kaum jemand kennt. Andererseits wird Hypatia ob ihres dramatischen Tods aber auch oft einfach instrumentalisiert und ihr Leben ohne Rücksicht auf Fakten und historische Genauigkeit an die jeweils gewünschte Propaganda angepasst. Es existiert zwar tatsächlich viel Literatur und Material über Hypatia, aber in vielen dieser Werke wird ihr Leben – großzügig formuliert – sehr “frei” interpretiert.
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