Die Herkunft der unterschiedlichen chemischen Elemente – die sogenannte “Nukleosynthese” – gehört zu den faszinierendsten Aspekten der Astronomie bzw. Physik. Es ist erstaunlich kompliziert, all die verschiedenen Stoffe zu produzieren, die uns im Periodensystem der Elemente begegnen. Beim Urknall selbst entstanden nur Wasserstoff und Helium, die beiden simpelsten Elemente für die man wenigsten Bausteine für den Atomkern braucht. Die schwereren Elemente (die in der Astronomie traditionell allesamt “Metalle” genannt werden), gab es nicht und es hat lange gedauert, bis sie das erste Mal entstanden sind. Das Universum musste erst die ersten Sterne hervorbringen damit in deren Inneren durch Kernfusion für uns so wichtige Elemente wie Kohlenstoff, Stickstoff oder Sauerstoff gebildet werden konnten. Aber auch die Sterne schaffen nicht alles; Eisenatome können in ihrem Inneren nicht miteinander fusioniert werden und alle chemischen Elemente die noch schwerer sind nicht entstehen. Dazu fehlt selbst den großen Sternen die nötige Energie. Aber wenn ein Stern sein Leben beendet, wird kurzfristig genug Energie frei, um Elemente wie Gold oder Silber zu bilden. Die Vorgänge die dabei ablaufen sind noch nicht völlig verstanden – und sie wie es scheint, könnten sie unter Umständen noch seltsamer sein, als man bisher dachte und sogar die Anwesenheit dunkler Materie benötigen.
Die amerikanischen Astronomen Joseph Bramante und Tim Linden haben in einer aktuellen Arbeit die Metallizität von Zwerggalaxien untersucht (“On the R-Process Enrichment of Dwarf Spheroidal Galaxies”). Zwerggalaxien sind – wenig überraschend – Galaxien die kleiner sind als normale Galaxien wie unsere Milchstraße. Statt ein paar hundert Milliarden Sternen enthalten sie meistens nur ein paar hundert Millionen oder gar nur ein paar Hunderttausend. Dafür gibt es aber auch sehr viele Zwerggalaxien. 35 von ihnen sind schon als Satellitengalaxien der Milchstraße entdeckt worden; existieren tun aber mit Sicherheit noch viel mehr.
Aus der Untersuchung der Bewegung dieser Galaxien weiß man auch, dass sie viel mehr Masse enthalten müssen als man sehen kann; sie bestehen also zu einem großen Teil aus dunkler Materie (und eine Einführung zum Thema “Dunkle Materie” gibt es hier). Im letzten Jahr hat man nun eine Zwerggalaxie entdeckt, die seltsame Eigenschaften hat. Sie heißt Reticulum II (Ret II), ist fast 100.000 Lichtjahre von der Milchstraße entfernt, viel leuchtschwächer und kleiner als typische Zwerggalaxien hat auch deutlich mehr dunkle Materie als die meisten anderen vergleichbaren Zwerggalaxien (darüber habe ich letztes Jahr schon berichtet).
Als Astronomen nach der Entdeckung von Ret II ein paar der hellsten Sterne dort genauer untersucht haben, stellten sie bei einige von ihnen eine unerwartete Menge sogenannter “neutron-rich elements” fest. So nennt man Elemente, die unter dem Einfluss von Neutronen entstehen. Neutronen sind – neben den Protonen – die Bausteine aus denen Atomkerne bestehen. Alleine kann ein Neutron aber nicht lange überleben; sie zerfallen recht schnell und leben typischerweise nur knapp eine Viertelstunden. Nach dem Urknall gab es von ihnen jede Menge aber alle, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig Teil eines Atomkerns zu werden, sind verschwunden. Freie Neutronen gibt es aber wieder, wenn ein Stern bei einer Supernova explodiert oder wenn zwei Neutronensterne (die extrem dichten Überreste eines Sterns die nach einer Supernova übrig bleiben) miteinander kollidieren. Die freien Neutronen können sich dann an die Atomkerne bestehender Elemente anlagern und so neue Elemente erzeugen bzw. instabile Atomkerne erzeugen, die dann in stabile – und neue – Atomkerne zerfallen. So oder so: Bei diesen Prozessen entstehen u.a. die Elemente, die schwerer sind als Eisen. Die Details sind aber noch unklar und bei Ret II sind sie besonders seltsam.
Eine detaillierte Untersuchung der “neutron-rich elements” bei den Sternen von Ret II zeigt, dass sie vermutlich eher auf die Kollision von Neutronensternen zurück zu führen sind. Nur: In der winzigen Galaxie gibt es so wenig Sterne und es entstehen so wenig neue, dass solche Prozesse enorm selten sind. Bramante und Linden haben in ihrer Arbeit nachgerechnet und kamen zu dem Schluss, dass diese Methode hier nicht funktioniert. Von einer Galaxie die so viel leuchtschwächer ist als andere ihrer Art sollte man eigentlich Sterne erwarten, die weniger schwerer Elemente enthalten, nicht mehr! Aber Ret II hat ja noch die dunkle Materie und davon mehr als üblich! Es liegt also nahe, einen Zusammenhang zu vermuten und genau das tun Bramante und Linden auch.
Sie schlagen folgenden neuen Prozess vor, um die Metallizität der Sterne in Ret II zu erklären: Alles beginnt mit einem Neutronenstern, nicht zwei, die kollidieren. Aber dieser eine Neutronenstern kann in seinem Inneren dunkle Materie ansammeln. Die wechselwirkt zwar enorm selten mit normaler Materie, aber in so einem Neutronenstern ist die normale Materie unvorstellbar dicht gepackt und da bleibt – vereinfacht gesagt – dann doch einiges hängen. Die Masse des Neutronensterns wächst und wächst, bis sie irgendwann so groß ist, dass er unter seinem eigene Gewicht zu einem schwarzen Loch kollabiert. Neutronen fallen nun also auf das neu gebildete schwarze Loch im Kern des ehemaligen Neutronensterns und dieser Strom wird durch die starken Gezeitenkräfte “gequetscht”; es passiert das, was man oft als “Spaghettisierung” bezeichnet. Wird so ein Neutronenstrom gequetscht dann, so Bramante und Linden, kann ein Teil davon aus der Umgebung des schwarzen Lochs geschleudert werden. Eine Menge von Neutronen bis zu einem Zehntel der Sonnenmasse könnte bei so einem von dunkler Materie ausgelöstem Kollaps eines Neutronensterns ins All geschleudert werden. Dabei können die “neutron-rich elements” entstehen, die man bei der Untersuchung von Ret II gefunden hat.
Das ist natürlich alles ein wenig spekulativ – aber zumindest nicht komplett unüberprüfbar. Man muss mehr Zwerggalaxien noch genauer untersuchen um herauszufinden, ob dieser Erklärungsansatz auch anderswo funktioniert. Als Kontrollgruppe schlagen Bramante und Linden Kugelsternhaufen vor. Die enthalten ähnlich wenig Sterne wie die Zwerggalaxien, dafür aber auch sehr wenig dunkle Materie.
Ich bin ein wenig skeptisch, ob dieses Modell wirklich nötig ist, um die Entstehung schwerer Elemente in Zwerggalaxien zu erklären. Immerhin hat man bis jetzt ja nur ein paar Ausnahmefälle, die mit den bisherigen Annahmen schwer zu erklären sind. Vielleicht gibt es auch noch andere, weniger exotische Möglichkeiten. Aber es ist schon auch irgendwie ein faszinierender Gedanke: Dunkle Materie ist komplett anders, als die für uns normale Materie. Aber trotzdem könnte sie nötig sein, um einen Teil dieser normalen Materie zu produzieren…
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