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“Verdammt, ich bin zu alt für diesen Scheiß”, murmelte er und hob entschuldigend die linke Hand, um den Fahrer des uralten Tesla-Taxis zu besänftigen, das ihn und seinen Actros gerade durchaus zu recht zornig angehupt hatte. Der Stadtverkehr von Athen war keine Freude, schon gar nicht in einer ausgewachsenen Sattelzugmaschine. Dann mußte er aber doch grinsen, denn die Zeile erkannte er wieder als einen der Standardsprüche aus “Lethal Weapon“, und diese Filme waren damals, als sie sich kennenlernten, im Videorecorder rauf und runter gelaufen. Warum, hatte keiner im Wohnheim so genau gewußt. War halt so. Vielleicht, weil die Lieutenants im Film genauso hießen wie die beiden Studenten vor dem Bildschirm: Martin und Roger. Und jetzt murmelte er auch noch Roger Murtaughs Standardspruch. Dabei war der lange nicht so alt gewesen wie er jetzt.
Nein, eigentlich war er auch noch nicht zu alt für diesen Scheiß. Nicht mal 70. Und so, wie das deutsche Rentensystem aussah oder das, was davon übrig war, würde er auch noch ein paar Jahre auf dem Bock sitzen müssen. War ja auch nicht schlimm, im Gegenteil, internationaler Fernverkehr war immer noch spannend nach all den Jahrzehnten, und jetzt, wo Cathy unter der Erde war und zuhause keiner wartete, warum sollte er da nicht seine Zeit unterwegs verbringen, solange er noch konnte? Zuhause fiel ihm eh nur die Decke auf dem Kopf. Andere Leute machen das im Wohnmobil, zugegeben, aber so viel weniger komfortabel war der Actros nicht. Nur innen kleiner und außen größer halt. “Tuuuut!” Ja doch, ich fahr ja schon. Aber dafür bekam er seine Reiselust bezahlt, also bitte. Sogar den freien Tag in Athen hatten sie ihm zugestanden, als er sagte, er wolle zur Beerdigung eines Freundes.
“Sag mal,” hatte der ihn in einer dieser bierhaltigen Nächte im Gemeinschaftsraum gefragt, lange nachdem der Abspann geendet hatte, “was willst du eigentlich noch erleben im Leben?” Och, naja, hatte er gesagt, was alle wollen, Frau, Kinder … “Nee nee,” meinte der Freund, “ich meine die großen Sachen. Was würdest du gerne erleben, daß es die Menschheit schafft?” (Grammatik und Bier waren keine Freunde.) Weltfrieden, hatte er spontan geantwortet, und du? “Weltfrieden? Na viel Glück. Ich will erleben, wie wir andere Planeten kolonisieren.” Dazu müßten die doch erstmal bewohnbar sein? “Ich meine ja nicht Mars oder so nen Scheiß, ich meine zu anderen Sternen fliegen. Generationenschiffe und so.” Na gut, auf die Generationenschiffe! “Auf den Weltfrieden!” Und er dachte bei sich, na mal sehen, wer hier der größere Optimist ist.
Ah, da war er ja, der Friedhofsparkplatz. Fast noch pünktlich. Sogar ein Platz für die Zugmaschine war noch frei, also vier normale. Gut, daß wenigstens der Auflieger sicher bei der Spedition stehenbleiben konnte, mit dem kompletten Sattelzug wäre er nie rechtzeitig hier gewesen. Fix den “Brummi” (niemand sagte mehr Brummi, aber er nannte seinen Actros insgeheim trotzdem so) abgestellt und hin zur Information, rauskriegen, wo die Urnengrabstätte lag, wo Martins Asche unter die Erde sollte.
Ihre Lebenswege hatten sich dann sehr bald getrennt. Martin hatte das Studium beendet und war “beim Daimler” in der Konstruktion gelandet, während er selber mit geschmissenem Studium und vom Arbeitsamt finanzierter Ausbildung bei einer großen Spedition untergekommen war, hinter dem Lenkrad genau jener Sorte Daimler, an denen der Freund mitkonstruierte. Womit sie dann auch immer ein Gesprächsthema hatten zum Einstieg, wenn sie sich mal sahen. Nicht oft, alle paar Jahre mal meistens, je nachdem wie es grad so paßte.
Seit Martins Pensionierung, er war dann ja bald nach Griechenland gezogen, “die Rente reicht hier einfach weiter, und das Wetter”, klar, das Wetter, hatten sie sich gar nicht mehr gesehen. Außer an Bildschirmen natürlich. Und nun stand er hier am Urnengrab, einziger Besucher aus der deutschen Heimat, und beobachtete, wie die Urne in ihr Erdloch sank. Und vermutlich wußte niemand von den acht Personen am Grab, daß die Urne in Wahrheit leer war. Und wo die Asche wirklich war.
Der Job war natürlich an ihm hängengeblieben. An wem auch sonst, Kinder hatte Martin nie gehabt, und seine Exfrauen? Pfft. Als ob die einen Finger rühren würden. Waren ja nicht mal hier, das sagte ja eigentlich alles. Nein, die ganzen Behördengänge, E-Mails und lustigerweise auch immer noch Einschreibebriefe, die Übersetzungs- und Beglaubigungskosten für die Vollmachten, das war alles Teil des letzten Freundschaftsdienstes. Er warf einen Blick auf seine Smartwatch. Gleich würde es soweit sein. Er hob den Blick, richtete ihn nach Osten. Wartete.
Natürlich konnte er den Start nicht sehen. Wostotschny war fast auf der anderen Seite der Erde. Aber hinsehen mußte er trotzdem, nur gelegentlich auf der Smartwatch überprüfend, ob der Countdown noch lief. Jetzt war es soweit. Jetzt flog Martins Asche in den Weltraum. Dort wartete die WSS New Horizons … nein, nicht auf Martins Asche, aber auf einen der letzten Versorgungsflüge von der Erde, bevor sie sich auf den Weg machen würde zu Gliese 581d, dem derzeit besten Kandidaten für eine Erde 2.0. Mitfliegen, also als Mensch und nicht als Asche, war natürlich nie in Frage gekommen, nicht in seinem Alter — aber immerhin hatte Martin es noch erleben dürfen, wie dieser wahrscheinlich habitable Planet entdeckt wurde, angezweifelt und wieder entdeckt, wie man immer mehr über ihn herausgefunden hatte und alles davon gut klang, und wie man letztlich die New Horizons entwickelt und im Orbit gebaut hatte. Und sein Erbe hatte sogar für das Ticket gereicht, das seine Asche natürlich brauchte für den Platz im Laderaum. Zusammen mit ein paar tausend anderen “Urnen”, eigentlich nur dünnen Plastiksäckchen, deren Inhalt dann in ein paar hundert Jahren auf einer fremden Welt verstreut werden würde.
Roger wurde bewußt, daß er seit Minuten allein auf einem Athener Friedhof stand und mit tränenden Augen in den östlichen Himmel starrte. Nun gut, dachte er, auf einem Friedhof hat man ja weitgehende Narrenfreiheit, und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Aber es wurde trotzdem Zeit zu gehen. Auf dem Parkplatz wehte der Wind ihm die Titelseite der Ελεύθερος Τύπος vor die Füße, einer der wenigen Zeitungen, die hier noch auf Papier gedruckt erschienen. Er konnte kaum Griechisch, nur was man so an der Laderampe braucht, aber das Bild von Panzern vor brennenden Gebäuden und das Wort “Βειρυτ” konnte er auch im fremden Alphabet erkennen. Machs gut, alter Freund, dachte er sich. Warst wohl doch du der kleinere Optimist von uns beiden.
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Hinweis zum Autor: Der Artikel wurde von “Erik” geschrieben.
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