Machen wir ein Experiment!
Diese Idee geht mir im Kopf herum, seit ich in dem sehr empfehlenswerten Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman im Kapitel über Framing-Effekte gelesen habe, wie unterschiedlich die Zustimmung zur Organspende in Deutschland (12%) und in Österreich (99.98%) ist. Die Überlegung führte mich bis hin zur Frage, in wie weit die Entscheidung zur Organspende von mir selbst stammt, wie weit die Entscheidung durch äußere Einflüsse manipuliert ist und was das über unseren freien Willen aussagt.
(So endlich die versprochene Kurve zur Organspende geschafft!)
Ausgangspunkt
Woher kommt es nun, dass die Zustimmung zur Organspende in Deutschland und Österreich so unterschiedlich sind? Sind Österreicher mehr um das Wohlergehen ihrer Mitbürger bemüht? Oder spielen Eigenheiten der deutschen Geschichte eine Rolle? Misstrauen gegenüber der Schulmedizin oder dem Staat, wie er in alternativmedizinischen bzw. verschwörungsaffinen Kreisen zu finden ist? Die jüngeren Skandale (2013) um Manipulation im Rahmen von Organspenden an einigen deutschen Kliniken jedenfalls sind nicht der Grund, da die oben zitierten Zahlen von 2003 stammen.
Einen Hinweis auf eine mögliche Ursache des gravierenden Unterschieds zwischen der deutschen und österreichischen Bevölkerung ergibt sich, wenn man sich noch die Daten aus weiteren europäischen Ländern ansieht. Wie Sie in der Abbildung 1 unten sehen, ist in Europa die Zustimmung zur Organspende in den 11 dort betrachten Ländern deutlich unterschiedlich – ja geradezu gegensätzlich. Obwohl wir, wie oft betont wird, in einer europäischen Wertegemeinschaft leben, gehen bei dieser Frage die Ansichten je nach Land weit auseinander. Die Wertegemeinschaft zerfällt in zwei Gruppen mit den Ländern Dänemark, Niederlande, Großbritannien und Deutschland auf der Einen und Österreich, Belgien, Frankreich, Ungarn, Polen, Portugal und Schweden auf der anderen Seite ohne Länder, die bei dieser Frage dazwischen liegen.
Ein Unterschied zwischen den Ländern ist durch die Farben der Säulen für die einzelnen Länder markiert. In den Ländern mit den goldenen Balken wird ein „opt-in“-Modell praktiziert, d. h. man muss sich aktiv zur Organspende bereiterklären (bei uns durch Ausfüllen eines Organspendeausweises) während in den blau markierten Ländern ein „opt-out“-Modell gilt, also man muss etwas aktiv tun, um nicht automatisch im Falle des eigenen Todes als Organspender zu gelten.
(Noch eine Anmerkung zu den Zahlen: Inzwischen (Stand 2014) ist die Zahl der Bürger mit Organspendeausweis in Deutschland auf erfreuliche 35% gestiegen, von denen 86% der Organentnahme zugestimmt haben.)
Annahmen
Auch wenn eine Korrelation alleine nicht ausreichend ist, um einen ursächlichen Zusammenhang, also eine Kausalität, nachzuweisen (unter Korrelation und Kausalität
habe ich selber schon mal Gedanken gemacht), so ist es doch ein plausibler Ausgangspunkt. Gestützt wird die Annahme durch Experimente, die zeigen, dass (durchaus die Moral bzw. Ethik betreffende) Fragen unterschiedlich beantwortet werden, je nachdem wie die Frage im Einzelfall gestellt wurden (siehe z. B: hier).
Folgerungen
Wenn ich aber davon ausgehe, dass sich die Bevölkerungen der Länder in dem Beispiel nicht grundsätzlich unterschieden, dann muss ich davon ausgehen, dass der Unterschied zwischen 12% und quasi 100% Organspendern in Deutschland bzw. Österreich nur auf die Art der Fragestellung zurückgehen.
Das heißt dann aber auch, dass die 88% der Bevölkerung,
die sich in Deutschland gegen und in Österreich für die Organspende entschieden haben, das nicht aus eigenem moralischen Empfinden
– also aus ihrem „freien Willen“ –
heraus getan haben, sondern aufgrund dessen, dass sie für eine andere Entscheidung etwas aktiv hätten unternehmen müssen.
Selbst bei einer so essentiellen Frage mit potenziell lebensrettenden Auswirkungen sind es nur wenige, die sich die fünf Minuten Zeit nehmen, einen Zettel zu schreiben und ihn in ihren Geldbeutel zu legen.
Mein Schluss (und dabei bitte die Einschränkung zu den verschiedenen Definitionen des freien Willen beachten) ist, dass obwohl jeder das Gefühl hat, sich zu allen unwesentlichen und wesentlichen Dingen des Lebens frei zu entscheiden, diese Entscheidungen sehr stark von äußeren und nebensächlichen Umständen abhängen und damit tatsächlich unfrei sind in dem Sinne, dass sie eben nicht eine Konstante für die jeweilige Person sind.
Für einen skeptischen Beobachter sollte diese Argumentation den besonderen Charme haben, dass sich hier ein Weg auftut, die Frage nach dem freien Willen auf eine empirische Grundlage zu stellen – also eine Grundlage, die unabhängige Prüfung und die Möglichkeit zur Widerlegung einschließt.
Am Ende möchte ich Ihnen noch zwei Dinge mitgeben. Das Eine ist ein Zitat, auf das ich bei meiner Recherche zu diesem Beitrag gestoßen bin – sozusagen von allerhöchster Quelle:
“Als Organspender bin ich selbst am Ende meines Lebens noch reich. Ich kann einem anderen das Leben schenken.”
Franz Beckenbauer
und falls Sie sich nach diesem Beitrag beschlossen haben, Ihren freien Willen auszuüben und sich gegen die Standardoption in Deutschland entscheiden, hier ein Ausweis zum Ausdrucken
:
Und noch etwas: Egal, ob Sie sich für oder gegen eine Organspende entscheiden, so sollten Sie diese Entscheidung dokumentieren – Sie ersparen es damit Ihren Angehörigen, diese Entscheidung für Sie treffen zu müssen. Wenn Ihnen was passiert ist, dann haben die es auch so schon schwer genug.
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Hinweis zum Autor: Dieser Artikel wurde von “phank” geschrieben: “Selber habe ich Physik studiert (meine Doktorarbeit ging über Neutronenresonanzspinechospektroskopie, aber das wollte ich dann doch hier niemandem zumuten) und da tut es mir in der Seele weh, wie viel pseudowissenschaftlicher Blödsinn allgemein verbreitet und dann auch noch geglaubt wird. Immer wieder mal in Vorträgen oder Internetartikeln versuche ich dagegen anzugehen, in dem ich zeige, warum wir unserem gesunden Menschenverstand manchmal nicht trauen dürfen, wie uns das wissenschaftliche Vorgehen dann helfen kann und woran man pseudowissenschaftlichen Unsinn erkennt.”
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