Aber irgendwie muss man es einschätzen. Im privaten Bereich kann man vielleicht damit leben zu denken “passt schon” und einfach mal zu machen, aber sobald man sich auf das Gebiet der Großtechnik begibt, ist das nicht mehr akzeptabel. Wir wissen heute gut, wie gefährlich bestimmte Verfahren, Stoffe und Technologien sind bzw. können das Potential für katastrophale Unfälle abschätzen. Es wäre von sträflicher Nachlässigkeit, wenn wir wüssten, dass z.B. ein Stoff unter bestimmten Bedingungen gefährlich ist, wir aber keine Anstalten machen, mit der Gefährdung adäquat umzugehen. Das ist ein Punkt, den ich für besonders wichtig halte: Wir fangen nicht bei Null an. Wir haben Erfahrung. Wir können auf über Hundert Jahre systematischer Unfallforschung auf allen Bereichen der Technik zurückschauen und in den allermeisten Fällen, gut abschätzen, wie groß eine Gefährdung bzw. ein Risiko wirklich ist. Bleiben wir dazu bei obigem Beispiel und konzentrieren uns auf einen Punkt, nämlich den Sicherheitsgurt.
Zunächst muss man abschätzen, was passieren kann – man muss Szenarien entwickeln. Die Frage lautet: “Wozu brauchen wir den Sicherheitsgurt?” und das Szenario ist die Antwort darauf. Man muss sich immer vor Augen halten, dass Maschinen vor allem gebaut werden, um ihrem Besitzer Profit zu bringen. Und Sicherheitstechnik ist teuer. Hier könnte das Szenario sein: Aufprall bei Geschwindigkeiten > 1 m/s. Ja, das reicht. Dabei besteht die Gefahr, dass die Person im Fahrzeug herumgeschleudert wird und sich dabei schwer verletzt. Um Abhilfe zu schaffen, wird der Sicherheitsgurt vorgeschlagen. Jetzt muss man abschätzen: Wie oft passieren Unfälle? Wie groß ist der Schaden? Kann man das abschätzen, hat man das Risiko im Prinzip erschlagen.
Risiko ist definiert als das Produkt aus Schadensausmaß (Dn) und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit (Pn). An dieser Definition muss man sich kurz festhalten, sie auf sich wirken lasen. Man sollte sich klar machen, dass Risiko in diesem Sinne zwar immer noch abstrakt, aber in gewissem Maße berechenbar ist. Man sollte sich auch in aller Schärfe klar machen, dass in dem Begriff “Wahrscheinlichkeit” eine Komponente fundamentaler Unsicherheit steckt, die sich nicht vollständig eliminieren lässt! Kennt man die Wahrscheinlichkeiten sehr gut, etwa aus langer Erfahrung, ist die Abschätzung des Risikos sehr gut. Kennt man die Wahrscheinlichkeiten nicht gut genug, dann Ex falso quodlibet. Eine einfache Lösung für diese Misere gibt es aber nicht.
Das Dn kann vielfältig sein: Leichte Blessuren, Prellungen, Brüche, Risse, Innere und äußere Verletzungen, Hirnschäden, Tod einer Person, Tod mehrer Personen. Das ist ein breites Spektrum. Auch die Pn kann äußerst unterschiedlich sein. Zweckmäßig ist es, die unüberschaubar vielen Einzelfälle für sowohl Dn als auch Pn in einer überschaubaren Zahl Kategorien zusammenzufassen. z.B.:
Alternativ kann man das Dn auch in Geldeinheiten ausdrücken. Während Personenschaden eindeutig und die Verständigung über das Ausmaß des Schadens einfach ist, kann das Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens für ein Unternehmen oder einen Menschen aber nicht einfach an absoluten Maßstäben festgemacht werden. Ein Schaden von 1.000 Millionen € mag für ein Unternehmen wie Shell, Walmart oder SAP sehr schmerzhaft, aber zu verkraften sein. Für einen Mittelständler wie Grünenthal, FIMA oder Hela ist er mit ziemlicher Sicherheit desaströs. Ein Todesfall ist unabhängig vom finanziellen Hintergrund immer eine Katastrophe. Aus diesem Grunde beschränke ich mich hier auf Personenschäden. Mit geeignet abgestuften Schadenssummen lässt sich die ganze Überlegung aber auch für rein wirtschaftlichen Schaden machen. Die Kategorien bilden Zeilen und Spalten der Risiko-Matrix:
Die Einteilung der Risikoklassen ist quantitativ. Dieser Punkt ist wichtig. Indem man aus Ausmaß und Wahrscheinlichkeit das Risiko für einen Schaden bildet, lassen sich verschiedene Risiken nach einigermaßen objektiven Maßstäben vergleichen. Drückt man das Dn in Geldeinheiten aus, lässt sich das Risiko direkt, z.B. in Euro pro Jahr, ausdrücken. Diese Methode hat ihre Probleme und ist sicher nicht perfekt, aber sie ist seit Jahrzehnten in der Industrie gängige Praxis und hat mit Sicherheit großen Anteil daran, dass trotz gigantischer Steigerung von Produktion, geleisteten Arbeitsstunden, etc. diejenigen Unglücke, die durch Versagen der Technik verursacht wurden, immer seltener werden.
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