Die Chancen, dass in naher Zukunft am Teilchenbeschleuniger LHC die Entdeckung neuer Teilchen bekannt gegeben wird, stehen nicht schlecht. Seit einigen Monaten gibt es entsprechende Hinweise und wenn der Beschleuniger bald wieder beginnt, Daten zu sammeln, könnten die Hinweise stark genug werden, um die Verkündigung einer echten Entdeckung zu rechtfertigen. Und irgendwas müssten wir eigentlich irgendwann entdecken: Denn das bisher gültige Standardmodell der Teilchenphysik braucht eine Erweiterung!
Die letzte große Entdeckung in der Teilchenphysik fand im Juli 2012 statt. Da wurde der Nachweis des Higgs-Teilchens bekannt gegeben. Dieses Ergebnis war ein wichtiger Meilenstein; eine Entdeckung die seit Jahrzehnten erwartet wurde und an der die Grundlagen der Teilchenphysik hingen. Aber in gewisser Hinsicht war es keine wirklich neue Entdeckung. Das Higgs-Teilchen war ein integraler Bestandteil des sogenannten “Standardmodells der Teilchenphysik”, also der Sammlung an mathematischen und physikalischen Theorien mit denen Wissenschaftler die Materie und die zwischen ihr wirkenden Kräfte beschreiben. Alle Teilchen die vom Standardmodell vorhergesagt wurden, hatte man im Laufe der Jahre nachgewiesen; bis auf das Higgs-Teilchen. Seit Juli 2012 ist das Standardmodell nun komplett. Alles, was laut diesem Modell existieren soll, existiert auch tatsächlich.
Nur: Wir wissen, dass viele Dinge existieren, deren Existenz nicht vom Standardmodell vorhergesagt wird. Dunkle Materie zum Beispiel. Oder die Masse der Neutrinos. Eine Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie. Und so weiter. Das Standardmodell ist zwar eine der erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorien die wir kennen. Aber es kann noch nicht alles sein; es muss mehr geben und irgendeine umfassendere Theorie wartet darauf, von uns gefunden zu werden.
Wissenschaftler haben jede Menge Ideen, wie diese umfassendere Theorie aussehen könnte. Die Supersymmetrie ist eine davon, aber bei weitem nicht die einzige. Um heraus finden zu können, wie das Standardmodell tatsächlich erweitert werden muss, braucht es aber nicht nur neue Theorien, sondern vor allem neue Daten. Genau deswegen macht man ja auch Experimente wie die am LHC: Man hofft, Teilchen zu entdecken, deren Existenz niemand vorhergesagt hat; irgendetwas komplett neues; etwas, das uns sagt in welche Richtung wir weiter gehen müssen.
Und so wie es aussieht, könnte genau so eine Entdeckung bevorstehen. Könnte! Denn wie immer in der Teilchenphysik hängt alles an der Statistik. Man kann hier nicht einfach ein einzelnes neues Teilchen aus dem Vakuum der Beschleunigerröhren ziehen und stolz der Welt präsentieren. Man kann nur unzählige Teilchenkollisionen stattfinden lassen, beobachten und nachsehen, was dabei passiert. Das Standardmodell ist in der Lage, die Resultate der Kollisionen vorherzusagen. Wenn das Standardmodell aber keine vollständige Beschreibung der Realität ist, dann wird die Vorhersage von der Beobachtung abweichen.
Allerdings nur, wenn es die richtigen Abweichungen sind. In der Welt der Teilchenphysik gibt es keine einfachen Ergebnisse. Teilchenkollisionen können mal so und mal so ausgehen und das Standardmodell kann nur statistische Vorhersagen über die Resultate machen. Abweichungen können entstehen, wenn die Vorhersagen falsch sind – aber auch rein zufällige Schwankungen in den Ergebnissen können Abweichungen verursachen. Man muss möglichst viele Kollisionen beobachten, um sicher sein zu können, das man tatsächlich etwas Neues beobachtet hat und nicht irgendwelche Schwankungen.
Ich habe früher schon einmal sehr ausführlich erklärt, wie das mit den Entdeckungen und der Statistik in der Teilchenphysik funktioniert. Kurz gesagt: Nur wenn man zu 99,9999% sicher sein kann, keine rein zufällige Schwankung beobachtet zu haben, werden die Daten als Beleg für eine echte Entdeckung angesehen. Dieser Prozentsatz, die Signifikanz wird auch “5 Sigma” genannt und man braucht wirklich viele Daten, um sich so sicher sein zu können.
So weit ist man bei den aktuellen Forschungen am LHC noch nicht. Im Dezember 2015 hat man zwischen den Vorhersagen und Beobachtungen bei den Kollisionen einen Unterschied entdeckt, dessen Signifikanz 2 Sigma betrug. Das ist zwar interessant, aber bei weitem nicht genug um von einer Entdeckung zu sprechen. Es hat sich schon oft genug gezeigt, dass solche Schwankungen wieder verschwinden, wenn man mehr Daten sammelt. Nun hat man aber (ein wenig) mehr Daten gesammelt und die Abweichungen sind nicht verschwunden.
Teilchenphysikerin Pauline Gagnon (sie arbeitet am ATLAS-Experiment des LHC) hat kürzlich in ihrem Blog darüber berichtet. Seit den ersten Beobachtungen konnte man durch verbesserte Auswertemethoden knapp 20 Prozent mehr Daten in die Analyse inkludieren. Dabei ist die Signifikanz der Abweichungen nicht nur nicht gesunken. Mittlerweile ist außerdem klar, dass nicht nur ATLAS, der eine große Detektor am LHC, die Abweichungen beobachtet hat, sondern unabhängig davon auch CMS, der zweite große Detektor. Dass beide Experimente die gleiche Abweichung beobachten, ist vielversprechend. Aber selbst die Kombination der Daten aller Detektoren lässt die Signifikanz noch nicht über 5 Sigma steigen; sie liegt immer noch bei Werten um die 2-3 Sigma.
Der LHC wird demnächst wieder mit neuen Teilchenkollisionen beginnen; die Detektoren werden neue Daten sammeln. Sehr viel mehr Daten als früher, als der Beschleuniger noch nicht mit voller Kraft lief. Gagnon schätzt, dass schon wenig Monate nach dem Neustart genug Daten vorhanden sind, um entweder eine Entdeckung einwandfrei nachweisen oder ebenso einwandfrei ausschließen zu können.
Und wenn etwas entdeckt werden sollte: Was wäre das eigentlich? Tja, das ist die große Frage! An theoretischen Ideen mangelt es nicht. Gagnon hat bis heute über 260 wissenschaftliche Artikel gezählt, die sich schon Gedanken darüber machen, was die bisherigen Hinweise bedeuten könnte. Da ist alles dabei: Von dunkler Materie über supersymmetrischen Teilchen bis hin zum Nachweis von zusätzlichen Raumdimensionen. Aber so gut die Theorien auch sein mögen: Am Ende kommt es auf das Experiment an.
Wenn am LHC neue Teilchen entdeckt werden, dann wird das zurecht als großer Durchbruch gefeiert werden. Das erste Mal seit Jahrzehnten werden wir etwas entdecken, das über das Standardmodell hinaus geht; das vom Standardmodell nicht vorhergesagt wurde. Wir werden Hinweise erhalten, wie der weitere Weg der Teilchenphysik aussehen wird. Wir werden (hoffentlich) erkennen, wie wir ein paar der verbliebenen ganz großen Probleme der Physik lösen können. Und vielleicht werden wir das schon sehr bald tun können. Vielleicht aber auch nicht. Es ist genau so gut möglich, dass die beobachteten Schwankungen einfach wieder verschwinden. Eines aber ist klar: Früher oder später werden wir etwas neues entdecken! Wir wissen, das da noch etwas sein muss, das wir bis jetzt noch nicht entdeckt haben. Und wenn wir nur lang und intensiv genug suchen, werden wir es auch finden!
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