Die angebliche Entdeckung eines neuen Planeten im äußeren Sonnensystem hat in den letzten Tagen für viel Aufsehen gesorgt. Dabei sind die Menschen schon seit mehr als 200 Jahren damit beschäftigt, neue Planeten im äußeren Sonnensystem zu vermuten, zu suchen und auch zu finden. In einer kurzen vierteiligen Artikel-Serie möchte ich diese lange Geschichte ein wenig ausführlicher darstellen um am Ende die aktuellen Ergebnisse vernünftig darstellen und einordnen zu können.
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Wie ist das jetzt also mit diesem “Planet X”? Gibt es das Ding oder nicht? Und was ist mit dem “Planet 9”, der ja angeblich schon so gut wie entdeckt ist, wie Medienberichte der letzten Woche nahe legen? In den letzten drei Teilen dieser Serie habe ich ausführlich über die lange Geschichte der Suche nach unbekannten Planeten im Sonnensystem berichtet. Über die Anfänge im 18. und 19. Jahrhundert und die konkreten Erfolge der damaligen Astronomen; über die Verwirrungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts, nach denen das Sonnensystem mit weniger Planeten als vorher da stand und über die vielversprechenden Hinweise die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gefunden wurde und die Suche nach einem unbekannten Planeten doch wieder hoffnungsvoll erscheinen ließen.
Und jetzt auf einmal der “Planet 9”. Am 20. Januar 2016 verkündeten die Astronomen Mike Brown und Konstantin Batygin, dass im äußeren Sonnensystem ein weiterer, großer Planet existieren müsse. Ihre Analyse der Umlaufbahnen von einigen Asteroiden (“Evidence for a distant giant planet in the solar system”) lasse das sehr wahrscheinlich erscheinen. Im Gegensatz zu all den wissenschaftlichen Arbeiten über unbekannte Planeten im äußeren Sonnensystem der letzten Jahre über die ich in den vorigen Teilen dieser Serie berichtet habe, hat diese Nachricht medial wirklich große Wellen geschlagen. Grund genug, sich dieser Forschungsarbeit ganz genau zu widmen.
Fangen wir noch einmal mit einer erweiterten Zusammenfassung des Status Quo an. 2014 entdeckten Chad Trujillo und Scott Sheppard einen Asteroid, der sich weiter von der Sonne entfernt befindet als alle damals bekannten. An ihm und 12 weiteren ähnlich fernen Objekten stellten sie seltsame Auffälligkeiten fest: Das Argument des Perihels ihrer Umlaufbahnen lag bei allen in der Nähe von 0 Grad. Das bedeutet, dass diese Asteroiden ihren sonnennächsten Punkt immer dann erreichen, wenn sie die Ebene der Erdbahn kreuzen und das das immer der Fall ist, wenn sie diese Ebene von Süden nach Norden kreuzen.
Das ist deswegen seltsam, weil der Einfluss der anderen großen Planeten des Sonnensystems eigentlich dafür sorgen sollte, dass der Wert des Argument des Perihels sich bei diesen Asteroiden ständig ändert und die Verteilung daher zufällig sein müsste. Wenn bei dieser Gruppe von Asteroiden das nun nicht so ist, muss es einen Grund dafür geben.
Trujillo und Sheppard vermuteten die gravitativen Störungen eines noch unbekannten Planeten, der über den sogenannten “Kozai-Mechanismus” (dabei geht es um “Resonanzen”, die ich hier genauer beschrieben habe) für die Häufung bei 0 Grad sorgt. Ein interessanter Gedanke, aber auch nicht ohne Probleme. Dieser Mechanismus sollte eigentlich für eine Häufung bei 0 und 180 Grad sorgen – was man aber nicht beobachtet. Damit ihre Hypothese trotzdem klappt, mussten die beiden zusätzlich noch voraussetzen, dass die Asteroiden im äußeren Sonnensystem irgendwann vor langer Zeit einmal durch die nahe Begegung mit einem anderen Stern gestört worden waren. Diese Störung hatte sie – vereinfacht gesagt – bei 0 Grad versammelt und die Resonanz mit dem noch unbekannten Planeten sie dann dort gehalten.
Ein vergleichsweise komplizierter Mechanismus und vielleicht noch nicht einmal ausreichend. Eine weitere Analyse anderer Astronomen kam zu dem Schluss, dass man vermutlich nicht einen sondern zwei Planeten benötigt um die Beobachtungen zu erklären. Oder gar keine, wie eine wieder andere Arbeit aus dem Jahr 2015 vorschlug (“A new inclination instability reshapes Keplerian disks into cones: application to the outer Solar System”). Demnach könnten die gravitativen Störungen zwischen all den Asteroiden im Kuipergürtel in einer Art Kettenreaktion dafür gesorgt haben, dass sich die heute beobachteten Anomalien einstellen. Das geht aber nur, wenn die Gesamtmasse der beteiligten Objekte groß genug ist und ob das der Fall ist, ist eher zweifelhaft.
Das ist also die Ausgangslage: Einige Asteroiden im äußeren Sonnensystem verhalten sich seltsam. Diese Seltsamkeiten lassen sich durch die Existenz eines oder mehrerer unbekannter Planeten erklären; unter Umständen in Kombination mit einer nahen Sternbegegnung in der Frühzeit des Sonnensystems oder alternativ auch durch eine spezielle dynamische Phase im Kuipergürtel für die kein zusätzlicher Planet nötig war. Eine relative unklare Angelegenheit also und die Arbeit, die Mike Brown und Konstantin Batygin veröffentlichten, sollte Aufklärung schaffen.
Sie machten sich zuerst daran, die Daten ein wenig zu säubern. Alle Hypothesen hingen immer noch an den 13 Asteroiden mit denen schon Trujillo und Sheppard gearbeitet hatten – Neuentdeckungen sind seitdem nicht dazu gekommen. Alle diese 13 Asteroiden bleiben immer außerhalb der Bahn des Neptuns und haben einen mittleren Abstand zur Sonne der 150 Mal größer ist als der mittlere Abstand der Erde von unserem Stern.
Brown und Batygin bezweifelten allerdings, ob diese Objekte wirklich alle geeignet waren, Informationen über unbekannte Planeten zu liefern. Diejenigen der 13 Asteroiden die der Bahn des Neptun besonders nahe kamen, könnten eventuell doch von ihm gestört werden und das Bild verfälschen. Also führten sie zuerst numerische Simulationen durch um herauszufinden, welche sich definitiv nicht von Neptun beeinflussen lassen. Dabei blieben am Ende nur noch 6 Objekte übrig, mit denen sämtliche weitere Analysen durchgeführt worden sind.
Bei der Betrachtung der Umlaufbahnen dieser Asteroiden fiel Brown und Batygin nun auf, dass das Argument des Perihels nicht mehr um den Wert von 0 Grad herum schwankte. Die 6 Objekte hatten alle Werte, die in der Nähe von 318 Grad lagen. Aber zusätzlich zeigte nun auch die “Länge des aufsteigenden Knotens” eine Häufung bei 113 Grad. Damit wird eine weitere der sechs Zahlen bezeichnet mit denen Astronomen die Bahn eines Himmelskörpers beschreiben.
So wie das Argument des Perihels ist auch das einer der drei Winkel, die die Orientierung der Bahn im Raum angeben. Diese Häufung der beiden Winkel legte nahe, dass die Bahnen nicht nur ähnliche Eigenschaften hatten, sondern tatsächlich in der gleichen Region des Weltraums verlaufen, was auch diese Grafik zeigt:
Man sieht hier den gesamten Himmel in Form einer Art Landkarte dargestellt, mit ekliptischer Länge und Breite, so wie die geografische Länge und Breite Positionen auf der Erde darstellen. Alle bekannten Asteroiden in den äußeren Regionen des Sonnensystems sind dort eingezeichnet; die 6 um die es geht sind rot eingefärbt. Sie liegen alle um rechten Teil des Bildes und sie gruppieren sich alle um die Mitte herum. Das ist überraschend, denn eigentlich sollte es keinen Grund geben, warum das so ist. Brown und Batygin haben ausprobiert, wie wahrscheinlich es ist, so eine Kombination per Zufall zu erhalten und erhielten einen Wert von 0,007 Prozent. Das ist schon ein wenig unwahrscheinlich und ein Hinweis darauf, dass hier irgendwas vor sich geht das man untersuchen sollte. Und auch die bisherigen Erklärungen (Kozai-Mechanismus und Kettenreaktion) reichen nicht aus, um diese Ähnlichkeit der Umlaufbahnen zu erklären.
Als nächstes haben die beiden Astronomen ein mathematisches Modell entwickelt um herauszufinden, wie sich die Störungen eines noch unbekannten Planeten auf die Umlaufbahnen der Asteroiden auswirken. Bei solchen Modellen macht man keine Computersimulationen sondern vereinfacht die entsprechenden mathematischen Gleichungen mit denen man die Bewegung von Himmelskörpern beschreibt um die physikalischen Zusammenhänge besser sehen zu können. Sie gingen dabei von einem Planeten aus der ungefähr 10 mal schwerer und 700 mal weiter von der Sonne entfernt ist als unsere Erde. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass Asteroiden die sich weit genug außen im Sonnensystem befinden von so einem Planeten entsprechend gestört werden können. Die fraglichen Winkel fangen ab einer gewissen Distanz an zu librieren, pendeln also um einen bestimmten Wert herum anstatt wie sonst zu zirkulieren, also im Laufe der Zeit alle Wert zwischen 0 und 360 Grad anzunehmen. Und der Wert um den sie herum librierten entsprach dem, den man beobachtet hatte.
Aber ein mathematisches Modell ist immer nur eine Näherung; die Gleichungen lassen sich nie exakt lösen. Deswegen nutzten Brown und Batygin im nächsten Schritt numerische Simulationen am Computer. Dabei entdeckten sie, dass das mathematische Modell tatsächlich ungenau war: Zusätzlich zu dem einen Wert um den die Winkel der Umlaufbahnen schwanken konnten, fanden sie noch einen zweiten. Die Störungen eines noch unbekannten Planeten können also nicht nur für eine Häufung von Asteroiden sorgen sondern für zwei. Sie sollten es sogar tun und dass man bis jetzt nur eine dieser Gruppen beobachtet hatte, war interessant.
In der nächsten Runde der Simulation sahen Brown und Batygin auch noch nach, ob ein störender Planet auch dann noch ausreichend stören kann, wenn seine Bahn gegenüber der Bahn der Asteroiden geneigt ist. Denn diese Möglichkeit hatte man in der ersten Simulation der Einfachkeit halber vernachlässigt, in der Realität kann das aber durchaus so sein. Auch so ein Planet kann passend stören – aber auch hier wird neben der bekannten Gruppe von Asteroiden eine weitere Gruppe produziert die man noch nicht beobachtet hat (bzw. fand man in den Datenbanken ein einzelnes Objekt, dass in so eine Gruppe passen könnte).
Die Geschichte um “Planet 9” ist mit der Arbeit von Brown und Batygin definitiv interessanter geworden. Aber nicht unbedingt klarer. Die beiden haben gezeigt, dass ein noch unbekannter Planet die beobachteten Auffälligkeiten von 6 Asteroiden erklären kann. Allerdings würde dieser Mechanismus noch weitere Asteroidengruppen produzieren die man bis jetzt noch nicht beobachtet hat. Das kann bedeuten, dass der Mechanismus falsch ist. Oder das man sie einfach noch nicht entdeckt hat. Außerdem wurden sowohl beim mathematischen Modell als auch bei der Computersimulation Vereinfachungen genutzt (zwangsläufig; anderes geht es meist nicht – es sei denn man hat beliebig viel Computerpower zur Verfügung). Das bedeutet, dass man auch keinen kompletten Überblick über alle möglichen dynamischen Effekte hat und nicht weiß, ob man vielleicht etwas übersehen hat. Es ist zum Beispiel auch mit dem aktuellen Modell nicht möglich zu erklären, warum sich die beobachtete Asteroidengruppe genau in der Entfernung befindet, in der sie sich befindet und warum es nicht auch weiter weg entsprechende Asteroiden gibt. Es gibt also entweder eine weitere Gruppe noch unentdeckter Asteroiden oder aber einen noch unbekannten Mechanismus der die Asteroiden auf die bekannte Gruppe beschränkt.
Als Himmelsmechaniker finde ich die Arbeit von Brown und Batygin äußerst interessant. Die Methoden sind plausibel; die Ergebnisse faszinierend und die Gültigkeit der daraus ableitbaren Aussagen wurde im Artikel realistisch dargestellt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir nach dieser Arbeit in Sachen “Planet 9” besser dastehen als vorher. So wie auch in den Jahren zuvor basiert diese Analyse auf den gleichen Himmelskörper (sogar auf weniger); neue Entdeckungen die mehr Sicherheit bringen könnten, gibt es noch nicht. Die aus dem Modell von Brown und Batygin abgeleiteten Werte der Eigenschaften des hypothetischen Planeten sind bei weitem nicht eindeutig und nur als erste Schätzung zu verstehen (was die beiden auch selbst anmerken). Ihr Modell kann nicht alles erklären, was beobachtet wird und sagt Dinge voraus, die nicht beobachtet worden sind.
Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Wochen und Monaten andere Astronomen andere Modelle finden werden, die die Beobachtungen ebenfalls (und vermutlich ebenfalls unvollständig) erklären können.
Es hat sich also nichts fundamental geändert. So wie früher wissen wir, dass es gute Hinweise auf die Existenz eines weiteren Planeten im äußeren Sonnensystem gibt. Und so wie früher können wir nicht sicher sein, ob er wirklich da ist. Was wir brauchen, sind mehr konkrete Daten! Zum Beispiel die Beobachtung der von Brown und Batygin vorhergesagten Asteroidengruppen. Sollten die entdeckt werden, wäre das ein wirklich guter Hinweis, dass der Planet real ist. Noch besser wäre natürlich die Entdeckung des Planeten selbst. Aber das ist sehr, sehr schwierig. Der Planet kann nicht viel schwerer als Neptun sein (sonst hätte man ihn schon entdeckt). Das heißt, dass er auch recht klein ist und entsprechend wenig Licht reflektiert. Je nachdem ob er sich auf seiner Bahn gerade in der Nähe (und “Nähe” ist in dem Fall immer noch verdammt weit weg) der Sonne befindet oder weit entfernt, kann er nur mit den besten Teleskopen oder vielleicht auch gar nicht beobachtet werden.
Und so wie es momentan aussieht, wird es schwierig. Nimmt man all die Himmelsbeobachtungen zusammen, die man bis jetzt schon gemacht und kombiniert das mit den wahrscheinlichen Werten für die Umlaufbahn des unbekannten Planeten, dann bleibt nur eine unerfreuliche Variante übrige: Planet 9 muss sich gerade in der Nähe des sonnenfernsten Punkts seiner Bahn befinden, wo er am dunkelsten ist und sich am langsamsten über den Himmel bewegt. Er ist – sofern vorhanden – vermutlich gerade mehr als 500 Mal weiter von der Sonne entfernt als die Erde. Und befindet sich noch dazu in der Gegend des Himmels, in der wir auch die Milchstraße sehen. Der denkbar schlechstes Ort also, um einen extrem schwach leuchtenden Lichtpunkt zu finden, der schon unter den besten Umständen nur mit großen Teleskopen zu entdecken wäre.
Sollte es “Planet 9” geben, wird es also noch dauern, bevor wir Bescheid wissen. Aber wir sind nun schon seit mehr als 200 Jahren damit beschäftigt, neue Himmelskörper im Sonnensystem zu suchen. Und es gibt keinen Grund, damit aufzuhören. Wir werden auf jeden Fall viele neue Asteroiden fern der Sonne finden und sie werden uns verraten, wo wir weitersuchen müssen und wie erfolgversprechend unser Vorhaben ist. Aber egal ob wir einen “Planet 9” finden werden oder nicht: Während wir suchen, werden wir jede Menge Dinge über das Sonnensystem lernen, die wir bisher noch nicht wußten. Und darauf kommt es ja eigentlich an!
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