Das wusste Grosseteste natürlich noch nicht. Aber es war schon eine nicht unerhebliche intellektuelle Leistung, überhaupt diese Frage stellen zu können. Wieso ist Materie ausgedehnt, stabil und fest wo sie doch nur aus punktförmigen Atomen besteht? Für Grosseteste lag die Antwort im Licht. Licht erfüllt seiner Vorstellung nach den gesamten Raum und dieses Licht erzeugt im Zusammenspiel mit den Atomen das, was wir als Materie erfahren.
“Licht” ist für Grosseteste aber viel mehr als das, was wir heute darunter verstehen und viel mehr als das, was man auch damals schon im Alltag darunter versteht. Grossteste unterscheidet verschiedene Arten von Licht und nutzt sie, um nicht weniger als die Entstehung und den Aufbau des kompletten Universums zu erklären. Natürlich ist das Universum das er erklären wollte eines das von der damaligen Zeit geprägt war. Nach dem von der Antike und der Kirche geprägten Weltbild stand für Grosseteste die Erde im Zentrum des Kosmos. Um sie herum erstreckten sich ineinander geschachtelte Kristallsphären, an denen Sonne, Mond, die Planeten und die Sterne quasi montiert waren und sich daran um die Erde drehten.
Die Sache mit den Kristallsphären war damals gängige Lehrmeinung – aber vor Grosseteste hatte sich noch niemand Gedanken gemacht, wie so ein Universum entstehen könnte. Und hier zeigt sich nun seine gedankliche Originalität am besten. Er ging von einem Anfang aus, in dem eine spezielle Form von ursprünglichen Licht, das er “lux” nannte, von einem Punkt aus in alle Richtungen explodierte. Das Licht hat das Universum und die in ihm enthaltene Materie immer weiter aufgebläht und immer weiter vergrößert. Grosseteste erkannte, dass die Materie dann aber auch immer dünner verteilt sein muss.
Hier kommt nun ein zweiter wichtiger Faktor im Weltbild der Antike bzw. des Mittelalters ins Spiel: Es durfte kein Vakuum geben. Die Vorstellung eines komplett leeren Raums erschien absurd. Das Licht konnte die Materie des Universums bei seiner Ausdehnung also nicht beliebig weit verdünnen, da sonst irgendwann ein Vakuum entstehen würde. Es konnte sich nur bis zu einer gewissen Grenze ausdehnen und wenn diese minimal mögliche Verdünnung der Materie erreicht ist, dann nimmt sie laut Grosseteste einen kristallinen Zustand ein. Aus dem lux entsteht also eine Kristallschale, die die äußerste Grenze des Kosmos darstellt. Dort, im Zustand der minimal möglichen Dichte ist die Materie perfekt und diese perfekte Kristallsphäre strahlt nun ihrerseits wieder Licht aus und zwar zurück zu ihrem Ursprung ins Zentrum des Universums. Dieses Licht nenn Grosseteste “lumen” und während das lumen zurück in die Mitte des Kosmos strahlt, schiebt es die restliche, noch nicht kristallierte Materie vor sich her. Hinter dem lumen wird die Materie verdünnt, davor wird sie verdichtet. Dabei entstehen weitere Kristallschalen und Grosseteste gab sogar mathematische Regeln an, die diesen Prozess beschreiben. Je näher die Materie ans Zentrum geschoben wird, desto dichter wird sie und gleichzeitig schwächt sich das lumen immer weiter ab. Es reicht nicht mehr aus, um die Materie im Mittelpunkt des Kosmos ebenfalls kristallieren zu lassen so dass sich dort eine Kugel aus nicht perfekter Materie bildet: Unsere Erde, die deswegen nicht so vollkommen ist wie die himmlischen Körper auf ihren Kristallsphären.
Man ist fast versucht, Grossetestes Weltbild mit modernen wissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben. Die Auswirkungen des lumen auf die Materie ähneln Stoßwellen in interstellaren Gaswolken und das lumen selbst dem Strahlungsdruck des Lichts von Sternen. Die mathematischen Regeln der Sphärenbildung könnten Quantifizierungsvorschriften der Atomphysik sein und die Kristallisation wirkt wie ein Phasenübergang. Und bei der Explosion des lux selbst mit der folgenden Expansion des Kosmos kann man kaum anders als an den modernen Begriff des Urknalls zu denken!
Aber natürlich wäre es völlig falsch unsere moderne Wissenschaft auf Grossetests mittelalterliches Weltbild anzuwenden. Die Erde ist nicht das Zentrum des Universums; es gibt keine Kristallsphären und anstatt von Licht ist der Kosmos vom Vakuum erfüllt. Genau so wenig wäre es aber angebracht, die Kosmologie von Grosseteste als theologische Spinnerei abzutun. In “De Luce” hat Grosseteste etwas sehr außergewöhnliches getan: Er hat die Beobachtungen und Regeln, die er für das Verhalten von Licht im kleinen Maßstab abgeleitet hat dazu benutzt, um eine Theorie zu entwerfen, mit der sich das gesamte Universum beschreiben lässt!
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