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Virtuelle Realität. Kaum ein anderer Begriff ist derart in der Lage, Assoziationen an Science-
Fiction, Zukunft und je nach Gemüt u- oder dystopische Gesellschaftsszenarien zu wecken.
Doch was genau meinen wir, wenn wir über virtuelle Realität (VR) sprechen?
VR lässt sich sowohl durch die computergenerierten Inhalte, die Eindrücke und Bilder, die
eine virtuelle Umgebung darstellen, definieren, als auch durch die Geräte, die zum Erleben
der Umgebung nötig sind [1]. Diese werden auch als “VR-devices”, bezeichnet, aber oft
gemeint, wenn von VR die Rede ist. Im Folgenden soll VR als Technologie verstanden
werden, die die direkte Schnittstelle zwischen Nutzern und den virtuellen Welten bildet.
Solche Schnittstellen können wie beim CAVE-System [2] ganze Räume sein, die über
Projektionen und Steuerelemente den Eindruck vermitteln, sich in einer anderen Umgebung
zu befinden. Auch die inzwischen alltägliche Kombination aus Monitor und Controller ist
genaugenommen eine solche Schnittstelle. Die zur Zeit größte mediale Aufmerksamkeit
erhalten VR-Brillen, die sogenannten Head-mounted Displays (HMDs). Diese wurden bereits
1968 als “Head Mounted Three-Dimensional Display” vorgestellt [3] und werden seither zu
Trainingszwecken [4], für wahrnehmungspsychologische Grundlagenforschung [5] oder auch
zur Therapie von Phobien [6] eingesetzt. Für die breite Bevölkerung hingegen werden sie
dadurch attraktiv, dass modernere Versionen sich auch für Videospiele und andere
Unterhaltungsmedien verwenden lassen.
Nicht wenige sitzen derzeit mit funkelnden Augen vor dem PC und stellen fest, dass seit
Kindheitstagen herbeigesehnte Technologien nun käuflich für den Heimgebrauch zu erwerben
[7] oder zu erbasteln [8] sind. Die Aussicht, sich mit einem bisher unerreichten
Freiheitsgefühl in und auf die virtuelle Schlacht/Rennstrecke/Hundezuchtfarm zu stürzen,
lässt die Investition als eine gute Idee erscheinen. Bereits die noch nicht als fertige
Kundenversion konzipierten Entwickler-Versionen zogen eine Welle von begeisterten, aber
auch herzerwärmenden [9] und teilweise fragwürdigen [10] Anwendungszwecken und
entsprechenden Reaktionen nach sich. Die Anzahl der für verschiedene HMDs verfügbaren
Spiele steigt stetig. Beste Voraussetzungen also, die Kreditkarte zu zücken und sich ein Spiel
der Wahl sowie ein wenig Zeit zum Testen zu verschaffen. Dem Rückzug ins persönliche
Holodeck und dem ungetrübten Genuss desselben steht also nichts mehr im Wege. Oder
doch?
Folgen wir Alice, einer begeisterten Spielerin von Ego-Shootern und Rennspielen am PC.
Aufgeregt und voller Vorfreude zieht sie sich ihr neues HMD über den Kopf, stellt die
Fixationsgurte etwas enger für einen festen Sitz und stürzt sich ins Spiel. Ihr erster Eindruck
ist überwältigend. Sie kann sich durch ihre Kopfbewegung umschauen und sogar ein
Hervorlugen hinter Ecken wird durch die Bewegungserfassung ermöglicht. Gleichzeitig merkt
sie aber auch, wie sie ihre Augen etwas anstrengen muss, um alles wie gewohnt zu fixieren.
Sie wirft eine Granate zum gegnerischen Team und ist beeindruckt von der Explosion und den
Lichteffekten. Als sie zur nächsten Deckung sprintet, bemerkt sie, wie ihr etwas Unwohl wird.
Sie schiebt es auf ihre Aufregung und hockt sich hinter eine kleine Mauer. In der Ferne sieht
sie einen Kampfjet stehen, den sie als Missionsziel erreichen muss. Zehn Minuten und ein
paar weitere Gefechte später steigt sie an Bord, drückt auf den Startknopf und kommt in den
Genuss eines Geschwindigkeitsrausches, als der Jet beschleunigt und sie in Richtung
Sicherheit bringt. Jetzt merkt sie, dass ihr inzwischen stark übel ist und beschließt, eine Pause
zu machen. Als sie das HMD abnimmt, bemerkt sie den dünnen Schweißfilm auf ihren
Händen und im Gesicht. Desorientiert legt sie das HMD zur Seite und fragt sich, was mit ihr
los ist.
Was ist hier passiert? Nicht alle können ihre neue VR-Brille uneingeschränkt genießen.
Übelkeit, Schwindel, trockener Mund und feuchte Hände stellen sich der Fortführung der
aktuellen Quest in den Weg und angestrengte Augen verhindern die Wertschätzung der
detailliert erstellten Grafikelemente. Der erwartete Entspannungseffekt stellt sich nicht ein;
auch nach Abnahme der Brille bleibt eine dezente Übelkeit und leichter Schwindel bestehen,
bis nach etwas Ruhe und ein paar Minuten bis Stunden der Normalzustand wieder hergestellt
ist.
Das Phänomen, das die fiktive und nun vermutlich enttäuschte VR-Novizin erlebt hat, nennt
sich Cybersickness (CS). CS ist eng verwandt mit den Konzepten der Motionsickness und
Simulator Sickness [11]. Motionsickness ist die forschungshistorisch ursprünglichste Form
und den meisten Menschen unter der urlaubsfreudentrübenden Reisekrankheit bekannt.
Motionsickness entsteht durch einen Informationskonflikt: während beispielsweise bei
Autofahrten Beschleunigungskräfte auf den eigenen Körper wirken, signalisiert das im
Innenohr befindliche Gleichgewichtsorgan dem Gehirn “Körper in Ruhe”. Sobald man aus
dem Fenster blickt und die Umgebung vorbeirauschen sieht, verringert sich der Konflikt und
zumindest die visuelle Wahrnehmung sagt jetzt ebenfalls “Jop, wir bewegen uns. 2:1,
Gleichgewichtsorgan!”. Hierdurch kann Motionsickness oft gemindert werden, während
beispielsweise Lesen und Fokussierung auf stationäre Objekte im Auto sie verschlimmern
können.
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