Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2015. Hinweise zum Ablauf des Bewerbs und wie ihr dabei Abstimmen könnt findet ihr hier. Informationen über die Autoren der Wettbewerbsbeiträge findet ihr jeweils am Ende der Artikel.
——————————————
Virtuelle Realität. Kaum ein anderer Begriff ist derart in der Lage, Assoziationen an Science-
Fiction, Zukunft und je nach Gemüt u- oder dystopische Gesellschaftsszenarien zu wecken.
Doch was genau meinen wir, wenn wir über virtuelle Realität (VR) sprechen?
VR lässt sich sowohl durch die computergenerierten Inhalte, die Eindrücke und Bilder, die
eine virtuelle Umgebung darstellen, definieren, als auch durch die Geräte, die zum Erleben
der Umgebung nötig sind [1]. Diese werden auch als “VR-devices”, bezeichnet, aber oft
gemeint, wenn von VR die Rede ist. Im Folgenden soll VR als Technologie verstanden
werden, die die direkte Schnittstelle zwischen Nutzern und den virtuellen Welten bildet.
Solche Schnittstellen können wie beim CAVE-System [2] ganze Räume sein, die über
Projektionen und Steuerelemente den Eindruck vermitteln, sich in einer anderen Umgebung
zu befinden. Auch die inzwischen alltägliche Kombination aus Monitor und Controller ist
genaugenommen eine solche Schnittstelle. Die zur Zeit größte mediale Aufmerksamkeit
erhalten VR-Brillen, die sogenannten Head-mounted Displays (HMDs). Diese wurden bereits
1968 als “Head Mounted Three-Dimensional Display” vorgestellt [3] und werden seither zu
Trainingszwecken [4], für wahrnehmungspsychologische Grundlagenforschung [5] oder auch
zur Therapie von Phobien [6] eingesetzt. Für die breite Bevölkerung hingegen werden sie
dadurch attraktiv, dass modernere Versionen sich auch für Videospiele und andere
Unterhaltungsmedien verwenden lassen.
Nicht wenige sitzen derzeit mit funkelnden Augen vor dem PC und stellen fest, dass seit
Kindheitstagen herbeigesehnte Technologien nun käuflich für den Heimgebrauch zu erwerben
[7] oder zu erbasteln [8] sind. Die Aussicht, sich mit einem bisher unerreichten
Freiheitsgefühl in und auf die virtuelle Schlacht/Rennstrecke/Hundezuchtfarm zu stürzen,
lässt die Investition als eine gute Idee erscheinen. Bereits die noch nicht als fertige
Kundenversion konzipierten Entwickler-Versionen zogen eine Welle von begeisterten, aber
auch herzerwärmenden [9] und teilweise fragwürdigen [10] Anwendungszwecken und
entsprechenden Reaktionen nach sich. Die Anzahl der für verschiedene HMDs verfügbaren
Spiele steigt stetig. Beste Voraussetzungen also, die Kreditkarte zu zücken und sich ein Spiel
der Wahl sowie ein wenig Zeit zum Testen zu verschaffen. Dem Rückzug ins persönliche
Holodeck und dem ungetrübten Genuss desselben steht also nichts mehr im Wege. Oder
doch?
Folgen wir Alice, einer begeisterten Spielerin von Ego-Shootern und Rennspielen am PC.
Aufgeregt und voller Vorfreude zieht sie sich ihr neues HMD über den Kopf, stellt die
Fixationsgurte etwas enger für einen festen Sitz und stürzt sich ins Spiel. Ihr erster Eindruck
ist überwältigend. Sie kann sich durch ihre Kopfbewegung umschauen und sogar ein
Hervorlugen hinter Ecken wird durch die Bewegungserfassung ermöglicht. Gleichzeitig merkt
sie aber auch, wie sie ihre Augen etwas anstrengen muss, um alles wie gewohnt zu fixieren.
Sie wirft eine Granate zum gegnerischen Team und ist beeindruckt von der Explosion und den
Lichteffekten. Als sie zur nächsten Deckung sprintet, bemerkt sie, wie ihr etwas Unwohl wird.
Sie schiebt es auf ihre Aufregung und hockt sich hinter eine kleine Mauer. In der Ferne sieht
sie einen Kampfjet stehen, den sie als Missionsziel erreichen muss. Zehn Minuten und ein
paar weitere Gefechte später steigt sie an Bord, drückt auf den Startknopf und kommt in den
Genuss eines Geschwindigkeitsrausches, als der Jet beschleunigt und sie in Richtung
Sicherheit bringt. Jetzt merkt sie, dass ihr inzwischen stark übel ist und beschließt, eine Pause
zu machen. Als sie das HMD abnimmt, bemerkt sie den dünnen Schweißfilm auf ihren
Händen und im Gesicht. Desorientiert legt sie das HMD zur Seite und fragt sich, was mit ihr
los ist.
Was ist hier passiert? Nicht alle können ihre neue VR-Brille uneingeschränkt genießen.
Übelkeit, Schwindel, trockener Mund und feuchte Hände stellen sich der Fortführung der
aktuellen Quest in den Weg und angestrengte Augen verhindern die Wertschätzung der
detailliert erstellten Grafikelemente. Der erwartete Entspannungseffekt stellt sich nicht ein;
auch nach Abnahme der Brille bleibt eine dezente Übelkeit und leichter Schwindel bestehen,
bis nach etwas Ruhe und ein paar Minuten bis Stunden der Normalzustand wieder hergestellt
ist.
Das Phänomen, das die fiktive und nun vermutlich enttäuschte VR-Novizin erlebt hat, nennt
sich Cybersickness (CS). CS ist eng verwandt mit den Konzepten der Motionsickness und
Simulator Sickness [11]. Motionsickness ist die forschungshistorisch ursprünglichste Form
und den meisten Menschen unter der urlaubsfreudentrübenden Reisekrankheit bekannt.
Motionsickness entsteht durch einen Informationskonflikt: während beispielsweise bei
Autofahrten Beschleunigungskräfte auf den eigenen Körper wirken, signalisiert das im
Innenohr befindliche Gleichgewichtsorgan dem Gehirn “Körper in Ruhe”. Sobald man aus
dem Fenster blickt und die Umgebung vorbeirauschen sieht, verringert sich der Konflikt und
zumindest die visuelle Wahrnehmung sagt jetzt ebenfalls “Jop, wir bewegen uns. 2:1,
Gleichgewichtsorgan!”. Hierdurch kann Motionsickness oft gemindert werden, während
beispielsweise Lesen und Fokussierung auf stationäre Objekte im Auto sie verschlimmern
können.
Bei der Simulator Sickness ist der Fall genau entgegengesetzt gelagert: hier meldet das
visuelle System “alles in Bewegung!”, während sowohl Gleichgewichtsorgan als auch die
Wahrnehmung der Körperposition und -lage einhellig für einen aktuellen Stillstand votieren.
Simulator Sickness tritt beispielsweise in Flugsimulatoren auf, während des Videospielens
oder bei 3D-Filmen. Hierbei scheint entgegen zur Linderung der Motionsickness durch
Hinwendung zu bewegten Reizen die Fixierung von unbewegten Objekten in der Umgebung
zu helfen [11].
Was ist nun der Unterschied zur Cybersickness? Cybersickness basiert auf dem gleichen
Prinzip des Informationskonflikts wie die Simulator Sickness, umfasst aber noch zusätzliche
Aspekte, die sich auf die technische Umsetzung und die Darstellung der virtuellen Inhalte
beziehen. CS ist kurz gefasst Simulator Sickness + Beeinträchtigung des Befindens durch
zusätzliche technische und inhaltliche Störfaktoren [11].
Und hier setzt das Problem der übelkeitsgeplagten Alice an: vielleicht gab es eine kurze
Verzögerung (Latenz) zwischen ihrer Kopfbewegung und der Anpassung der dargestellten
Position in der virtuellen Umgebung. Möglicherweise beeinträchtigte das hochfrequente
Flackern eines Grafikelements, eine zu niedrige Auflösung oder eine zu schnelle Abfolge von
visuellen Reizen ihr Erlebnis. Eventuell hat sie auch ein ambitionierter Gamedesigner mit
seiner Jetstartsimulation durch zu schnelle passiv erlebte und nicht selbst steuerbare
Bewegung ins Reich der stundenlangen Übelkeit katapultiert. Die Rotation des Charakters
und der nicht individuell eingestellte Linsenabstand am HMD haben ihr dann den Rest
gegeben.
Was nach einem Katastrophenszenario schlecht gestalteter Spielinhalte und suboptimaler
technischer Umsetzung klingt, ist nicht immer vermeidbar. Hinsichtlich der technischen
Umsetzung versuchen Herstellerfirmen ihre Produkte zu optimieren und die Latenzen so
gering wie möglich zu halten. Die möglichen Auflösungen erhöhen sich stetig. Auf
inhaltlicher Seite gibt es inzwischen Guidelines, die bei der Erstellung von VR-Spielen das
Risiko zur CS senken sollen [12, 13]. Dies ist effektiv, limitiert aber auch die Möglichkeiten.
Schöner wäre es natürlich, wenn es überhaupt keine CS gäbe. Warum wird manch einem nach
einer kleinen Runde mit einem HMD überhaupt so blümerant zumute?
Was auf der Symptomebene passiert, wenn jemand cybersick wird, ist umfänglich
beschrieben [14]. Auch individuelle Faktoren, die das Auftreten von CS fördern, wie
beispielsweise Alter, Geschlecht oder auch die aktuelle Phase im Menstruationszyklus,
werden erforscht [11]. Noch nicht ganz geklärt ist jedoch, warum der menschliche Körper auf
die oben beschriebenen Informationskonflikte überhaupt mit Übelkeit, Schwindel und co
reagiert. Eine mögliche Erklärung ist die Vergiftungshypothese. Hierbei soll die Diskrepanz
zwischen eigener und wahrgenommener Bewegung vom Gehirn als Symptom einer
potentiellen Vergiftung interpretiert werden, wodurch der Notfallplan “Erbrechen und
Übelkeit”, inklusive verbundener Symptome wie Schwitzen und Blässe eingeleitet wird
[11,14]. Diese Annahme erklärt jedoch nur einen Teil der Symptome. Anhaltende
Desorientierung, Ermüdung der Augen und vor allem die Dauer der Nachwirkung der VR-
Erfahrung scheint eher in der ungewohnten Darbietungsform und der Anstrengung durch die
Fokussierungsleistung begründet zu liegen. Auch in der langanhaltenden Fortsetzung der
Symptome unterscheiden sich Cyber- und Simulator Sickness tendenziell von herkömmlicher
Reiseübelkeit [15], so dass es sich um verschiedene Grundmechanismen zu handeln scheint.
Bekannt ist der konkrete Prozess somit nur in Teilen. Bis nähere Erkenntnisse vorliegen, ist
also zunächst Symptombekämpfung das Mittel der Wahl.
Was kann man auf individueller Seite gegen CS tun? Medikamentöse Lösungen werden zwar,
analog zu Reiseübelkeitsmedikamenten, erforscht, sind aber erstens nicht in allen Fällen
zuverlässig wirksam [16] und zweitens eher auf Personen ausgerichtet, für die ein VR-
Training beruflich nötig ist. Für den Alltagsgebrauch ist die generelle Bereitschaft, neben
Cola und Pizza zur Spielesession noch die Übelkeitsmedikamente bereitzustellen sicher aus
gutem Grund eher gering. Andere Ansätze wie systematische Gewöhnung, die Konzentration
auf die eigene Kontrolle der Situation (ähnlich wie die Empfehlung als Beifahrer, sich eigenes
Fahren vorzustellen) und Suggestion (“Ich werde Spaß haben und es wird mir gut gehen”)
werden vorgeschlagen, stehen aber auch noch zur Forschung [11].
Langfristig stehen Head Mounted VR-Displays also vor einem kritischen Punkt: um nicht nur
auf dem Markt anzukommen, sondern die Zukunftstechnologie zu werden, die uns allen unser
lang ersehntes Holo-refugium ermöglicht, muss das Problem der Cybersickness überwunden
werden. Hier ist die Entwicklung an einen Punkt angelangt, an dem ein vermuteter
biologischer Vorteil zu einem technologischen Nachteil geworden ist. Der Mensch, der sich
diese Technologie zum eigenen Gebrauch konzipiert, läuft Gefahr, sich letzten Endes selbst
durch die eigene Biologie ein Hindernis zu sein. Es wird sich zeigen, ob der “Nachteil” der
menschlichen Veranlagung dazu über Technologie ausgeglichen werden kann. Denkbar ist es.
Denkbar ist aber auch, dass der Mensch der limitierende Faktor bleibt, an dem sich unsere
Vorstellung der Zukunft vom tatsächlich nicht nur Mach- sondern auch Erlebbaren scheidet.
Birgt omnipräsente VR die Gefahr verschwindender zwischenmenschlicher
Kommunikation [17]? Oder hat sie das Potential, uns einander näher zu bringen Empathie zu
fördern und Grenzen zwischen Individuen zu verwischen [18]? Welche Anwendungsgebiete
werden sich auftun? Ist VR gekommen um zu bleiben, oder eine vorübergehende
Erscheinung?
Die Zukunft dieser Fragen wird sich erst mit der Etablierung von HMDs als
Massentechnologie entscheiden. Die Bekämpfung von CS ist dabei eines der größten
Hindernisse auf dem Weg an eine breite Öffentlichkeit. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich
die Zukunft der VR am Nadelöhr Mensch entscheidet.
[1] https://www.merriam-webster.com/dictionary/virtualreality
[2] CAVE automatic virtual environment. https://www.visbox.com/products/cave/
[3] Sutherland, I.E. (1968). A Head-Mounted Three-Dimensional Display. In: Proceedings of
the December 9-11, 1968, fall joint computer conference, part I.
[4] Baumann, J., (n.d.) Military Applications of Virtual Reality. https://www.hitl.washington.edu/projects/knowledge_base/virtual-worlds/EVE/II.G.Military.html
[5] Lin, Q., Xie, X., Erdemir, A., Narasimham, G., McNamara, T.P., Rieser, J., &
Bodenheimer, B. (2011). Egocentric Distance Perception in Real and HMD-based Virtual
Environments: the Effects of Limited Scanning Method. Proceedings of the 8th Symposium on
Applied Perception in Graphics and Visualization, APGV 2011, Toulouse, France, August 27-
28, 2011 DOI: 10.1145/2077451.2077465
[6] Botella, C., Banos, R.M., Villa, H., Perpina, C., & Garcia-Palacios, A.G. (2000). Virtual
reality in the treatment of claustrophobic fear: A controlled, multiple-baseline design.
Behavior Therapy, 31(3), 583-595.
[7] https://www.oculus.com/en-us/
[8] https://www.google.com/get/cardboard/
[9] “My 90 year old grandmother tries the Oculus Rift”
[10] “Disunion Guillotine Simulator (Oculus Rift).”
[11] Burdea, G.C., & Coiffet, P. (2003). Virtual Reality Technology (Vol 1). Wiley & Sons.
[12] https://www.google.com/design/spec-vr/designing-for-google-cardboard/physiological-
considerations.html
[13] https://developer.oculus.com/documentation/intro-vr/latest/concepts/bp_intro/
[14] LaViola, J.J.Jr. (2000). A Discussion of Cybersickness in Virtual Environments. SIGCHI
Bulletin, 32(1), 47-59.
[15] Baltzley, D.R., Kennedy, R.S., Berbaum, K.S., et al., (1989). The time course of
postflight simulator sickness symptoms. Aviation, Space, and Environmental Medicine,
60(11), 1043-1048. https://europepmc.org/abstract/med/2818393
[16] Yates, B.J., Miller, A.D., & Lucot, J.B., (1998). Physiological basis and pharmacology of
motion sickness: an update. Brain Research Bulletin, 47(5), 395-406.
[17] https://www.elon.edu/e-web/predictions/expertsurveys/2006survey/virtualreality.xhtml
[18] https://www.themachinetobeanother.org/
————————————————-
Hinweis zur Autorin: Dieser Artikel wurde von Sarah-Christin Freytag verfasst. Sarah schließt gerade ihr Studium Human Factors an der TU Berlin ab und befasst sich zur Zeit schwerpunktmässig mit VR. Interessante Fundstücke, Infos zum Studiengang und Konzepte rund um Mensch-Maschine Interaktion bloggt sie unter https://humanfactorish.wordpress.com/
Kommentare (27)