“US-Forscher entdecken neuen Zwergplaneten” schreibt Spiegel Online heute. Und auch überall sonst berichten die Medien über die Entdeckung des Himmelskörpers mit dem Namen “V774104”. Das “am weitesten entfernte Objekt im Sonnensystem” soll es sein; ein neuer “Zwergplanet” und noch dazu Hinweise auf die Existenz eines unbekannten Planeten liefern…

Nun ja. Wenn ich in meinem Blog über Wissenschaftsschlagzeigen in anderen Medien berichte, dann meistens deswegen, weil ich etwas zu meckern habe 😉 Und auch diesmal komme ich nicht umhin, ein paar Dinge klarstellen zu wollen.

Fangen wir mit den Grundlagen an. “V774104” ist ein Himmelskörper, dessen Existenz vor wenigen Tagen von den Astronomen Chad Trujillo und Scott Sheppard bekannt gegeben worden ist. Er befindet sich derzeit im äußeren Sonnensystem; weit hinter der Bahn des Neptun. Zur Zeit ist er ungefähr 100 Mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde. Und das ist auch schon wieder (fast) alles, was man mit Sicherheit über das Objekt sagen kann.

Das fängt schon bei der Größe an. Der Himmelskörper muss vergleichsweise groß sein, sonst hätte man ihn in dieser großen Entfernung nicht entdecken können. Aber wie groß genau er ist, weiß man nicht. Sein Durchmesser wird irgendwo zwischen 500 und 1000 Kilometer liegen. Damit ist er circa halb so groß wie Pluto; und in etwa so groß wie der ebenfalls sehr weit entfernte Asteroid Sedna.

Ist es das “am weitesten entfernte Objekt” des Sonnensystems; zumindest von denen, die man kennt? Wenn man es ganz genau nimmt, dann nicht. Denn die Voyager-Sonden sind schon ein Stück weiter draußen. Aber es soll hier ja um natürliche Objekte geben und da kennt man derzeit tatsächlich keinen Himmelskörper, der weiter von der Sonne entfernt ist.

Künstlerische Darstellung: Die Sonne, gesehen von der weit entfernten Oberfläche Sednas

Künstlerische Darstellung: Die Sonne, gesehen von der weit entfernten Oberfläche Sednas

Zumindest jetzt gerade. Der vorhin schon angesprochene Asteroid Sedna ist momentan knapp 86 mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde. Aber er hat eine sehr langgestreckte Bahn und wenn er dort seinen sonnenfernsten Punkt erreicht, wird er 976 mal weiter von der Sonne entfernt sein als die Erde!
Und der Zwergplanet Eris; immerhin genau so groß wie Pluto, ist derzeit mit der 96fachen Erdentfernung ebenfalls ziemlich weit draußen. Der Asteroid 2012 VP113 entfernt sich bis auf das etwa 450fache der Erddistanz. Wir kennen also einige Himmelskörper (und noch mehr als die genannten), die sich annähernd so weit entfernt von der Sonne befinden bzw. sich weiter von ihr entfernen als V774104.

Vielleicht ist dieser Himmelskörper ja aber auch gerade am sonnennächsten Punkt seiner Bahn und wird sich in Zukunft ebenfalls noch sehr viel weiter entfernen? Kann gut sein. Weiß man aber nicht. Das erkennt man übrigens schon am Namen. “V774104” ist keine offizielle Bezeichnung eines Kleinkörpers im Sonnensystem. Die besteht ja immer aus der Jahreszahl des Entdeckungsjahrs und einer Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die den Entdeckungszeitpunkt genauer angeben. So eine Bezeichnung wird aber erst dann vergeben, wenn man genug Daten gesammelt hat, um eine halbwegs brauchbare Bahn zu bestimmen. Das ist hier aber noch nicht der Fall. Je weiter entfernt ein Himmelskörper ist, desto langsamer bewegt er sich um die Sonne. Und desto länger muss man ihn beobachten, wenn man genug Daten zur Bahnbestimmung sammeln will. Hier wollten Sheppard und Trujilo aber offensichtlich mit der Bekanntgabe ihres Fundes nicht so lange warten. Darum weiß man nun zwar, dass es das Ding gibt, aber nicht, auf welcher Bahn es sich befindet. Die Bahn kann kreisförmig sein: Dann wird der Himmelskörper immer mehr oder weniger 100 Mal weiter von der Sonne als die Erde sein. Sie kann aber auch langgestreckter sein: Dann ist es auch möglich, dass er sich weiter entfernt.

Klar ist also zur Zeit nur, dass V774104 momentan das am weitesten entfernte von den bekannten natürlichen Objekten im Sonnensystem ist. Ob das auch in Zukunft stimmt, weiß man nicht.

Was aber definitiv nicht stimmt, ist die Bezeichnung des Objekts als “Zwergplanet”. Es ist durchaus möglich, dass V774104 sich für diese Gruppe von Himmelskörpern qualifiziert. Ich halte diese Kategorie 2006 eingeführte Kategorie zwar für komplett unnötig, aber sie existiert nun mal und der neue Asteroid könnte da durchaus reinpassen. Genau so wie auch Sedna, 2012 VP113, und ein paar Dutzend anderer großer Asteroiden die wir schon lange kennen. Aber da es sich um eine offizielle Kategorie handelt, muss ein Zwergplanet eben auch offiziell “ernannt” werden; und zwar von der Internationalen Astronomischen Union (IAU). Wie alle großen Behörden dauern die Dinge da immer sehr lange. Und seit die ersten fünf Zwergplaneten ihre Klassifizierung erhalten haben, ist nichts mehr dazu gekommen. Und das wird auch noch länger so bleiben. Vor allem V774104 wird so schnell nicht dazu stoßen. Dazu muss man erstmal seine Bahn genau kennen. Und dann können immer noch Jahre vergehen (vielleicht ist die Kategorie dann ja auch schon wieder abgeschafft worden).

Bleibt noch die Sache mit dem Hinweis auf einen “unbekannten Planeten”. Darüber habe ich ja schon anlässlich der Entdeckung von 2012 VP113 geschrieben: Es ist durchaus möglich, dass weit, weit draußen im Sonnensystem noch große Himmelskörper zu finden sind; so groß wie die Planeten im inneren Sonnensystem. Direkt beobachten werden wir die so schnell nicht können. Sie sind zu weit entfernt um gesehen zu werden und bleiben das auch (sonst hätten wir sie ja schon gesehen). Aber wenn es sie gibt, könnten sie die Bahnen von Asteroiden in dieser Gegend beeinflussen und das auf eine Weise, die wir erkennen könnten, wenn wir genug davon entdeckt haben. Wir haben aber noch nicht genug entdeckt und die wenigen die wir kennen, könnten Spuren so einer Beeinflussung zeigen. Oder auch nicht; vielleicht ist es auch nur eine statistische Schwankung. V774104 könnte neue Daten liefern. Aber auch nur dann, wenn wir seine Bahn genau kennen. Und selbst dann hat man auch nur einen Datenpunkt mehr als vorher. Für eine brauchbare Aussage über die Existenz solcher weit entfernten Planeten sollten wir am besten ein paar hundert dieser fernen Asteroiden kennen. Tun wir aber nicht und das wird noch länger so bleiben.

Die Entdeckung von V774104 ist eine schöne Sache. Es ist ein wichtiger Fund, der das Potential hat, uns einiges über die noch unbekannten äußeren Regionen des Sonnensystems zu verraten. Aber wenn man es genau nimmt, dann wissen wir derzeit noch nicht viel über diesen Himmelskörper. Wir wissen da er da ist. Der Rest wird hoffentlich noch folgen…

Kommentare (10)

  1. #1 Wurgl
    12. November 2015

    Die engl. Wikipedia hat schon seit gestern etwas zu V774104. Dort steht: „There are 589 known objects that have aphelion more than 103 AU from the Sun.“

    Man hat also doch schon eine Menge an Objekten, die zumindest zeitweise soweit draußen sind.

  2. #2 hugo
    12. November 2015

    Vielleicht ist das eine dumme Frage, aber: Wenn man die Bahn noch nicht kennt, woher weiß man dann die Entfernung? Macht man da eine Parallaxenmessung so wie bei nahen Sternen?

  3. #3 phunc
    12. November 2015

    Wenn man da draußen nichts sehen kann, wie hat man dann V774104 finden können? Also wie kann man konkret sagen es handelt sich um ein Objekt, anstatt einer Ansammlung mehrerer, kleiner Objekte? Zudem gibts ja noch viel, viel mehr solcher Objekte da draußen – warum hat man also grade diesen Brocken jetzt entdeckt? Stand er besonders günstig?

  4. #4 Michi
    13. November 2015

    “Und seit die ersten fünf Zwergplaneten im Jahr 2006 ihre Klassifizierung erhalten haben, ist nichts mehr dazu gekommen”

    Das ist so nicht ganz korrekt. 2006 wurden nur Pluto, Ceres und Eris als Zwergplaneten klassifiziert. Makemake und Haumea wurde erst 2008 in diese Kategorie aufgenommen.

  5. #5 derMaurer
    D
    13. November 2015

    Herausragender Beitrag. Danke Herr Freistetter.

  6. #6 Artur57
    13. November 2015

    @phunc

    Ich schätze mal, dass die meisten Entdeckungen heute eher Zufallsfunde bei Satellitenbeobachtungen sind. Kepler&Co fixieren lichtschwache Objekte und müssen deshalb über einen langen Zeitraum auf denselben Punkt fokussieren. Dabei passierte es, dass Objekte aus dem Planetensystem ins Bild fliegen, wie neulich Neptun nebst Monden.

    @hugo

    Wenn das so ist, wie eben beschrieben, kann man anhand der Winkelgeschwindigkeit ungefähr den Abstand schätzen. Aber mit großen Unsicherheiten.

  7. #7 Alderamin
    13. November 2015

    @Artur57, phunc

    Das Objekt wurde im Rahmen einer systematischen Suche nach solchen Körpern mit dem 8 m-Subaru-Teleskop auf Hawaii gefunden.

    Sheppard made his discovery with colleagues using Japan’s 8-meter Subaru Telescope in Hawaii. Unlike many searches for distant objects, which peer into the solar system’s plane, Sheppard is training Subaru on swaths of the sky an average of 15° away from the ecliptic, the better to find other weird objects.

    @hugo

    Wenn man die Bahn noch nicht kennt, woher weiß man dann die Entfernung? Macht man da eine Parallaxenmessung so wie bei nahen Sternen?

    Genau, man hat eine Parallaxe aufgrund der (viel schnelleren) Bewegung der Erde gemessen:

    From how it shifted in the sky as the Earth moved over a few hours, Sheppard’s team calculates that V774104 is about 103 astronomical units (AU) away from the sun, where one AU is the distance from Earth to the sun.

    Aufgrund der Helligkeit schloss man dann auf die ungefähre Größe. Das ist mit einem ziemlich großen Fehler behaftet, da man die Reflektivität (Albedo) des Objekts nicht genau kennt.

    Man wird das Objekt demnächst noch ein paar Mal beobachten, um eine erste Abschätzung der Bahn zu gewinnen.

  8. #8 AmbiValent
    23. November 2015

    Laut Sky&Telescope hat Sheppards Gruppe noch weitere Objekte in einer Entfernung von 80-90 AU gefunden, deren Orbits jetzt ebenfalls verfolgt werden.

  9. […] der Entdeckung eines großen Asteroiden der derzeit weiter von der Sonne entfernt ist als alle anderen bekannten Himmelskörper des […]

  10. #10 AmbiValent
    28. November 2015

    Eine Gruppe ungarischer Astronomen hat im Rahmen des K2-Programms Beobachtungsdaten über etliche Objekte ausgewertet. Einer dieser Körper war 2007 OR10, der demnach als größer geschätzt wird als Haumea und Makemake.

    https://lcogt.net/files/K2SciCon/Robert_Szabo-Szabo_TNOs_web.pdf

    (2007 OR10 ist momentan nach V774104 und Eris der am drittweitesten von der Sonne entfernte (beobachtbare) Körper)