Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2015. Hinweise zum Ablauf des Bewerbs und wie ihr dabei Abstimmen könnt findet ihr hier. Informationen über die Autoren der Wettbewerbsbeiträge findet ihr jeweils am Ende der Artikel.
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Risiko ist abstrakter Begriff um die Gefährlichkeit einer Sache zu bewerten. Im alltäglichen Sprachgebrauch kommt er immer mal wieder vor. “Du gehst ein Risiko ein”, “Das ist risikoreich”. Wir wollen damit ausdrücken, dass wir eine Sache für gefährlich, vielleicht zu gefährlich halten. Es ist eine Warnung. Risiko – das impliziert Gefahr. Und Gefahr ist in den seltensten Fällen ein gerngesehener Gast.
Risiko ist eng Verknüpft mit dem Begriff der Sicherheit. Beides spielt für uns eine wichtige Rolle und ist sehr persönlich eingefärbt. Sicherheit – das Wort kann man auf vielfältige Weise interpretieren. Für manche ist Sicherheit vor allem Geborgenheit, wieder andere verstehen Sicherheit vor allem in finanzieller Hinsicht und für grauenerregend viele Menschen bedeutet Sicherheit einfach die Abwesenheit von tödlicher Gefahr.
Als Techniker steht man immer wieder vor der Situation, diese sehr persönlichen Begriffe auf eine verbindlich festgelegte interpretieren zu müssen. Will man zum Beispiel eine Chemieanlage bauen, müssen sich alle Beteiligten mit dem Risiko auseinandersetzen. Und es ist von entscheidender Bedeutung, dass wenn von Risiko, Gefährdung, Sicherheit gesprochen wird, alle die gleiche Vorstellung davon haben. Die Frage, wie man für diese schwammigen Begriffe eine feste, für alle verbindliche Interpretation findet, hat Generationen von klugen Köpfen auf den Gebieten von Technologie, Normung, Recht & Gesetz, Mathematik und wo sonst nicht noch überall, beschäftigt – sie ist alles andere als trivial.
Warum dem so ist, warum man überhaupt mit Risiko umgehen muss, warum man verbindliche Regeln dafür braucht und was man daraus für Konsequenzen zieht, das versuche ich hier kurz anzureißen.
Fast alle Maschinen, die uns das Leben erleichtern bzw. unseren Lebensstandard erst möglich machen, haben nicht nur das Potential zu nutzen, sondern auch zu schaden. Egal ob Kraftwerk, Chemieanlage oder Auto – mit großem Nutzen geht auch immer ein gewisses Risiko für durch diese Maschinen verursache Schäden einher. Ziel aller Technik ist es, das Risiko zu minimieren und den Nutzen zu maximieren. Es ist ein Allgemeinplatz, dass absolute Sicherheit nicht zu erreichen ist und ich persönlich glaube nicht, dass wirklich viele Menschen das denken, geschweige denn, Menschen, die fähig und in der Position sind, Entscheidungen zu treffen.
Trotz dessen ist der Begriff alles andere als selbsterklärend. Risiko ist abstrakt, aber das bedeutet nicht, dass es nicht beschreibbar ist.
Wie abstrakt der Begriff ist und wie fehl man selbst im ersten Moment manchmal gehen kann, soll ein kleines Beispiel zeigen: Die Mercedes-Benz Baureihe 115 von 1968
Ein Auto, nach dem man sich umdrehen wird, wenn man es auf der Straße sieht. Zugegebenermaßen ein Symbol der bürgerlichen, spießigen Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre. Aber trotz allem schön.
Dieses Auto hat, wie es da steht, einige interessante Sicherheitsmerkmale
- Der /8 hatte ursprünglich keine Sicherheitsgurte. Dieses Extra gab es erst ab den 70er Jahre und war erst verpflichtend seit den 80ern. Standard wurde es erst beim Nachfolger, dem W123
- Dieses Auto hat eine Starrkarosse, die sich bei einem Unfall kaum verformt. Es gibt keine Knautschzonen – die gesamte Energie des Einschlags wird an die Teile weitergegeben, die am wenigsten Widerstand leisten. Das sind in der Regel die Fahrgäste
- Die A-Säule bricht bei vielen Unfällen und kann sich aufgrund ihrer Geometrie in den Innenraum schieben
- Die Karosse kann sich beim Unfall so verziehen, dass sich die Türen nicht mehr öffnen lassen. Moderne Karossen sind so geformt, dass sie sich auf eine Weise verformen, die die Türen nicht blockiert, obwohl sie geschlossen bleiben
- Ein Frontalaufprall schiebt den Motor in den Fahrgastraum. Bei modernen Fahrzeugen ist die Motoraufhängung so beschaffen, dass er Beim Unfall nach unten wegbricht und das Chassis im schlimmsten Fall darüber hinweg schrammt, statt von ihm durchschlagen zu werden
- Die Pedale werden beim Unfall nach oben gedrückt, statt nach vorne weg zu klappen oder zu brechen und klemmen die Füße des Fahrers ein
- Die starre Lenksäule wird beim Frontalaufprall gegen Kopf und Brustkorb des Fahrers gedrückt
- Der Stern ist starr auf dem Kühlergrill montiert und stellt ein massives Verletzungsrisiko dar
- Nicht alle Modelle dieses Fahrzeugs hatten ausschließlich Scheiben aus Sekuritglas. Beim Unfall konnten die Seitenscheiben splittern
Trotz dessen hat sich garantiert die überwältigende Mehrzahl der Menschen in diesem Auto in keiner Weise mehr gefährdet gefühlt, als in jedem anderen.
Mehr noch – gerade weil der /8 so stabil ist, strahlt er ein Gefühl von Sicherheit aus. Auch heute noch. Aus dem Bauch raus würde ich behaupten, dass die Mehrzahl der Leute denkt, dass diese Autos bei einem Unfall mehr Schutz für die Fahrgäste bieten, obwohl sie was passiven und aktiven Schutz der Fahrgäste betrifft mittlerweile hoffnungslos veraltet sind. Obwohl die Unfallzahlen heute kaum niedriger sind, als sie damals waren (Was bei der deutlich gestiegenen Anzahl Fahrzeuge eine deutlich kleinere Rate bedeutet), sterben heute im vereinigten Deutschland 3.000 Personen pro Jahr im Straßenverkehr, verglichen mit bis zu 11.000 pro Jahr in der alten Bundesrepublik
Risiko ist schwierig einzuschätzen.
Aber irgendwie muss man es einschätzen. Im privaten Bereich kann man vielleicht damit leben zu denken “passt schon” und einfach mal zu machen, aber sobald man sich auf das Gebiet der Großtechnik begibt, ist das nicht mehr akzeptabel. Wir wissen heute gut, wie gefährlich bestimmte Verfahren, Stoffe und Technologien sind bzw. können das Potential für katastrophale Unfälle abschätzen. Es wäre von sträflicher Nachlässigkeit, wenn wir wüssten, dass z.B. ein Stoff unter bestimmten Bedingungen gefährlich ist, wir aber keine Anstalten machen, mit der Gefährdung adäquat umzugehen. Das ist ein Punkt, den ich für besonders wichtig halte: Wir fangen nicht bei Null an. Wir haben Erfahrung. Wir können auf über Hundert Jahre systematischer Unfallforschung auf allen Bereichen der Technik zurückschauen und in den allermeisten Fällen, gut abschätzen, wie groß eine Gefährdung bzw. ein Risiko wirklich ist. Bleiben wir dazu bei obigem Beispiel und konzentrieren uns auf einen Punkt, nämlich den Sicherheitsgurt.
Zunächst muss man abschätzen, was passieren kann – man muss Szenarien entwickeln. Die Frage lautet: “Wozu brauchen wir den Sicherheitsgurt?” und das Szenario ist die Antwort darauf. Man muss sich immer vor Augen halten, dass Maschinen vor allem gebaut werden, um ihrem Besitzer Profit zu bringen. Und Sicherheitstechnik ist teuer. Hier könnte das Szenario sein: Aufprall bei Geschwindigkeiten > 1 m/s. Ja, das reicht. Dabei besteht die Gefahr, dass die Person im Fahrzeug herumgeschleudert wird und sich dabei schwer verletzt. Um Abhilfe zu schaffen, wird der Sicherheitsgurt vorgeschlagen. Jetzt muss man abschätzen: Wie oft passieren Unfälle? Wie groß ist der Schaden? Kann man das abschätzen, hat man das Risiko im Prinzip erschlagen.
Risiko ist definiert als das Produkt aus Schadensausmaß (Dn) und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit (Pn). An dieser Definition muss man sich kurz festhalten, sie auf sich wirken lasen. Man sollte sich klar machen, dass Risiko in diesem Sinne zwar immer noch abstrakt, aber in gewissem Maße berechenbar ist. Man sollte sich auch in aller Schärfe klar machen, dass in dem Begriff “Wahrscheinlichkeit” eine Komponente fundamentaler Unsicherheit steckt, die sich nicht vollständig eliminieren lässt! Kennt man die Wahrscheinlichkeiten sehr gut, etwa aus langer Erfahrung, ist die Abschätzung des Risikos sehr gut. Kennt man die Wahrscheinlichkeiten nicht gut genug, dann Ex falso quodlibet. Eine einfache Lösung für diese Misere gibt es aber nicht.
Das Dn kann vielfältig sein: Leichte Blessuren, Prellungen, Brüche, Risse, Innere und äußere Verletzungen, Hirnschäden, Tod einer Person, Tod mehrer Personen. Das ist ein breites Spektrum. Auch die Pn kann äußerst unterschiedlich sein. Zweckmäßig ist es, die unüberschaubar vielen Einzelfälle für sowohl Dn als auch Pn in einer überschaubaren Zahl Kategorien zusammenzufassen. z.B.:
Alternativ kann man das Dn auch in Geldeinheiten ausdrücken. Während Personenschaden eindeutig und die Verständigung über das Ausmaß des Schadens einfach ist, kann das Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens für ein Unternehmen oder einen Menschen aber nicht einfach an absoluten Maßstäben festgemacht werden. Ein Schaden von 1.000 Millionen € mag für ein Unternehmen wie Shell, Walmart oder SAP sehr schmerzhaft, aber zu verkraften sein. Für einen Mittelständler wie Grünenthal, FIMA oder Hela ist er mit ziemlicher Sicherheit desaströs. Ein Todesfall ist unabhängig vom finanziellen Hintergrund immer eine Katastrophe. Aus diesem Grunde beschränke ich mich hier auf Personenschäden. Mit geeignet abgestuften Schadenssummen lässt sich die ganze Überlegung aber auch für rein wirtschaftlichen Schaden machen. Die Kategorien bilden Zeilen und Spalten der Risiko-Matrix:
Die Einteilung der Risikoklassen ist quantitativ. Dieser Punkt ist wichtig. Indem man aus Ausmaß und Wahrscheinlichkeit das Risiko für einen Schaden bildet, lassen sich verschiedene Risiken nach einigermaßen objektiven Maßstäben vergleichen. Drückt man das Dn in Geldeinheiten aus, lässt sich das Risiko direkt, z.B. in Euro pro Jahr, ausdrücken. Diese Methode hat ihre Probleme und ist sicher nicht perfekt, aber sie ist seit Jahrzehnten in der Industrie gängige Praxis und hat mit Sicherheit großen Anteil daran, dass trotz gigantischer Steigerung von Produktion, geleisteten Arbeitsstunden, etc. diejenigen Unglücke, die durch Versagen der Technik verursacht wurden, immer seltener werden.
Bleiben wir beim Beispiel Autogurt und beim Szenario “Aufprall mit geringer Geschwindigkeit”. Aus der Erfahrung kann man sagen, dass die Pn dafür nicht gerade klein ist. Tun wir so, als würde jeder Autofahrer im Mittel alle 10 Jahre einen solchen Unfall haben. Das Dn ist in Abwesenheit außergewöhnlicher Umstände auf Verletzungen beschränkt. Todesfälle bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten sind selten. Wir sind konservativ und bewerten das Dn mit D3, denn schwere Verletzungen können durchaus Folge kleiner Unfälle sein. Daraus ergibt sich die Risikoklasse “Hoch”. Man beachte, dass das Wort “Hoch” hier nicht in einem qualitativen Sinn verwendet wird, sondern eine quantitative Bedeutung hat. “Hoch” bedeutet in diesem Fall: im Mittel besteht für jeden Autofahrer das Risiko, innerhalb von 10 Jahren einen Unfall zu haben, bei dem er sich potentiell schwer verletzt.
Mit diesem Risiko muss man jetzt irgendwie umgehen. Aufs Auto fahren zu verzichten ist nicht die Option der Wahl. Autos sind zu nützlich und wir als Gesellschaften sind im Moment der Meinung, dass es sich lohnt, die Risiken in Kauf zu nehmen. Wir müssen also technische Lösungen finden, die Risiken einzudämmen. Der Versuch, Risiken durch Technik auszuschließen hat nichts mit Angst zu tun – das ist ein Argument, das man oft gegen den Fahrradhelm hört und das in den 1970er Jahren auch gegen den Autogurt vorgebracht wurde. Angst wäre, aufs Fahrrad bzw. Auto zu verzichten. Vor Fahrtantritt Helm bzw. Gurt anzulegen ist dagegen sondern von Vorsicht, also der Eigenschaft, bekannte Risiken zu antizipieren und sich dagegen abzusichern.
An dieser Stelle drängt sich folgende Frage förmlich auf: Der Schutz gegen jeden nur denkbaren Schaden sollte das Idealziel sein. Warum bewertet man dann nicht alles mit der maximalen Stufe und ist immer auf der sicheren Seite?
Das hat zum einen pekuniäre Gründe. Aber auch technische, denn auch die Abhilfe gegen einen Schaden birgt das Risiko, Schäden zu verursachen. Der Gurt im Auto ruft in vielen Fällen, in denen er schwere Verletzungen verhindert, leichte Verletzungen hervor. Und in manchen Fällen wird der Gurt verantwortlich für den Tod eines Menschen sein, der ohne Gurt überlebt hätte. Man muss sich klar machen, dass das Schutzsystem selbst Nebenwirkungen haben kann, die das globale Risiko deutlich reduzieren, aber unter Umständen ein spezielles Risiko erhöhen. Es ist daher gar nicht automatisch sinnvoll, das Schutzsystem immer so auszulegen, dass es auch das größte Dn beherrscht, wenn dieses sehr selten vorkommt. Denn die Nebenwirkungen richten vielleicht über die Zeit insgesamt mehr Schaden als, als der schwerste Unfall anrichten würde. Der Gurt könnte zum Beispiel in einer Weise beschaffen sein, dass er jede Verletzung zuverlässig ausschließt, indem er die Person sicher fixiert, aber flexibel auf Stöße reagiert. Dadurch werden einige sehr schwere Unfälle überlebt werden können. Möglicherweise steigt dadurch aber die Gefahr, dass die Person bei einem weniger schweren Unfall vom Gurt festgehalten wird, sich darin verheddert oder die Rettungskräfte sie nicht schnell genug bergen können. Die wenigen gefährlichen Zustände, die durch den übertrieben sicheren Gurt vermieden werden, stehen dann vielleicht vielen Unfallsituationen gegenüber, die gerade durch den komplexen Gurt gefährlich werden. In diesem Fall könnte es sein, dass das globale Risiko erhöht wurde, weil das System darauf ausgelegt sein sollte, auch den schwersten Unfall zu beherrschen.
Die Beherrschung des größten Unfalls führt zu Nebenwirkungen, die die weniger schweren Unfälle gefährlicher machen. Deswegen gehört zur Abschätzung des Risikos immer die Abschätzung von Dn und Pn anhand plausibler Szenarien. Den allerschwersten Unfall abzudecken kann sinnvoll sein und ist es meistens auch, aber das ist kein Muss. Und deshalb sind Szenarien so wichtig. In einfachen Fällen kann man konstatieren, dass ein gewisses Dn verhindert werden soll, egal wie es eingetreten ist. In der Praxis kommt man aber sehr schnell an einen Punkt, an dem man mit dieser Herangehensweise Fälle betrachten müsste, die völlig utopisch sind. Alle großen Industrienationen haben im Laufe der Jahrzehnte Normenwerke entwickelt, um jedem Risiko eine angemessene Sicherheitsanforderungsstufe (Sn) zuordnen zu können. Die Sn beschreibt, um welchen Faktor man das Risiko senken kann, wenn man geeignete Maßnahmen ergreift. Die Maßnahmen folgen in der Regel einer gewissen Hierarchie:
1. Zu bevorzugen ist immer die Eigensichere oder besser Selbstbegrenzende Auslegung. Eine Maschine ist dann am sichersten, wenn sie so gebaut ist, dass der schwerste Unfall keinen über ihre eigene Zerstörung hinausgehenden Schaden anrichten kann, weil physikalische Prinzipien ihn begrenzen.
2. Ist das nicht möglich oder unzweckmäßig, sind mechanische Sicherheitseinrichtungen möglich: Sicherheitsventile, Sprinkler, etc.
3. Als letztes Mittel bleibt die sogenannte der Funktionale Sicherheit. Das sind die Logikgestützten Schutzsysteme, die aus fehlersicheren elektronischen bzw. elektromechanischen Bauelementen und einer Schaltungs- bzw. Programmlogik bestehen.
Alle Normenwerke kennen wohl unterschiedene Sn. Allen gemein ist, dass sie die breiteste Definition überhaupt dafür verwenden: Die mittlere Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderung bzw. über einen bestimmten Zeitraum. Die Idee dahinter lässt sich auf alle Arten von Schutzsystemen übertragen: Es geht darum, durch eine technische Lösung das Risiko zu verkleinern. Und weil es für die Praxis zweckmäßig ist, teilt man die Schutzsysteme anhand ihrer Fähigkeit, Risiken zu verkleinern, in Kategorien ein. Der Gedankliche Ansatz dazu ist folgender: Gehen wir davon aus, dass das Schutzsystem den gefährlichen Zustand vollständig beherrschen kann, wenn es ausgelöst wird und korrekt funktioniert (darauf sind Schutzsysteme normalerweise ausgelegt). Dann reicht es, abzuschätzen wie oft ein gefährlicher Fehler im System auftritt, der zum Ausfall desselben führt:
In der ersten Spalte steht die Risikoklasse, von der wir ausgehen, in der zweiten die korrespondierende Sn. In Spalte drei finden wir die Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderungen oder PFD. Sie gilt für Systeme mit niedriger Anforderungsrate bzw. nicht-kontinuierliche Anforderung. Der Autogurt gehört zu dieser Kategorie, denn auch wenn wir ihn bei der Fahrt kontinuierlich tragen, fordern wir ihn nur bei einem bestimmten Ereignis, dem Unfall, wirklich an. Genau dann muss er funktionieren und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei Anforderung versagt, ist die PFD. In Spalte vier steht die Ausfallwahrscheinlichkeit oder PFH. Diese Zahl gilt für kontinuierliche Anforderung. Ein Beispiel ist z.B. eine Analoge Messung, auf deren kontinuierliches Funktionieren man angewiesen ist, um den sicheren Zustand einer Anlage zu gewährleisten. Die PFH ist die Wahrscheinlichkeit für den Ausfall des Schutzsystems pro Stunde. Diese Zahl muss naturgemäß viel kleiner sein als die PFD.
Erinnern wir uns: Risiko ist das Produkt aus Dn und Pn. Dieses Risiko wollen wir durch ein Schutzsystem verkleinern. Das verbliebene Restrisiko ist das Produkt aus Dn, Pn und PFD bzw. PFH des Schutzsystems. Ich habe mehr als ein Mal geschrieben, dass die Risikoabschätzung quantitativ ist und hier wird das ganz deutlich: Dadurch, dass ich für das Schutzsystem fordere, dass es das Unfallszenario vollständig beherrschen kann und seine Ausfallrate unter einer bestimmten Schwelle bleiben muss, kann ich das verbliebene Restrisiko direkt abschätzen.
Die Risikoabschätzung aus unserem Beispiel Autogurt hat uns ein Risiko der Kategorie “Hoch” gebracht. Aus der Anforderungsmatrix lesen wir ab, dass wir ein Schutzsystem der Sn 3 einsetzen müssen. das bedeutet, die PFD des Gurtes muss kleiner sein als 10^(-3). Ursprünglich bestand für jeden Autofahrer das mittlere Risiko, alle 10 Jahre einen Unfall zu haben, bei dem er sich schwer verletzt. Durch den Gurt sinkt das Restrisiko auf einen solchen Schaden alle 10.000 Jahre!
Die Wahl der geeigneten Sn führt dann zur konkreten Auslegung des Schutzsystems, im Beispiel also der Konstruktion eines sicheren Gurtes. Ein wahnsinnig weites Feld. So weit, dass ich es an dieser Stelle nicht auch noch anschneiden will – ich glaube, der Beitrag ist jetzt schon lang genug. Nur so viel: Für jedes große Industrieunternehmen ist das, was ich hier beschrieben habe, Tagesgeschäft und die Verfahren zur Risikobewertung und -behandlung sind hochentwickelt. Ebenso gibt es erprobte Standardverfahren zur Auslegung von Schutzsystemen.
Spätestens an dieser Stelle sollte man gemerkt haben, dass alles, was mit dem Risiko und seiner Behandlung zu tun hat ein reines Spiel mit Wahrscheinlichkeiten ist. Es ist völlig klar, dass bei einer großen Anzahl Schutzsystemen immer mal wieder eines irgendwo auf der Welt versagen wird, selbst wenn es den höchsten Anforderungen genügt. Wir können leider nur abschätzen, wie weit wir das Risiko senken können – eliminieren können wir es nicht. Wenn man so will, können wir der absoluten Sicherheit beliebig nahe kommen, erreichen werden wir sie nie. Aber Abschätzungen, ganz ähnlich, wie ich sie hier beschrieben habe, sind der bis dato beste praktische Weg, des Risikos Herr zu werden, ohne auf die vielen Vorteile zu verzichten, die der Betrieb von Anlagen aller Art – seien es Fabriken, Maschinen oder Autos – mit sich bringt.
Trotz aller Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft und Murphys Gesetz leben wir in einer Welt, die auf Naturgesetzen beruht. Die Temperatur in einem großen Volumen wird nicht sprungförmig steigen, wenn die Energiezufuhr klein ist. Ein Behälter wird nicht überlaufen, wenn der Zulauf kleiner ist als der Ablauf und dieser nicht versperrt ist. Diese Gesetzmäßigkeiten muss man sich zunutze machen. Es stimmt zwar, dass man nie alles weiss. Man sollte sich aber immer bewusst machen, was man weiss. Und die großen Industrie-Unfälle der Geschichte wurden von Menschen mehr oder minder bewusst verursacht, obwohl die Risiko-Abschätzung gezeigt hätte (und in erschreckend vielen Fällen sogar hatte!), dass katastrophal unsichere Zustände entstehen könnten. Der Unfall von Tschernobyl fand nicht statt, weil die Anlage marode war, sondern wurde verursacht, weil die Bedienmannschaft die Schutzsysteme wissentlich und willentlich manipulierte. Ein relativ harmloser Test, der in allen Kernkraftwerken gleicher Bauart zum Standard gehörte, konnte sich deswegen zu einer nie dagewesenen Katastrophe entwickeln. Dito Bophal. Die Katastrophe kam nicht aus dem nichts, sondern wurde verursacht von einer im Nachhinein gradezu irrsinnig risikoreichen Fahrweise der Anlage, die in dieser Form weder in Europa, noch in Amerika möglich gewesen wäre (und heute selbst in China und Indien so nicht mehr möglich ist). Und letzten Endes gehören Katastrophen wie Fukushima Daiichi auch in diese Liste. Genauso schwere Erdbeben wie das vom 11. März 2011 waren aus der jüngsten Geschichte vor dem Bau der Anlage schon bekannt. Es ist heute natürlich einfach, auf die Stimmen zu verweisen, die schon seit langem vor einer durch einen Tsunami ausgelösten Nuklearkatastrophe gewarnt hatten, weil man im Nachhinein immer “Stimmen” finden kann, die “warnen”. Aber ich bin doch der Meinung, dass bei einer sauberen Risikoabschätzung schon vor langer Zeit entweder das Kraftwerk hätte deutlich verstärkt oder aufgegeben werden müssen.
Risiko – das ist etwas, mit dem wir jeden Tag umgehen und das wir zumindest grundsätzlich beherrschen können müssen. Leider müssen wir Risiken eingehen, wenn wir nützliche Maschinen benutzen wollen. Wir sind dem Risiko aber nicht schutzlos ausgeliefert – wir können es zwar nicht aus der Welt schaffen, aber Methoden entwickeln, um es deutlich zu reduzieren. Und das ist schon eine Menge.
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Hinweis zum Autor:Orci ist Ingenieur für Elektro- und Prozessleittechnik in der Anlagenplanung eines großen deutschen Chemieunternehmen. Die Auslegung von PLT-Schutzeinrichtungen anhand von Risikoabschätzungen ist ein wichtiger Teil seiner täglichen Arbeit.
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