Nachdem alle eingecheckt sind, machen wir uns sofort auf den Weg zum ersten Ziel, eine Art Mahnmal für die Opfer der umliegenden Gemeinden. Mittelpunkt ist eine Metallskulptur, die einen Engel mit einer Posaune darstellt. Hintergrund ist folgender: in der Apokalypse des Johannes erscheinen mehrere Engel, die jeweils eine Posaune blasen, woraufhin diverse Katastrophen passieren, die das nahende Ende verkünden:
“Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen.
Der Name des Sterns ist «Wermut». Ein Drittel des Wassers wurde bitter und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.”
Chornobyl, der ukrainische Name von Tschernobyl, bedeutet ‘Wermut’. Und weil durch das Unglück unter anderem auch die Flüsse und Seen der Umgebung verseucht wurden, ziehen die gläubigen Ukrainer eben diese Parallele.
Die Statue steht auf einer stilisierten Karte der Zone, dazu gibt es eine Reihe von Schildern mit Namen von bei der Katastrophe umgekommen Bewohnern, die im Stil von Ortsschildern gestaltet sind: auf der Rückseite ist der Name rot durchgestrichen.
Es folgt eine Kirche, die einzig erhaltene in der Stadt, die von den Bewohnern in Schuss gehalten wird, ein Rundgang um ein ehemaliges Hafengebiet und zuletzt besuchen wir eine Feuerwehrstation. Auf dem Hof sind einige obskure Roboter ausgestellt, mit denen direkt nach dem Unglück versucht wurde, den radioaktiven Schutt zu räumen. Es stellte sich recht schnell heraus, dass sämtliche Geräte wegen der Strahlung versagten, weswegen man dann Menschen einsetzte, die Liquidatoren, die auch zynisch ‘Biorobots’ genannt werden.
Nach dem (guten) Mittagessen im Hotel fahren wir etwas weiter in die Zone, befinden uns aber immer noch ausserhalb des 10km-Bereichs. Wir sehen den ersten von unzähligen Lost Places (eigentlich ist die ganze Zone ein einziger riesiger Lost Place), einen Kindergarten. Hier befindet sich auch einer der unzähligen Hotspots. Was ich nicht wusste ist, dass diese räumlich so begrenzt sind, dass man 30cm davon entfernt mit dem Geigerzähler eine Strahlung misst, die sich von der gewöhnlichen Hintergrundstrahlung kaum unterscheidet, diese sich dann aber innerhalb kürzester Distanz auf das mehrere Tausendfache erhöht. Ungefährlich wenn man sich ihr nur kurze Zeit aussetzt, aber trotzdem gruselig.
Weiter gehts zu zwei Seen, die den Blöcken 1 bis 4 des Kraftwerks als Kühlwasser-Reservoir dienten. Diese befinden sich innerhalb der 10km-Zone, wir müssen also durch einen weiteren Checkpoint, wo Fotografieren strengstens verboten ist. Bei den Seen befindet sich eine Fischfarm. Nach dem Unglück wurde diese zu Studienzwecken weiter genutzt, man wollte nämlich erforschen, inwieweit sich der Verzehr der strahlenbelasteten Fische auf den Organismus auswirkt. Dazu wurde zusätzlich noch eine weitere Farm angelegt, auf der Versuchstiere lebten, denen die verstrahlten Fische verfüttert wurden.
Nach einer Begegnung mit vier lustigen Hundewelpen (Dominik drückt mir ein feuchtes Tuch in die Hand und bittet mich, meine Hände sorgfältig zu säubern, nachdem ich die Hunde gestreichelt habe) besichtigen wir einen nicht fertiggestellten Kühlturm, er war für die ursprünglich geplanten Blöcke 5 und 6 vorgesehen, danach fahren wir zum ersten Mal an dem Kraftwerkskomplex und dem fast fertiggestellten neuen Sarkophag vorbei. Morgen werden wir das alles noch aus geringerer Entfernung sehen.
Schließlich fahren wir in die Stadt Prypiat, hier lebte der größte Teil der Arbeiter des Kraftwerkes mit ihren Familien. Die Stadt hatte zum Zeitpunkt des Unfalls knapp 50.000 Einwohner, heute sind es genau 0. Direkt am Ortseingang befindet sich ein Gebiet, das als ‘Red Forest’ bekannt ist. Dort stand zum Zeitpunkt der Katastrophe ein Wald, der, direkt in der Windrichtung gelegen, die volle Dosis der radioaktiven Wolke abbekam. Innerhalb kürzester Zeit starben sämtliche Bäume ab und die Überreste nahmen eine rötliche Färbung an. Heute stehen dort neu gewachsene Bäume und obwohl alles sehr gesund und harmlos aussieht, darf man das Gebiet nicht betreten und die Geigerzähler spielen verrückt, wenn man zu nahe rangeht.
Auch wenn in der Stadt natürlich alles von Wert im Laufe der Jahre aus den Überresten geplündert wurde, gibt es noch genügend Eindrucksvolles zu sehen, wir halten uns dort etwa 2,5 Stunden auf und sehen unter anderem: die Post, das Haus der Kulturen, das Sportstadion, den Freizeitpark mit dem berühmten Riesenrad, einen Kindergarten, eine Schule, ein Café, usw. usw.
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